Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl

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Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl

Wie man sich von destruktiven

Gedanken und Gefühlen befreit

Mit einem Vorwort von Sharon

Salzberg Übersetzt von Christine Bendner


Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

© 2009 The Guilford Press – A Division of Guilford Publications, Inc.

© 2010 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

The Mindful Path to Self-Compassion: Freeing Yourself from Destructive Thoughts and Emotions

Titelfoto: © 2010 Gerti G. / photocase.com

Lektorat: Lothar Scholl-Röse

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-334-1

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, wenn Sie sich durch die Übungen von Emotionen und Erinnerungen überwältigt fühlen. Bei ernsthafteren und/oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt, Psychotherapeuten, Psychologen oder Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung des Autors und des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

Anmerkung zur Übersetzung

Einleitung

Teil 1 Selbstmitgefühl entdecken

1 Gut zu sich sein

2 Auf den Körper hören

3 Schwierige Gefühle

4 Was ist Selbstmitgefühl?

5 Wege zum Selbstmitgefühl

Teil 2 Die Praxis der Liebenden Güte

6 Für sich selbst sorgen

7 Für andere sorgen

Teil 3 Selbstmitgefühl als individueller Weg

8 Die eigene Balance finden

9 Fortschritte machen

Anhang A Gefühlswörter

Anhang B Zusätzliche Selbstmitgefühls-Übungen

Anhang C Literatur und Praxis

Anmerkungen

Über den Autor

Danksagung

Quellen

Für meine Mutter,

die mir zeigte, was Mitgefühl ist

Vorwort

Warum fällt es uns so schwer, genauso freundlich und liebevoll mit uns selbst umzugehen, wie es viele von uns ohne zu zögern mit anderen tun? Vielleicht weil wir in unserer konventionellen westlichen Denkweise Mitgefühl als Geschenk betrachten und es als egoistisch oder unangebracht empfinden, uns dieses Geschenk auch selbst zu machen. Aber die uralte Weisheit des Ostens sagt uns, dass Herzensgüte etwas ist, das jeder Mensch braucht und verdient hat – und das schließt das Mitgefühl und die Liebe ein, die wir uns selbst entgegenbringen können. Ohne sie geben wir uns die Schuld an unseren Problemen, unserer Unfähigkeit, sie alle zu lösen, und unserem Schmerz, wenn leidvolle Ereignisse eintreten, so dass wir am Ende noch mehr leiden.

Die Vorstellung, sich selbst zu lieben, mag uns so fremd sein, dass wir wahrscheinlich selbst dann nicht wüssten, wie wir das anstellen sollten, wenn wir zu dem Schluss gelangten, es könnte durchaus nicht schaden, diese Fähigkeit zu entwickeln. Die moderne Neurowissenschaft und die Psychologie beginnen gerade erst zu erforschen, was von meditativen Traditionen seit jeher akzeptiert wird: dass Mitgefühl und Herzensgüte Fähigkeiten sind – keine Begabungen, mit denen man entweder geboren wird oder auch nicht –, und dass ausnahmslos jeder von uns diese Qualitäten entwickeln und in sein Alltagsleben einbringen kann. Hier setzt Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl an. Mit diesem Buch gibt Christopher Germer seinen Lesern und Leserinnen einen umfassenden Leitfaden zur Entwicklung dieser Fähigkeiten an die Hand. Er beschreibt die Vision der Freiheit, zu der wir durch Mitgefühl gelangen können, die wichtige Rolle des Selbstmitgefühls, den Weg, auf dem wir es verwirklichen können (anstatt nur darüber nachzudenken) und die praktischen Werkzeuge wie beispielsweise Achtsamkeit, die wir brauchen, um diese Transformation zu bewirken.

In der buddhistischen Psychologie betrachtet man Qualitäten wie Herzensgüte als Mittel gegen alle Formen der Angst. Ob wir unter der hemmenden Angst leiden, nicht gut genug zu sein und nie gut genug werden zu können, oder unter der Panik, die uns befällt, wenn wir nirgends einen Ausweg sehen, ob uns eine schleichende Angst lähmt, wenn wir den nächsten Schritt machen müssten, aber nicht wissen, wie oder wohin: Wenn wir Angst haben, leiden wir. Herzensgüte und Mitgefühl bejahen – im Gegensatz zur Angst – die heilsame Kraft der Verbundenheit, das befreiende Gefühl, Wahlmöglichkeiten zu haben und die Macht der Liebe als Katalysator für das Lernen. Ob wir sie anderen oder uns selbst entgegenbringen – die vereinten Kräfte der Herzensgüte und des Mitgefühls sind die Grundlage für weises, kraftvolles, manchmal sanftes und manchmal leidenschaftliches Handeln, das wirklich etwas verändern kann: in unserem eigenen Leben und im Leben anderer Menschen. Echtes Mitgefühl und wahre Liebe zu sich selbst sind die Basis für Furchtlosigkeit, Großzügigkeit, Offenheit und ein anhaltendes liebevolles Mitgefühl für andere.

Ob Sie bereits mit Hilfe von meditativen Traditionen wie Achtsamkeit Ihr Leiden zu lindern suchen oder einfach offen für alles sind, was Sie von Ihrem chronischen emotionalen Schmerz und Ihrer inneren Unruhe befreien könnte – dieses Buch kann Ihnen ein inspirierender Wegweiser sein. Auf den folgenden Seiten finden Sie ein wissenschaftliches Kompendium, ein lehrreiches Handbuch und einen praktischen Leitfaden, der Sie Schritt für Schritt an Liebende Güte und Selbstmitgefühl heranführt – Tag für Tag.

SHARON SALZBERG

Insight Meditation Society, Barre, Massachusetts

Anmerkung zur Übersetzung

Dieses Buch bietet einen radikal neuen Ansatz: einen Weg zu emotionalem Wohlbefinden, der auf Achtsamkeit beruht.

Achtsamkeit bedeutet „zu wissen, was man erlebt, während man es erlebt, ohne es zu bewerten.“ Doch manchmal ist das, was wir fühlen, sehr schmerzhaft und wir können es nicht lassen, gegen die Erfahrung anzukämpfen und uns zu kritisieren. Das ist der Augenblick, wo wir uns selbst gegenüber eine neue Haltung einnehmen müssen: Selbstmitgefühl!

Wir sind uns darüber im Klaren, dass das Wort „Selbstmitgefühl“ im Deutschen so bisher nicht existierte und wir verwenden es daher nicht leichtfertig. Manchmal ist jedoch ein neues Wort notwendig, um eine einzigartige persönliche Erfahrung präzise zu beschreiben.

Selbstliebe ist fast identisch mit Selbstmitgefühl, und die beiden Wörter sind in diesem Buch oft austauschbar. Weder mit Selbstliebe, noch mit Selbstmitgefühl ist eine narzisstische Nabelschau gemeint, dafür gibt es andere deutsche Begriffe: Eigenliebe und Selbstverliebtheit. Liebe wird in der westlichen Kultur oft mit Nächstenliebe assoziiert und dieselbe Haltung zu sich selbst wird typischerweise oft vernachlässigt oder abwertend als „Eigenliebe“ bezeichnet. Selbstliebe heißt, dass man sich selbst in das Energiefeld der Liebe einbezieht, die man für andere empfindet – nicht mehr und nicht weniger.

Wenn Liebe auf Leiden trifft, kann sie zu Mitgefühl oder Mitleid werden. Mitgefühl (engl. empathy) ist wie ein Spiegel in unserem Innern, der alles widerspiegeln kann, was ein anderer Mensch fühlt: Glück, Trauer, Freude, Verzweiflung. Mitleid (engl. sympathy oder compassion) bezieht sich speziell auf das Mitempfinden des Schmerzes eines anderen Menschen.

Mitleid haben oder „mitleiden“ mit einem anderen Menschen – darum geht es in diesem Buch. Im üblichen deutschen Sprachgebrauch bedeutet das Wort „Mitleid“ allerdings, dass der innere Spiegel ein wenig durch emotionale Reaktivität getrübt ist. Im Gegensatz dazu ist beim „Mitgefühl“ die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir vom Schmerz der anderen überwältigt werden. Mitgefühl könnte man als Mitleid mit Achtsamkeit bezeichnen. Es ist die Fähigkeit, den Schmerz eines anderen Menschen tief nachzufühlen, ohne damit zu kämpfen, und gleichzeitig den liebevollen Wunsch zu hegen, dieser Mensch möge frei von Leiden sein. Mitgefühl ist ein positives Gefühl: warm, feucht und zart. Ein Mensch, der Mitgefühl hat, fühlt sich mit anderen verbunden.

Wenn wir uns selbst diese besondere Qualität des Mitgefühls entgegenbringen, so wie wir es mit einem geliebten Kind, das leidet, oder einem Freund, einer Freundin tun würden, so ist das „Mitgefühl mit sich selbst“ oder eben „Selbstmitgefühl“. Selbstmitgefühl ist nicht Selbstmitleid. Letzteres bedeutet eher, dass ein Mensch durch seinen Kummer wie gelähmt ist und sich selbst bedauert. Selbstmitgefühl befreit uns von Kummer. Es ist eine besondere Art der Selbstliebe und der erste Schritt zur emotionalen Heilung.

CHRISTOPHER GERMER

15. Februar 2011

Einleitung

Das Leben ist hart. Trotz bester Absichten geht vieles schief – manchmal sehr schief. Neunzig Prozent aller Brautpaare gehen voller Hoffnung und Optimismus in die Ehe, und dennoch enden 40 % aller Ehen vor dem Scheidungsrichter. Wir kämpfen uns durch den Alltag, nur um eines Tages mit stressbedingten Problemen wie hohem Blutdruck, Angstzuständen, Depressionen, Alkoholismus oder einem geschwächten Immunsystem beim Arzt zu landen.

 

Wie reagieren wir normalerweise, wenn unser Leben aus den Fugen gerät? In den meisten Fällen schämen wir uns und werden selbstkritisch: „Was ist nur los mit mir?“, „Warum schaffe ich es nicht?“, „Warum ich?“ Vielleicht setzen wir auch alles daran, uns selbst wieder „in Ordnung zu bringen“ und machen damit alles nur noch schlimmer. Manchmal geben wir anderen die Schuld. Anstatt uns eine Atempause zu gönnen, scheinen wir stets den Weg des größten Widerstandes zu wählen.

Doch wie verzweifelt wir auch versuchen, emotionalen Schmerz zu vermeiden, wir können ihm nicht entgehen. Schwierige Gefühle – Scham, Wut, Einsamkeit, Angst, Verzweiflung, Verwirrung – klopfen mit schöner Regelmäßigkeit an unsere Tür. Sie überfallen uns, wenn sich die Dinge nicht wie erwartet entwickeln, wenn wir von unseren Lieben getrennt sind oder wenn wir mit Krankheit, Alter und Tod konfrontiert werden. Es ist schier unmöglich, sich nie schlecht zu fühlen.

Aber wir können lernen, mit Kummer und Leid auf eine andere, gesündere Art und Weise umzugehen. Anstatt problematischen Gefühlen mit erbittertem Widerstand zu begegnen, können wir unseren Schmerz anschauen, beobachten, und mit Freundlichkeit und Verständnis darauf reagieren. Das ist Selbstmitgefühl: Wenn wir uns so um uns selbst kümmern, wie wir es bei einem geliebten Menschen tun würden. Wenn Sie in Zeiten der Trauer oder Einsamkeit normalerweise auf sich herumhacken, wenn Sie sich vor der Welt verstecken, weil Sie einen Fehler gemacht haben, oder wenn Sie sich das Hirn darüber zermartern, wie Sie den Fehler von vornherein hätten vermeiden können, dann ist Ihnen die Vorstellung, sich selbst Mitgefühl und Liebe entgegenzubringen, wahrscheinlich völlig fremd. Aber warum sollten Sie sich die Zärtlichkeit und Wärme vorenthalten, die Sie anderen leidenden Menschen bereitwillig schenken?

Wenn wir gegen emotionalen Schmerz ankämpfen, bleiben wir darin gefangen; er wird zur Falle. Dann werden schwierige Gefühle destruktiv und zerstören Körper, Geist und Seele. Die Gefühle erstarren – frieren sozusagen ein – und wir erstarren mit ihnen. Das Glück, das wir uns in Beziehungen wünschen, scheint vor uns zu fliehen; Erfüllung in der Arbeit wird zu einem unerreichbaren Ideal. Wir schleppen uns durch den Tag und hadern mit unseren körperlichen Schmerzen und Beschwerden. Normalerweise ist uns gar nicht bewusst, wie viele dieser schmerzhaften Prüfungen durch unsere Einstellung zu und unseren Umgang mit den unvermeidlichen Unannehmlichkeiten des Lebens verursacht werden.

Doch alles ändert sich wie von selbst, wenn wir uns unserem emotionalen Schmerz mit ungewohntem Mitgefühl öffnen. Anstatt uns selbst anzuklagen, zu kritisieren und zu versuchen, uns in Ordnung zu bringen (oder andere oder die ganze Welt), wenn etwas schiefgeht und wir uns schlecht fühlen, könnten wir auch anfangen, uns selbst anzunehmen. „Zuallererst Mitgefühl“! Diese einfache Kehrtwende kann Ihr Leben radikal verändern.

Stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat Sie gerade kritisiert, weil Sie Ihre Tochter angeschrien haben. Das verletzt Sie und führt zu einer Auseinandersetzung. Vielleicht haben Sie sich missverstanden, missachtet, ungeliebt oder nicht liebenswert gefühlt? Vielleicht haben Sie nicht die richtigen Worte gefunden, um zu beschreiben, wie Sie sich fühlten, aber wahrscheinlicher ist, dass Ihr Partner zu wütend oder ablehnend reagierte, um wirklich zu hören, was Sie zu sagen hatten. Stellen Sie sich nun vor, Sie hätten einmal tief durchgeatmet und vor dem Streit zu sich selbst gesagt: ‚Ich will unbedingt eine gute Mutter (ein guter Vater) sein. Es tut mir so weh, wenn ich mein Kind anschreie. Ich liebe meine Tochter über alles, aber manchmal verliere ich einfach die Nerven. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich hoffe, dass ich lernen kann, mir meine Fehler zu verzeihen und dass wir einen Weg finden, in Frieden miteinander zu leben.‘ Spüren Sie den Unterschied?

So ein Augenblick, in dem Sie mitfühlend und liebevoll mit sich selbst umgehen, kann Ihren ganzen Tag verändern und viele solcher Momente können Ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben. Die Befreiung aus der Falle destruktiver Gedanken und Gefühle durch Selbstmitgefühl kann Ihre Selbstachtung von innen heraus stärken, Depressionen und Ängste vertreiben und Ihnen sogar helfen, Ihre Diät durchzuhalten.

Und nicht nur Sie profitieren davon. Das Mitgefühl und die Liebe, die Sie sich selbst entgegenbringen, sind das Fundament der Liebe und des Mitgefühls für andere. Der Dalai Lama hat einmal gesagt: „(Mitgefühl) ist ein Zustand, in dem wir wünschen, das Objekt unseres Mitgefühls möge frei von Leiden sein … zuerst du selbst, und dann dehnt sich dieser Wunsch auf andere aus.“ Es ist doch logisch, dass wir keine Empathie für andere haben können, wenn wir die gleichen Gefühle – Verzweiflung, Angst, Versagen, Scham – bei uns selbst nicht tolerieren. Und wie können wir anderen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken, wenn wir völlig von unseren eigenen inneren Kämpfen in Anspruch genommen sind? Erst wenn wir mit unseren eigenen Problemen wieder umgehen können, können wir unsere liebevolle Zuwendung auf andere ausdehnen, was wiederum zur Verbesserung unserer Beziehungen und zur allgemeinen Lebenszufriedenheit beiträgt.

Mitfühlend und liebevoll mit sich selbst umzugehen ist eigentlich die natürlichste Sache der Welt. Denken Sie nur einmal einen Moment darüber nach. Wenn Sie sich in den Finger schneiden, werden Sie die Wunde säubern und verbinden und so die Heilung unterstützen. Das ist natürliches Selbstmitgefühl. Aber wo bleibt dieses Selbstmitgefühl, wenn unser emotionales Wohlergehen auf dem Spiel steht? Strategien, die uns helfen, den Angriff eines Säbelzahntigers zu überleben, scheinen auf der emotionalen Ebene nicht zu funktionieren. Unangenehme Gefühle bekämpfen wir instinktiv, so als handele es sich um äußere Feinde, aber dieser innere Kampf macht alles nur noch schlimmer. Wenn Sie sich Ihrer Angst widersetzen, steigert sie sich vielleicht zu einer voll ausgeprägten Panikattacke. Wenn Sie Ihre Trauer unterdrücken, entwickeln Sie vielleicht eine chronische Depression. Der verzweifelte Kampf ums Einschlafen kann Sie die ganze Nacht wach halten.

Wenn wir in unserem Schmerz gefangen sind, ziehen wir auch gegen uns selbst in den Krieg. Der Körper schützt sich vor Gefahren durch Kampf, Flucht oder Erstarrung (Einfrieren), aber wenn wir emotional herausgefordert werden, bilden diese Reaktionen eine unheilige Dreifaltigkeit der Selbstkritik, Selbstisolation und Selbstbezogenheit. Eine heilsame Alternative besteht darin, eine neue Beziehung zu sich selbst aufzubauen, die die Psychologin Kristin Neff als „Freundlichkeit gegenüber sich selbst, ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Rest der Menschheit und gelassenes Gewahrsein“ beschreibt. Das ist Selbstmitgefühl.

In diesem Buch werden Sie erfahren, wie Sie sich dieses Mitgefühl entgegenbringen können, wenn Sie es am dringendsten brauchen: Wenn Sie vor Scham fast vergehen, wenn Sie vor Wut oder Angst die Fäuste ballen oder sich zu verletzlich fühlen, um ein weiteres Familientreffen zu überstehen. Ihr Mitgefühl und Erbarmen mit sich selbst schenkt Ihnen all die Liebe, die Sie brauchen, indem es Ihren natürlichen Wunsch unterstützt, glücklich und frei von Leiden zu sein.

In der buddhistischen Psychologie geht es im Grunde darum, wie man mit emotionalem Schmerz umgehen kann, ohne ihn noch zu vergrößern. Die Ideen und Gedanken, die den Inhalt dieses Buches ausmachen, stützen sich auf diese Tradition, insbesondere auf jene Konzepte und Methoden, die durch die moderne Naturwissenschaft bestätigt wurden. Was Sie hier lesen, ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen – uralte Einsichten und Erkenntnisse in moderne psychologische Terminologie verpackt. Sie müssen an nichts glauben, um von diesen Methoden zu profitieren: Sie können Christ, Jude, Moslem, Naturwissenschaftler oder Skeptiker sein. Es ist jedoch bestimmt kein Fehler, aufgeschlossen, experimentierfreudig und geistig flexibel an die Sache heranzugehen.

Die klinische Psychologie hat die Meditation in den 1970er Jahren entdeckt, und inzwischen gibt es wohl kaum eine psychotherapeutische Methode, die gründlicher untersucht wurde. In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Forschung besonders auf Achtsamkeit oder das „akzeptierende Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung“ konzentriert. Achtsamkeit wird als wesentlicher Faktor einer wirksamen Psychotherapie und emotionaler Heilung im Allgemeinen betrachtet. Wenn die Therapie gut läuft, entwickeln die Patienten (oder Klienten) eine akzeptierende Haltung gegenüber allem, was Sie im Therapieraum erleben – Angst, Wut, Traurigkeit, Freude, Erleichterung, Langeweile, Liebe – und nehmen diese wohlwollende Einstellung in ihren Alltag mit. Achtsamkeit hat den Vorteil, dass man sie zu Hause als Meditation üben kann.

Achtsamkeit bezieht sich auf die Erfahrung eines Menschen – eine Empfindung, einen Gedanken, ein Gefühl. Aber was können wir tun, wenn der Erfahrende von der Emotion, beispielsweise Scham oder Selbstzweifel, überwältigt wird? Wenn das geschieht, fühlen wir uns nicht nur schlecht, sondern haben das Gefühl, dass wir schlecht sind. Das kann uns so erschüttern, dass wir kaum noch in der Lage sind, irgendetwas aufmerksam wahrzunehmen. Was können wir tun, wenn wir mitten in der Nacht allein sind, uns unruhig im Bett hin und her wälzen, das Schlafmittel nicht wirkt und die nächste Therapiestunde erst in einer Woche stattfindet? Dann brauchen wir vor allem einen guten, warmherzigen, mitfühlenden Freund. Und wenn keiner unmittelbar erreichbar ist, können wir uns immer noch selbst Freundlichkeit und Güte entgegenbringen – Selbstmitgefühl.

Ich habe mich der Selbstakzeptanz und dem Selbstmitgefühl aus zwei Richtungen genähert: der beruflichen und der persönlichen. Seit dreißig Jahren arbeite ich als Psychotherapeut mit den unterschiedlichsten Patienten – von den besorgten, aber eigentlich Gesunden bis hin zu denjenigen, die von ihrer Angst, ihrer Depression oder ihrem Trauma überwältigt werden. Außerdem habe ich in einer städtischen Klinik mit Menschen gearbeitet, die an chronischen und unheilbaren Krankheiten litten. So konnte ich im Laufe der Jahre die Macht der Liebe und des Mitgefühls hautnah erleben. Und ich beobachtete, wie sie das Herz gleich einer Blüte öffnen und verborgenes Leid ans Licht bringen und heilen. Doch nach der Therapie haben manche Patienten das Gefühl, ins Leere zu laufen, die Stimme des Therapeuten nur noch als fernes Echo im Ohr. Ich fragte mich also: „Was können die Menschen zwischen den Therapiesitzungen tun, um sich weniger verletzlich und allein zu fühlen?“, oder: „Gibt es eine Möglichkeit, die Therapieerfahrung schneller verfügbar zu machen – sozusagen als ‚Therapie zum Mitnehmen‘?“ Selbstmitgefühl scheint dieses Versprechen für viele Menschen zu erfüllen.

Ich selbst wuchs bei einer zutiefst christlichen Mutter auf, und einem Vater, der als junger Mann neun Jahre in Indien verbracht hatte – die meisten davon während des Zweiten Weltkriegs in einem britischen Internierungslager wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Dort begegnete er einem Bergsteiger namens Heinrich Harrer, der später aus dem Lager floh und sich über die Berge nach Tibet durchschlug, wo er der Lehrer des 14. Dalai Lama wurde. Meine Mutter hatte mir früher oft mythologische Erzählungen aus Indien vorgelesen, und so erschien es mir ganz natürlich, nach meinem College-Abschluss dorthin zu fahren. Von 1976 bis 1977 reiste ich also kreuz und quer durch Indien, besuchte Heilige, Weise und Schamanen und erlernte buddhistische Meditation in einer Höhle in Sri Lanka. Dort wurde mein lebenslanges Interesse an der Meditation geweckt, und ich kehrte mindestens ein Dutzend Mal nach Indien zurück.

Gegenwärtig praktiziere ich eine Form der Achtsamkeitsmeditation, wie sie in den von Sharon Salzberg, Joseph Goldstein und Jack Kornfield gegründeten amerikanischen Meditationszentren gelehrt wird. Das ganze Buch ist von diesen profunden, differenzierten Lehren inspiriert, und jede ungerechtfertigte Abweichung davon habe ich ganz allein zu verantworten. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit gegenüber meinen Kollegen am Institute for Meditation and Psychotherapy, mit denen ich mich seit 25 Jahren einmal im Monat zu einer Gesprächsrunde treffe, sowie gegenüber Jon Kabat-Zinn, der die buddhistische Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls in das moderne Gesundheitswesen einführte. Meine anderen Lehrer sind meine Patienten, die mir großzügig erlaubten, ihre Lebensgeschichten zu erzählen, um die folgenden Prinzipien und Methoden zu veranschaulichen. Sie taten das aus Liebe zur Sache. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich ihre Namen und andere Einzelheiten geändert, und einige klinische Fallbeispiele sind aus den Daten mehrer Einzelpersonen zusammengesetzt.

 

Das Buch besteht aus drei Teilen, wobei die einzelnen Kapitel aufeinander aufbauen. Teil I, „Selbstmitgefühl entdecken“, hilft Ihnen, die Fähigkeit der Achtsamkeit zu entwickeln und beschreibt genau, was mit Selbstmitgefühl gemeint ist (und was nicht). In Teil II, „Die Praxis der Liebenden Güte“, finden Sie eine ausführliche Anleitung für eine bestimmte Übung in Selbstmitgefühl – die Mettâ-Meditation –, die die Grundlage einer mitfühlenden Lebensweise bilden kann. In Teil III, „Selbstmitgefühl als individueller Weg“, finden Sie Tipps, wie man die Praxis an die persönlichen Bedürfnisse und Lebensumstände anpassen und größtmöglichen Nutzen daraus ziehen kann. Die Anhänge enthalten zusätzliche Übungen zum Selbstmitgefühl sowie Literaturempfehlungen.

Dieses Buch erfordert keine harte Arbeit. Die größte Anstrengung liegt eigentlich schon hinter Ihnen: Der Kampf und Widerstand gegen schwierige Gefühle, für die Sie sich selbst die Schuld gaben. Tatsächlich werden Sie lernen, weniger zu tun. So gesehen ist es ein „Anti-Ratgeber“. Anstatt von der Vorstellung auszugehen, dass etwas in Ihnen kaputt ist und „repariert“ werden muss, möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie mit emotionalem Schmerz auf eine ganz neue, mitfühlendere und liebevollere Weise umgehen können. Ich empfehle Ihnen, die Übungen 30 Tage lang durchzuführen und zu beobachten, was sich tut. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie sich leichter und glücklicher fühlen, aber das ist dann nur eine Begleiterscheinung Ihrer neuen Gewohnheit, sich annehmen, wie Sie sind.