Loe raamatut: «Klatschen reicht nicht!»
leykam: seit 1585
Luna Al-Mousli
Klatschen reicht nicht!
Systemheld*innen im Porträt
ILLUSTRIERT VON CLARA BERLINSKI
Für Oma und Opa, die ihre Kinder so erzogen haben, dass sie der neuen Gesellschaft, in der sie leben, etwas zurückgeben: als Dankeschön oder als Beweis, wie wichtig ihre Rolle in der neuen Heimat einmal sein wird. Unverzichtbar werden ihre Kinder sein, und so auch sie. Verwurzelt in der Gesellschaft und systemrelevant.
Für meine Tante, die in jedem*r ihrer Schüler*innen Potenzial und Talent sieht, aber vor allem Verständnis für deren unsichtbare Herausforderungen hat.
Für meine Tante, die für ihre Patient*innen oft auf sich selbst vergisst und sich von Schicksalsschlägen nicht entmutigen lässt.
Für meine Mama, die für ihre Klient*innen das Ankommen zu vereinfachen versucht und ihnen einen Weg zeigt, wo andere keinen sehen.
Für meinen Onkel, der für seine Patient*innen immer sein Bestes gibt.
Für meine Schwester, die jedem Kind mit offenem Herzen begegnet und es durch die ersten Bildungsschritte begleitet.
Inhalt
Vorwort: Solmaz Khorsand – Journalistin & Autorin
Hala, 44: Muttersprachen- und Hilfslehrerin in einer Neuen Mittelschule
Diana, 29: Betreuerin in einer privaten Kinderwohngemeinschaft
Christopher, 33: Postbeamter
Vesna, 42: Abteilungshelferin im Spital
KOMMENTAR: İnci Ardıç – Psychotherapeutin in Privatpraxis und Lektorin an der Sigmund-Freud-Universität, Wien
Aynur, 40: Heimhelferin
Hussein, 25: Eisenbieger
Nathalie, 29: Mitarbeiterin der AMS-ServiceLine
Antonia, 53: Leiterin der Telefonseelsorge
KOMMENTAR: Mirijam Hall – Ärztin
Maria, 58: Sozialarbeiterin im Frauenhaus
Somia, 53: Mobile Sozialassistentin und Beraterin für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung
Stefan, 31: Mitarbeiter und Führungskraft in einer Lebensmittelhandelskette
ESSAY: Soma Ahmad – Politikwissenschaftlerin und Kolumnistin für das Qamar-Magazin
Mohammad, 21: Freiwilliger Sanitäter beim Roten Kreuz
Katrin, 28: Ergotherapeutin
Ahmad, 29: Lagerarbeiter
KOMMENTAR: Brigitte Theißl – Journalistin und Erwachsenenbildnerin
Ali, 25: Fahrradbote bei einem Essenslieferdienst
Ani, 59: Pflegeassistentin im Altersheim
Sesilia, 28: Kindergartenpädagogin
Nana, 30: Psycho-soziale*r Fachbetreuer*in
KOMMENTAR: Vina Yun – Journalistin und Autorin
Leokadia, 22: Sozialarbeiterin in der Obdachlosenhilfe
Lisa, 46: Krankenschwester
NACHWORT: Barbara Blaha – Autorin, Gründerin des Politkongresses Momentum
VORWORT
Solmaz Khorsand – Journalistin & Autorin
Das Koordinatensystem einer Gesellschaft ist ein starres. Es braucht weltbewegende Ereignisse, um es durchzuschütteln. Eine Pandemie kann da schon das erste Beben verursachen, uns zwingen, einmal genauer hinzusehen, wer in diesem System oben und wer unten steht. Und vor allem weswegen. Ob dieses Oben tatsächlich da oben zu verorten sein müsste, oder doch eher woanders. Denn das Unten ist es definitiv. Das ist ganz plötzlich Elite. Ja, es hat schon eine Pandemie gebraucht, um diese neue Elite auszumachen. Um zu begreifen, auf wen es tatsächlich ankommt, wenn es eng wird. Wer springen muss, wenn alle anderen fallen dürfen. Wer ausrückt, während der Rest zu Hause bleibt. Es sind nicht jene unter uns, die Woche um Woche ihre Perspektive in den Kommentarspalten, Fernsehdiskussionen und Podcasts mit der Welt teilen dürfen. Bequem, sicher, lauschig aus den eigenen vier Wänden. Um gutes Geld, viel mehr, als jene bekommen, denen wir vom Balkon aus gnädig zuklatschen, dafür dass sie unsere Verwandten beatmen, für uns Waren in Regale einschlichten, unsere Pakete zustellen und unsere Kinder betreuen.
„Die Kluft zwischen Gleichheit vor dem Gesetz und Ungleichheit in der Wirklichkeit füllte bislang das unschuldige Wort Leistung“, hat die deutsche Wochenzeitung Die Zeit einmal geschrieben, „dass es ein gerechtes Unten und Oben gibt, wurde mit ‚Leistungsunterschieden‘ begründet.“
Gerne werfen Politiker mit diesem „unschuldigen Wort“ um sich, um dieses gerechte Unten und dieses gerechte Oben einzuzementieren. Es fällt immer dann, wenn es darum geht, alles beim Alten zu lassen, die Last einer Gesellschaft auf den Einzelnen abzuwälzen und jene zu beschämen, die es nicht schaffen, sich am Ende der Nahrungskette anzusiedeln. Wenn sie sich doch nur ein bisschen mehr anstrengen würden, ein bisschen mehr Ehrgeiz, ein bisschen mehr Kampfgeist zeigen würden. So wie die wenigen, die es aus eigener Kraft nach oben geschafft haben. Nur deren Leistung hat sie dahin gebracht, wo sie heute stehen. Nicht die Familie, die Verhältnisse oder das Erbe waren dafür verantwortlich, nein, nur die eigene Leistung. Nicht wahr?
Eisern wird an dieser meritokratischen Selfmade-Illusion festgehalten. Dabei gibt es den Wohlstand, der aus eigener Kraft erarbeitet wurde, nicht mehr, wie die Autorin und Journalistin Julia Friedrichs in ihrem Buch „Working Class“ belegt. Wer heute reich ist, ist Profiteur seiner Verhältnisse. Nichts da mit Leistung. Wer es geschafft hat, hat es nicht alleine geschafft. Andere haben vor ihm und vor ihr geschafft. Alles andere ist Irrglaube. Das sieht selbst eine neue Generation von jungen Erbinnen ein. Sie wollen nicht länger in der goldenen Hängematte liegen, sie wollen wirklich „leisten“, so wie Marlene Engelhorn. Die junge Frau gab im Fernsehen bekannt, dass sie ihr Millionenerbe, das sie von ihrer Großmutter bekommen wird, zu 90 Prozent verschenken werde. „Radikal teilen“ will sie, sich nicht auf ihrem „schieren Geburtenglück“ ausruhen. In einem Statement sagt sie: „Wir brauchen eine Umverteilung von Reichtum, Land und Macht, und wir brauchen einen transparenten und demokratischen Prozess – für mich bedeutet das: Vermögenssteuern.“
Vielleicht ist man dann einem gerechteren Oben eine Spur näher. Und schafft gar ein ganz neues Koordinatensystem, das weniger von „unschuldigen“ Wörtern verzerrt wird.
Hala, 44
Muttersprachen- und Hilfslehrerin
in einer Neuen Mittelschule
Die Corona-Ampel steht auf Rot, Wien befindet sich im Lockdown. Ich stehe vor dem Schloss Schönbrunn beim Haupteingang. Es ist Anfang Februar 2021, und der eisige Wind erinnert mich daran, dass noch Winter ist. Doch die Sonne im Gesicht tut gut, und so macht mir das Warten auf Hala nichts aus. Sie kommt einige Minuten zu spät zu unserem Treffpunkt, da sie ihrer Tochter bei den Schulaufgaben helfen musste. Die Schulen sind derzeit geschlossen, doch sie sollen – im Schichtdienst – bald wieder geöffnet werden.
Hala ist alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern. Die ältere ist 17 und die jüngere 12 Jahre alt. Hala hat in Wien Arabistik, Orientalistik und Anglistik studiert, zog nach Dubai und arbeitete dort viele Jahre an einer internationalen Schule. Nun ist sie in Wien und unterrichtet als Muttersprachen- und Hilfslehrerin an einer Mittelschule. Sie ist Hilfslehrerin, weil sie keinen Lehramtsabschluss hat. „Meine Unterrichtserfahrungen der letzten Jahre zählen in Österreich nicht, obwohl gerade in der Schule Erfahrung mehr zählen sollte als Abschlüsse.“ Schnell fügt sie hinzu, wie froh sie ist, dass zumindest die Schuldirektorin hinter ihr steht und sich für sie einsetzt. Sie sprach bereits mit dem Stadtschulrat, doch am Ende konnte sie nichts erreichen.
Wir verlangsamen unser Gehtempo und gehen der Sonne entgegen. Ich muss meine Augen schließen, so sehr blendet es, doch Hala scheint darauf vorbereitet zu sein und holt ihre Sonnenbrille aus der Jackentasche. Halb sportlich, halb chic sieht sie nun aus: mit einer Jogginghose, Turnschuhen und der goldenen Sonnenbrille.
Die Mittelschule im 18. Bezirk, in der sie unterrichtet, hat 95 Prozent Schüler*innen mit nichtdeutscher Muttersprache. Neben Hala gibt es jeweils eine Person für Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch und Romanes, die während des Unterrichts unterstützt und Aufgaben erklärt. Hala ist für die arabischsprachigen Schüler*innen zuständig. Am Anfang der Pandemie war alles sehr chaotisch: besorgte Eltern, gestresste Lehrer*innen und verwirrte Schüler*innen. „Das war eher wie ein Versuchslabor“, sagt Hala mit einem müden Lächeln und presst ihre Lippen zusammen. „Es gab keine Plattformen für E-Learning, wir haben Zettel ausgeteilt und schickten Aufgaben per Mail oder Whatsapp.“
„Für unsere Schüler*innen ist die Schule eine Art Befreiung von allen Nebenverantwortungen, die sie sonst für ihre Familien übernehmen müssen.“
In dieser Zeit wurden die Muttersprachenlehrer*innen zu Schlüsselfiguren. Sie hielten den Kontakt zu den Eltern und Schüler*innen. Hala rief eine Familie nach der anderen an, erkundigte sich nach dem Befinden und versorgte sie mit Informationen über die neuesten Regierungsbeschlüsse, Covid-19 und wie der Unterricht funktionieren wird. Schwierig war, dass ständig neue Beschlüsse kamen und alle sich immer wieder neu orientieren mussten. „Bei manchen Kindern ist der Kontakt komplett abgebrochen. Es gab keine Reaktion auf E-Mails, Whatsapp-Nachrichten oder sonstwas.“ Durch die Telefonate merkte sie, dass es für manche Schüler*innen sehr herausfordernd war, zu Hause zu lernen, und immer schwieriger wurde, je länger die Situation andauerte. „Für unsere Schüler*innen ist die Schule eine Art Befreiung von allen Nebenverantwortungen, die sie sonst für ihre Familien übernehmen müssen: behördliche Anrufe, Übersetzen, E-Mails für die Eltern verfassen, mit den jüngeren Geschwistern lernen, das kostet alles Zeit und Nerven. Viele haben zu Hause nicht einmal einen Tisch, um ihre Hausübungen zu machen.“
An der Schule wurde ein Betreuungsdienst angeboten. Sieben Lehrer*innen meldeten sich dafür, darunter auch Hala. Zwei- bis viermal pro Woche fuhren sie zur Schule. Schüler*innen, deren Eltern zur Arbeit gehen mussten, konnten so in die Schule kommen, es durfte aber kein normaler Unterricht für sie abgehalten werden, um die anderen nicht zu benachteiligen. Währenddessen wurde alles auf E-Learning umgestellt, die Schüler*innen in der Schule mussten sich in den Unterricht einwählen, doch es gab zu wenige Laptops, und das Internet in der Schule war zu langsam.
Für Eltern wurde eine Art App entwickelt, die das Mitteilungshelft ersetzen sollte, doch da kam es vor, dass die Kinder für ihre Eltern unterschrieben. Hala konnte die Schwierigkeiten ihrer Schüler*innen gut verstehen, sie selbst musste mit ihren zwei Töchtern einen Laptop teilen. „Ich hielt den Unterricht manchmal auf dem kleinen Bildschirm meines Smartphones“, sagt sie. Sie konnte nie alle ihre Schüler*innen auf einmal sehen. Weder den Schüler*innen noch dem Lehrpersonal wurde das nötige Equipment zur Verfügung gestellt. Vielen Lehrer*innen fehlte außerdem das Know-how, um die Inhalte interaktiv zu gestalten und so die Aufmerksamkeit der Schüler*innen zu bekommen.
Nach den Sommerferien durften alle wieder normal in den Unterricht. Für Hala war es irritierend, schön, aber auch besorgniserregend, denn sie machte sich Sorgen um ihre älteren Kolleg*innen, die schutzlos in vollen Klassen standen und Unterricht hielten. Für manche hätte eine Corona-Erkrankung das Ende bedeuten können. Zu dieser Zeit wurden weder Lehrer*innen noch Schüler*innen getestet, Maskenpflicht herrschte nur auf den Gängen, vieles war noch nicht genau geregelt.
Ich frage Hala, ob es für die Lehrer*innen, die diesem Risiko ausgesetzt waren, eine Art Prämie gab, und ob in der Politik nachhaltige Maßnahmen für eine bessere Ausstattung der Schulen und sicheren Unterricht besprochen wurden. Leider nein, sagt Hala. Auch wenn die Probleme an den Schulen jetzt durch die Pandemie so sichtbar wurden wie noch nie, seien noch keine Verbesserungen in Aussicht gestellt worden.
Wir setzen uns auf eine Bank. Hala wird vom Anruf ihrer Tochter unterbrochen, die nach ihrem Mathebuch sucht. Nachdem Hala präzise Anweisungen gegeben hat, entschuldigt sie sich und sagt nachdenklich: „Ich liebe es, Lehrerin zu sein. Ich versuche, meinen Schüler*innen viele Perspektiven aufzuzeigen. Ich sage ihnen: Ihr könnt eure Stärken einsetzen, ihr könnt euch immer weiterentwickeln, ihr könnt leiten, führen und inspirieren. Ihr könnt die Gesellschaft positiv mitgestalten.“
Sie starrt auf den Boden und zeichnet mit ihrem Turnschuh einen Kreis in die Erde. Leider stehen Halas Schüler*innen nicht alle Türen offen, weil sie nicht ausreichend Unterstützung bekommen. Als Lehrerin fühlt sich Hala im Stich gelassen. „Es sind zu viele Schüler*innen, um auf die Bedürfnisse von jedem und jeder Einzelnen einzugehen und sie so zu fördern, wie es notwendig wäre. Viele haben Probleme, die sie vom Lernen ablenken: Traumata, keine stabilen Wohnbedingungen, Existenzängste, und dann dieser gesellschaftliche Druck, der besonders auf Kindern liegt, die solche Schulen besuchen.“
„Es sind zu viele Schüler*innen, um auf die Bedürfnisse von jedem und jeder Einzelnen einzugehen.“
Wir stehen auf und bewegen uns Richtung Ausgang. Hala dreht sich zu mir und teilt mir eine ihrer weiteren Sorgen mit. Sie erzählt, was sie zu Hause an ihren Töchtern beobachtet. „Ich merke, wie meine eigenen Kinder abstumpfen, wie wenig Verständnis sie anderen gegenüber haben. Ein halbes Jahr Isolation und kaum Interaktion mit anderen Menschen hat viel verändert.“
Ihre Kinder sehnen sich nach Normalität, wollen ihre Freund*innen treffen, sie zu Hause besuchen und ausgehen, sie halten keinen Abstand mehr, werden unvorsichtig. „Wenn sie zu viel meckern, muss ich sie daran erinnern, wie privilegiert sie sind, weil sie jung und gesund sind. Sie sollen an ihre Oma denken.“
Doch irgendwie kann ich Halas Kinder gut verstehen.
„Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, um den Berufsgruppen, die unsere Gesellschaft tragen, jene Wertschätzung zukommen zu lassen, die sie verdienen. Es braucht mehr Gehalt, kürzere Arbeitszeiten, mehr Personal und echte Entlastung.“
Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft GPA
Nicht alle Eltern trifft die Corona-Krise gleich hart
Geringverdienende haben kaum Ersparnisse – bräuchten sie aber am dringendsten
Quelle: SORA – Institute for Social Research / Momentum Institut
Diana, 29
Betreuerin in einer privaten
Kinderwohngemeinschaft
Kurz bevor ich aus dem Haus gehe, wird es windig und kalt. Ich will den Spaziergang mit Diana absagen, aber sie ist schon unterwegs. Also schnappe ich mir noch schnell meinen Schal und laufe los. Natürlich komme ich ein bisschen zu spät. Diana wartet schon bei der U-Bahn-Station. Mit ihrer hellen Mütze fällt sie mir gleich auf. Wir spazieren Richtung Auer-Welsbach-Park, zwischen bellenden Hunden und schreienden Kindern.
Seit Juli 2020 arbeitet Diana als Betreuerin in einer privaten Kinderwohngemeinschaft im 8. Bezirk in Wien. Nebenbei macht sie eine Ausbildung zur Sozialpädagogin und Kunsttherapeutin. Davor war sie bei den Kinderfreunden und im Jugendzentrum tätig. In der Wohngemeinschaft im Reihenhaus wohnen sechs Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 14 Jahren. Welche Kinder den WG-Platz bekommen, wird von der Magistratsabteilung 11 (Wiener Kinder- und Jugendhilfe) und der Hausleitung gemeinsam entschieden. Meist sind es Kinder, die aus ihrem Elternhaus geholt wurden, weil sie dort Gewalt oder anderen Konflikten ausgesetzt waren. Die Kinder und Jugendlichen bleiben unterschiedlich lange dort, bis sich die Situation mit ihren Eltern geklärt hat, oder bis zu ihrer Volljährigkeit, was mehrere Jahre dauern kann.
„Unser oberstes Ziel ist es, für die Kinder alles so normal wie möglich zu gestalten. Die Kinder hier kommen aus ganz prekären und schwierigen Verhältnissen. Sie haben einen andauernden hohen Stresspegel“, erklärt Diana.
Acht bis zehn Betreuer*innen – zur Hälfte Betreuer, zur Hälfte Betreuerinnen, denn je nach ihrem Erlebten haben die Kinder und Jugendlichen einen besseren oder schlechten Zugang zu Frauen oder Männern – sind in wechselnden Diensten rund um die Uhr für die Kinder da. Sie versuchen ihnen Stabilität, Sicherheit und Normalität zu vermitteln. „Es ist wichtig, den Kindern das Gefühl zu geben, dass wir es durch den Tag schaffen. Komme, was wolle“, sagt Diana überzeugt. Die Betreuer*innen gestalten den Alltag für die Kinder. Sie bereiten das Mittagessen vor, dann werden die Hausaufgaben gemacht und Termine wahrgenommen, seien es Arztbesuche, Sportvereinsveranstaltungen oder Behördengänge. Außerdem wird darauf geschaut, dass die Kinder möglichst viel in der Natur sind. „Dabei hat Corona uns massiv eingeschränkt. Das Haus wurde den Kindern zu eng und zu geballt“, erzählt Diana. Als die Corona-Maßnahmen erlassen wurden, wurden die Kinder damit vertraut gemacht, und es wurde viel über das Virus gesprochen. „Für die Kinder war Corona ein Highlight, etwas Besonderes. Sobald jemand krank wurde, wurde sofort gefragt: Ist es Corona?“
„Es ist wichtig, den Kindern das Gefühl zu geben, dass wir es durch den Tag schaffen. Komme, was wolle.“
Nachdem ich beim Spazieren von einem kleinen Kind mit dem Fahrrad angefahren worden bin, flüchten Diana und ich zu einer abgelegenen Bank im Park.
„In einem Haushalt mit vielen Menschen herrscht eine höhere Ansteckungsgefahr, zwei Kolleg*innen hatten bereits Corona“, erzählt sie. In der WG gab es auch Verdachtsfälle, die zum Glück schnell durch Testungen geklärt werden konnten. „Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn wir ganze zwei Wochen oder zehn Tage mit den Kindern so richtig in Quarantäne hätten gehen müssen. Das packen die Kinder und auch die Betreuer*innen nicht.“ Diana lacht und hebt die Augenbrauen. Für die Wohngemeinschaft gibt es die Empfehlung, dass alle Mitarbeiter*innen im Dienst Maske tragen sollten. Es wurde ausprobiert und dann von den Betreuer*innen abgelehnt. „Für die Kinder ist es ihr Zuhause, bei uns zu Hause läuft auch niemand mit Maske herum“, meint Diana. Mitte März 2021 wurde sie geimpft.
Sie selbst lässt sich von Corona nicht leicht abschrecken, sie passt auf, so gut es geht. „Wenn Corona mich trifft, kann ich entweder leben oder sterben. Es ist so, auch wenn das hart klingt.“ Dianas Opa jedoch wurde mit dem Virus infiziert und ist an den Symptomen verstorben. „Mein Opa war sehr alt, es ist ur schirch. Aber der Tod gehört zum Leben.“ Ich staune über ihre furchtlose Einstellung zu Leben und Tod, trotz ihres jungen Alters.
Dass Mitte März 2020 die Schulen geschlossen wurden, war für die Wohngemeinschaft eine besondere Herausforderung. Die Betreuer*innen waren mit dem Home Schooling für sechs Kinder gleichzeitig überfordert. „Es ist anders als Hausaufgaben machen. Wir hatten keinen Plan, vor allem die Koordination war schwer. Wir sind sozusagen ein 8-Eltern-Haushalt. Da fließen auch nicht alle Informationen weiter.“ Glücklicherweise ist Dianas WG, anders als viele Haushalte, was das Equipment betrifft, gut aufgestellt. So konnten die Kinder während des Lockdowns dem Unterricht online folgen.
Mit dem Wegfall des Schulbesuchs wurde aber auch die gewohnte Routine durchbrochen, und gerade für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen kann das zum Problem werden. Bei einem der Jugendlichen in der Wohngemeinschaft spiegelte sich das in seinem Verhalten wider: Er wurde aggressiv, depressiv und zog sich zurück.
„Ihm gab die Schule Struktur, und er braucht die Interaktion mit gesunden Kindern“, erklärt Diana. Nach Absprache mit der Schulleitung durfte er während der Lockdowns für einige Tage pro Woche in die Schule. Normalerweise dürfen manche Kinder und Jugendliche ihre Eltern am Wochenende besuchen oder treffen. Doch seit Anfang der Pandemie sind diese Besuche schlecht planbar und haben ihre Regelmäßigkeit verloren. Die Betreuer*innen halten zu den Sozialbetreuer*innen der Eltern Kontakt, gemeinsam wird die Zusammenführung angestrebt.
Um mit der oft auch psychisch fordernden Arbeit zurechtzukommen, haben die Betreuer*innen der WG regelmäßig Gruppensupervision und können Einzelsupervision in Anspruch nehmen. „Es ist eine Arbeit, die unter die Haut geht. Man kann die Arbeit nicht immer in der Arbeit lassen. Manche Situationen triggern etwas in dir, was in deiner eigenen Geschichte vorkommt. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man besser damit umgehen“, erzählt Diana.
Von Menschen in sozialen Berufen wird erwartet, dass sie ihre Emotionen im Griff haben und immer richtig handeln. „Ich bin aber nur ein Mensch, der auch mal einen schlechten Tag hat“, sagt Diana.
Von der Gesellschaft wünscht sich Diana mehr Verständnis für die Kinder und Jugendlichen in der WG. „Auf ihre Geschichte und ihr Erlebtes wird keine Rücksicht genommen. Es wird erwartet, dass sie in der Gesellschaft funktionieren!“ Diese Erwartungshaltung setzt die Kinder massiv unter Druck. Diana würde sich ein Bildungssystem wünschen, das den Kindern und Jugendlichen, die sie betreut, mehr Raum bietet, sodass sie sich nicht als Außenseiter fühlen müssen.
Es wird kurz still, und wir gehen eine Runde im Park.