Geschichten vom Untergang

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Geschichten vom Untergang
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Claudia Gürtler

Geschichten vom Untergang

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Geschichten vom Untergang

Impressum neobooks

Geschichten vom Untergang

Savanne Désolée, Les Anglais, Haiti

Sie zog die Plakatwand aus dem Schutt, hob sie hoch über den Kopf und trug sie nach Hause. Erdbeben, Überschwemmungen, Plünderungen hatten von Savanne Désolées altem Leben nicht viel übriggelassen, aber der Flecken Erde war derselbe, und sie nannte den Ort gewohnheitsmässig ihr Zuhause.

Die Plakatwand war erstaunlich leicht, und die Tatsache, dass niemand sie daran hinderte, sie mitzunehmen, wertete Savanne als gutes Zeichen.

Gute Zeichen hielten sie über Wasser. Sie war immer auf der Suche nach guten Zeichen.

Sie trug die Plakatwand dorthin, wo sie auf einer schimmelnden Matratze gelegen und auf den Tod gewartet hatte, bis die Leute von der Hilfsorganisation gekommen waren und ihr Medikamente gegeben hatten, die sie aufstehen und weitermachen liessen, wofür, wusste sie nicht. Einer der Katastrophenhelfer hatte ihr angeboten, Joseph, ihren fünfjährigen Sohn, mitzunehmen nach Europa. Er war freundlich gewesen. Er hatte stark und zuverlässig ausgesehen. Er hatte auf sie heruntergelächelt, beinahe väterlich, obwohl er ziemlich sicher nur wenig älter war als sie. Schwach und verwirrt hatte sie ja gesagt, zu allem ja gesagt, ohne nach guten Zeichen zu suchen, und mit Joseph war jeder Sinn aus ihrem Leben verschwunden.

Lange vor Joseph war auch ihr Mann Louis aus ihrem Leben verschwunden. Er war gegangen, als ihr Bauch begonnen hatte, sich zu runden. Es gab nicht viele Leute, die es wissen wollten, aber immer, wenn sie gefragt wurde versicherte Savanne, Witwe zu sein. Ihr Mann sei wenige Tage nach dem Erdbeben am Typhus gestorben, schnell und leise, obwohl es sonst nicht seine Art gewesen sei, irgendetwas leise zu tun. Savanne lachte sonst nie, aber sie lachte jeweils kurz auf, wenn sie von Louis erzählte, und die Leute glaubten ihr.

Savanne Désolées Nachbarn hiessen Amélie und René Jolicoeur. Die Nachbarn hatte ihr das Erdbeben gelassen. Sie hatten zu ihrem alten Leben gehört, und nun waren sie Teil ihres neuen Lebens.

Savanne seufzte. Meist waren es die guten Dinge im Leben, die einem fast unbemerkt abhandenkamen, während die schlechten hartnäckig an einem kleben blieben. Es gab nicht einen einzigen Grund für Savanne, ihre Nachbarn zu mögen, aber tausende Gründe, sie nicht zu mögen. Amélie Jolicoeur war eine verbitterte Frau, die reflexartig handelte, ohne sich die Zeit zu nehmen, nachzudenken. Brüllte René sie an, was täglich der Fall war, einmal, zweimal, viele Male, brüllte sie jemand anderen an, vorzugsweise Savanne. Savanne war da. Savanne stand zur Verfügung, wenn Amélie Dampf ablassen und weitergeben musste, was das Eheleben an Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Rutschte René die Hand aus, weil er noch nicht betrunken genug war, um im Schatten seines Bootes zu schnarchen, so ging Amélie, kaum stand sie nach dem Schlag ins Gesicht wieder ohne zu Schwanken da, mit ihren kleinen harten Fäusten auf ihre Nachbarin los. René und Amélie hätten Savanne gestohlen bleiben können.

René öffnete die verschwollenen Augen einen Spalt breit, als er Savannes Schritte hörte.

«Was steht auf der Plakatwand?», wollte er wissen.

«Was steht auf dem Plakat?», wiederholte Amélie sofort.

Savanne lehnte die dicke Pappe gegen die Mauer, die in besseren Zeiten eine Aussenwand ihres Hauses gewesen war und betrachtete sie. Quer über einer unbekannten Landschaft war in grossen, leuchtend roten Ziffern eine Telefonnummer aufgemalt. Savanne merkte sie sich ohne Mühe. Für Zahlen hatte sie von klein auf ein gutes Gedächtnis gehabt.

Sie überquerte den mit Müll übersäten Marktplatz und betrat die Telefonkabine, die heil geblieben war. Sie sah aus, als habe ein englischer Tourist sie hier vergessen. Das Telefon funktionierte. Savanne hörte das Freizeichen, als sie den Hörer abhob. Sie wählte die Nummer, die sie auswendig gelernt hatte. Der Anruf schien kostenlos zu sein, denn es klingelte, obwohl Savanne keine Münzen eingeworfen hatte. In der Leitung knackte es. Am anderen Ende hatte jemand abgehoben. Savanne presste den Hörer aufs Ohr und lauschte.

Ali Kumar, Basel, Schweiz

Ali Kumar fand Arbeit. Er hatte nie zuvor eine Arbeit gehabt. Er war ein den Kopf über Wasser Halter, ein die Nase aus dem Schlamm Strecker. Zeit war das einzige, was ihm im Überfluss zur Verfügung stand. Er versuchte, eine Art Alltag aufrecht zu erhalten und die Woche als Woche zu leben, auch wenn diese aus fünf Arbeitstagen bestand, an denen er nicht arbeitete und aus dem Samstag, an dem er seinen Wocheneinkauf erledigte, indem er auf Parkplätzen vor Einkaufszentren seine Dienste als Einkaufswagenschieber und Einpacker anbot. Nach einem kurzen Zögern seiner Klienten und einem prüfenden Blick in sein Gesicht wurde ihm jeweils erlaubt, volle Taschen in Kofferräumen zu verstauen. Dafür erhielt er ein Brot, eine Dose Linsen, zwei Äpfel oder auch, ausnahmsweise, ein bisschen Kleingeld. Es folgte der lange erwartete Sonntag, den Ali tatenlos verstreichen liess. Er übte sich darin, das Nichtstun nicht als Last, sondern als Gewinn zu buchen. Er freute sich an Sonntagabenden bereits auf den Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, wenn er der Reihe nach auf bestimmten Bänken in und um seine Zufallsheimat Basel sass und mit stoischer Ruhe Bewerbungen schrieb.

Er heftete seine Bewerbungen in einem lila Ordner ab, den er im Sperrmüll gefunden hatte. Und er nummerierte sie.

Es war seine tausendste Bewerbung, die schliesslich Erfolg hatte, denn Ali Kumar war bereit zu tun, was in diesen Zeiten keiner mehr zu tun bereit war: er würde Telefonanrufe entgegennehmen.

Constantin Steiner, Brugg, Schweiz

Er ging, ging am linken Aareufer entlang bis zur Brücke, auf der er kurz stehenblieb und auf das Fliessen hinuntersah, bevor er wieder dem Stadtzentrum zustrebte. Das Gehen entspannte ihn, obwohl er die Wanderung, für die laut gelbem Wegweiser zweieinhalb Stunden einzurechnen war, in neunzig Minuten hinter sich brachte. Der Blick aufs Wasser tat ihm gut, wie immer.

Constantin Steiner hatte an so vielen Orten auf der Welt gelebt und war schliesslich dort wo Aare, Limmat und Reuss zusammenfinden, hängen geblieben. Er identifizierte sich nicht mit Städten, Ländern, Hügeln und nationalen Eigenheiten, aber ja, er mochte Wasser, und hier gab es viel davon. Wenn man sich etwas Mühe gab, konnte man schliesslich, falls man wirklich glaubte, eine Heimat zu brauchen, jeden Flecken der Erde zur Heimat machen.

Trotz des strammen Marsches an der frischen Luft kam er an diesem Abend nicht zur Ruhe; es war also wieder so weit. Er würde sich, musste sich eine Auszeit von vier Tagen gönnen. Da er freitags nicht arbeitete, gab er für das längst eingespielte und zur Routine gewordene Vorhaben nur den Montag als Urlaubstag ein. Den Mietwagen hatte er bereits reserviert. Er würde ihn sehr früh abholen, wenn der Garagist noch zu verschlafen war, um nach dem Warum und Wohin zu fragen.

Er nickte erfreut, als er den geräumigen Kastenwagen sah. Es war derselbe wie beim letzten und beim vorletzten Mal. Der Garagist, der es sich nicht gerne mit guten Kunden verscherzte, entsprach damit seinem nur gedachten, aber nicht ausgesprochenen Wunsch, und Constantin steckte den Schlüssel ins Zündschloss und schwenkte auf den Zubringer zur Autobahn Richtung Süden ein.

Ali Kumar, Basel, Schweiz

Die Stellenausschreibung war ein Dauerinserat. Solange die Rechnung beglichen wurde, wurde das Inserat gedruckt und in Tageszeitungen, Gratisblättern und auf Online-Plattformen verbreitet.

Telefonische Auskünfte erteilen wollte in diesen Zeiten, in denen Schuldzuweisungen in der Welt herumgeschoben wurden wie mit mysteriösen, vor kritischen Blicken weggeschlossenen Gütern gefüllte Container, niemand. Für einen mageren Monatslohn den Kopf hinzuhalten war nicht einmal mehr bereit, wer Hunger und kein Dach über dem Kopf hatte.

Der junge Mann sass auf einer leuchtend roten Parkbank auf einem Hügel über Basel. Es war Ende Oktober und der Morgen war sehr frisch. Mit eiskalten Fingern bemühte er sich, leserlich und sauber zu schreiben. Schwung holte er nur für die Unterschrift.

Das Foto, das er seiner sehr kurzen Bewerbung beilegte, war viel zu dunkel. Das Gesicht ein Schattenriss, die Züge kaum zu erkennen. Der Boss ärgerte sich kurz, als er es aus dem Umschlag zog, zuckte dann aber die Schultern. Es hatte sich in all den Jahren, in denen der Dauerauftrag für das Inserat lief, niemand um die Stelle beworben. Er würde nicht kommen, dieser Ali Kumar. Das unscharfe Foto war irrelevant.

Helge Heemann, Kiel, Schleswig-Holstein, Deutschland

Eine Intex Excursion hatte sich der Junge gewünscht, seit er denken konnte.

Am schwärzesten Tag in Helge Heemanns Leben verschenkte sein Grossvater so ein hochseetaugliches Schlauchboot. Mit einer beiläufigen Geste und mit einem Lächeln im wettergegerbten Gesicht tat er das. Ganz so, als habe es keine Bedeutung im Leben, eine Intex Excursion zu verschenken.

 

Auch Malte, der Beschenkte, der an diesem Tag im Frühsommer neun Jahre alt wurde, tat so, als sei das Geschenk etwas Nebensächliches und Entbehrliches. Als hinge nichts im Leben davon ab, ob man eine Intex Excursion besass oder nicht.

Helge war nun dreizehn und noch immer nicht im Besitz eines eigenen Bootes, von lächerlichen Spielzeugbooten einmal abgesehen.

Zu Geburtstagen, zu Weihnachten und zu Ostern hatte er nichts als Spielzeugboote geschenkt bekommen. Allerdings hatte im letzten Jahr eine Karte von Norddeutschland und Skandinavien unter dem Tannenbaum gelegen, wenigstens das! Er hatte versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie viel ihm dieses Geschenk bedeutete. Er hütete die Karte wie seinen Augapfel, und er faltete sie oft auseinander, um wie in einem Buch darin zu lesen. Viel mehr als das Land mit sehr grossen und lediglich grossen Städten, verbunden durch ein Geflecht von Autobahnen und Überlandstrassen interessierte ihn das hellblaue Wasser, das gegen Norden immer mehr wurde, und die in leuchtendem Rot eingezeichneten Seerouten.

Nun waren sie endlich zu gebrauchen, die kleinen Holz- und Plastikboote. Sobald Malte eingeschlafen war – sie teilten sich noch immer ein Zimmer, obwohl Helge, wie er fand, längst Anspruch auf ein eigenes gehabt hätte – zog er die Karte unter der Matratze hervor, entfaltete sie, knipste die Taschenlampe an und fuhr mit seinen winzigen Booten in alle Welt.

Von Kiel aus, wo er und Helge bei den Grosseltern lebten – vorübergehend, wie immer wieder versichert wurde – musste es möglich sein, die Kieler Bucht zu queren, auf dem Langelands Belt zwischen Lange Land und Lolland hindurch zu schlüpfen, Odense und Aarhus links liegen zu lassen, im Kattegat westlich zu halten, den nördlichsten Zipfel Dänemark ebenfalls links liegen zu lassen und an Göteborg vorbei der schwedischen Westküste entlang zu segeln, bis bei Fredrikstad die Grenze zu Norwegen erreicht wäre. Von hier aus wäre es ein Katzensprung nach Oslo. So versprachen es die roten Linien auf der Karte. So musste es sein.

Grosse Luxusfähren brauchten für die Seereise rund vier Tage. Helge rechnete für seine Intex Excursion, die er noch nicht besass, vage etwas mehr.

«Nun ist aber gut!», rief die Oma, die das Flackern seiner Taschenlampe entdeckt hatte, von unten. Helge war sich sicher, dass sie das Licht längst gesehen hatte, ihn aber Abend für Abend eine ganze Weile lesen und träumen liess.

Er löschte das Licht und seine Tagträume gingen nahtlos in die Träume der Nacht über. Er kletterte aus der schwankenden Intex auf den Pier, schloss erst Mama, dann Papa, die selbstverständlich nur vorübergehend in Oslo arbeiteten, fest in die Arme, und beide waren so beeindruckt von seinem Mut, seiner Seetüchtigkeit und seiner Sehnsucht nach ihnen, dass sie zusammenpackten, um zurückzukehren nach Kiel. Sie bezogen ihr altes Haus, waren einfach wieder Eltern, nicht nur vom kleinen, verwöhnten Malte, sondern auch von ihm, von Helge. Er erhielt sein Zimmer zurück, das ihm allein gehörte. Es gab eine brauchbare Nachttischlampe und eine freie Wand, an die er seine Karte von Norddeutschland und Skandinavien pinnte. Papa räumte ein ausreichend grosses Stück Platz in der Garage frei für Helges Intex Excursion, die ihm zustand und die ihm Malte nach seiner Entdeckerfahrt diskussionslos überliess, und Helge schnitt ein Stück Zeit aus seinem Leben heraus. Es gab keine Flicken und keine Nähte mehr. Alles war gut.

Ali Kumar, Basel, Schweiz

Das Foto, das er seiner sehr kurzen Bewerbung beilegte, war viel zu dunkel. Das Gesicht ein Schattenriss, die Züge kaum zu erkennen. Der Boss ärgerte sich kurz, als er es aus dem Umschlag zog, zuckte dann aber die Schultern. Es hatte sich in Jahren niemand um die Stelle beworben. Er würde nicht kommen, dieser Ali Kumar. Das unscharfe Foto war irrelevant.

Der Boss legte die Bewerbung im dafür vorgesehenen dünnen Ordner ab und vergass sie im selben Augenblick. Nein, er rechnete nicht mit diesem Ali Kumar, wirklich nicht.

Es war Donnerstag.

Der letzte Donnerstag im Oktober.

Der junge Mann trat in den Lift und betrachtete ratlos die Knopfreihen, während sich die Tür hinter ihm schloss. Der Boss zoomte ihn auf dem Monitor etwas näher heran. Er tippte auf einen sehr dunklen Inder oder Pakistani. Andererseits, wenn er wirklich Ali hiess, wie er behauptete, konnte er alles Mögliche sein, Kurde vielleicht? Marokkaner? Alis dunkle, schmale Hand mit den weissen Nägeln glitt suchend die Reihen hinauf und hinunter. Er entschied sich schliesslich für einen Knopf und drückte ihn. Er hatte nur vage Anweisungen erhalten, wo er sich zu melden habe, eine Adresse, eine Uhrzeit, aufgedruckt auf einem kassenbelegähnlichen dünnen Papierstreifen mit der Kopfzeile ‘Bewerbung Nummer 4'673’.

Die Zahl hatte Ali Kumar nicht entmutigt. Bei weit über sieben Milliarden Menschen auf der Welt gab es bestimmt jede Menge Bewerbungen für alles Mögliche und Unmögliche. Irgendeiner musste es sein. Irgendeiner zog das grosse Los.

Der Lift setzte sich in Bewegung und schwebte nach oben.

Der junge Mann ging einen nüchternen Korridor entlang, an dessen Ende sich eine Schiebetür lautlos öffnete. Er trat ins Halbdunkel eines kreisrunden Raums. Auf ebenfalls gerundeten Monitoren entlang der Wand erschienen Bilder, sobald ein blinkender roter Knopf einen eingehenden Anruf anzeigte. Beides erlosch, wenn der Anrufer die Geduld verlor und auflegte.

Die Monitore waren nummeriert. Vor jedem zweiten stand ein bequemer Bürostuhl auf Rollen. Ein drahtloses Headset hing rechts neben der Eingangstür.

«Ihr Arbeitsvertrag liegt vor Monitor Nummer elf. Unterzeichnen sie ihn rechts unten», verlangte eine undeutliche Lautsprecherstimme an der Zimmerdecke. «Und ziehen sie bei Arbeitsbeginn jeweils das Headset an.»

Ali sah suchend nach oben, konnte aber im gewölbten Fastdunkel nichts erkennen. Er trat zu Monitor elf und unterzeichnete den mehrseitigen Vertrag mit viel Kleingedrucktem, ohne ihn zu lesen.

Der Boss war beeindruckt.

Ali Kumar erhielt die Stelle.

Arbeitsbeginn war Dienstag, 1. November.

Der Mann, der Ali hiess und ebenso gut Inder wie Pakistani, Marokkaner oder Kurde sein konnte, brachte den letzten Freitag ohne Arbeit damit zu, sich auf einem langen Spaziergang von seinen Bewerbungsparkbänken zu verabschieden. Den lila Ordner, der tausend Stellenbewerbungen enthielt, trug er unter dem linken Arm, als sei er mit ihm verwachsen. Er nibbelte an einem eiskalten Apfel mit braunen Stellen, den er unter einem Baum gefunden hatte und sah aus verschiedenen Blickwinkeln auf das Gewirr aus Gebäuden und Strassen hinunter, welches er als seine Stadt bezeichnete.

Adrian Abderhalden, Maggiatal, Schweiz

Adrian Abderhalden schlug sein Holz selbst.

Zehn Millionen Kubikmeter Holz wachsen in der Schweiz jährlich nach. Ein Drittel der Fläche des Landes ist mit Wald bedeckt. Dieser nimmt jährlich um die Fläche des Thunersees zu.

Sorgen musste sich keiner machen. Adrian hielt kurz inne, streckte den Rücken. Es war genug da. Genug Holz für jeden.

«Genug Holz auch für den pingeligen Mann mit dem grossen Geheimnis.»

Der Schreiner grinste vor sich hin. Hatte er gerade laut mit sich selbst gesprochen? Ein Specht wechselte auf einen weiter entfernten Baum.

Dass es Deutschschweizer ins Tessin zog, war nichts Neues. Adrian selbst hatte sich vor Jahren für die keilförmig weit nach Italien hineinragende Gegend entschieden. Dass aber einer aus dem Norden alle paar Monate den weiten Weg ins Maggiatal unter die Räder nahm, um Holz zu kaufen, war ungewöhnlich, seltsam, sogar schräg, wie Adrian dachte.

Adrian Abderhalden befiel jeweils plötzlich eine Ahnung, ein erwartungsvolles Kribbeln, eine Vorfreude auf den Kunden, ohne dass dieser sein Kommen angekündigt hätte.

Die beiden so verschiedenen Männer teilten die Liebe zu makellosem Holz.

Natürlich hätte Adrian den Mann, der sich Constantin nannte, Constantin ohne Nachnamen, besser beraten können, wenn er gewusst hätte, an welchem Projekt er arbeitete. Er fragte nicht danach. Er hatte es sich gar untersagt, darüber nachzudenken. Die Angst des Mannes vor der Neugierde des Schreiners war unbegründet. Aufs Tapet bringen liess sich das vage Missverständnis nicht, ohne das filigrane Netz einer geteilten Leidenschaft zu zerstören.

Adrian schlug Holz und bearbeitete es, ohne dass es bestellt worden war. Ein Risiko ging er damit nicht ein. Frisch gehobelte Bretter aus sorgfältig gewählten, fast astlosen, gesunden Stämmen liessen sich immer verkaufen.

Abderhaldens Vorahnungen bewahrheiteten sich jeweils früher oder später. Constantin Steiner holte das Holz ab und belud den Transporter bis unters Dach.

Eiche, Lärche, Fichte, Buche? Alles gutes Holz, das Beste für sein Vorhaben.

Manchmal, wenn er die schweren, federnden Bretter zum Mietwagen trug, begegneten seine Augen dem spöttischen Blick des Schreiners.

Es kann mir egal sein, sagte sich Constantin in solchen Augenblicken.

Es kann mir egal sein, dachte auch Adrian.

«Für dich nur das Beste», sagte Adrian jedes Mal, wenn der Kunde die Börse zückte. Trotz des jeweils ansehnlichen Betrags bezahlte Constantin nie mit Kreditkarte, sondern zählte pedantisch Noten und Münzen in Adrians schwielige Hand. An der Linken fehlte die Hälfte des Zeigefingers. Ein Schreinerunfall in jungen Jahren.

Wie eigentlich jedes Mal überlegte Constantin auch an diesem Tag beim Einladen der Bretter, ob er es mal woanders versuchen sollte. Er störte sich an Adrians Vertrautheit, seinem nicht eingeforderten Verschworen-Sein.

Dann aber nahm er das leichte Federn der dicken Planken wahr, sah die Schönheit des Holzes, roch den unvergleichlichen Geruch nach dem bereitwilligen Opfer grosser Wälder. Er spürte die Liebe, mit der Adrian Abderhalden das Holz ausgewählt hatte, die Leidenschaft, mit der er es bearbeitet hatte. Er streckte den Rücken, schloss die hinteren Türen, legte ein Lächeln aufs Gesicht und rang sich ein anerkennendes Nicken ab. Sie gaben sich die Hand. Constantin war froh, dass es die Rechte war.

«Bis zum nächsten Mal», sagte er, eine direkte Anrede und damit das Du vermeidend.

«Bis zum nächsten Mal», sagte der Schreiner, und während Constantin, ohne einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, auf der schnell steiler werdenden Strasse aus dem kleinen Bergdorf fuhr, sah ihm Adrian Abderhalden durchs staubige Werkstattfenster nach.

Asahi Daisuke, Hiroshima, Japan

Das Wasser im Kellerabteil stand hüfthoch. Der brackige Geruch widerte Asahi Daisuke an. Er überwand sich endlich und machte ein paar Schritte in den kleinen Raum hinein. Die laue Wärme der Brühe, die an seinen Hosenbeinen emporkroch, überraschte ihn. Das Boot schwamm ihm entgegen. Es hatte sich aus dem Regal befreit, und es kostete Asahi kaum Kraft, es durch den Kellerflur und die kurze Treppe hinauf in die überflutete Strasse zu schieben. Gewohnheitsmässig griff er nach dem Paddel, benutzte es aber nicht, sondern genoss das Geschenk des mühelosen Gleitens.

Auch heute stand Saya Mayami an derselben Kreuzung unter demselben kümmerlichen Baum, den leeren Blick auf Hiroshimas Motoyasu Fluss geheftet und hielt ihr Plakat hoch. Natürlich stand sie da. Sie stand immer da. Hunderte kannten Saya Mayami ohne sie wirklich zu kennen.

Asahi Daisuke heftete den Blick auf ihren Rücken und dachte an einen zähen, immergrünen Bambusstängel, der im Wind schwankt, ohne gebrochen zu werden.

«Esst keine Tiere», verlangte das Plakat. Es musste an die dreissig Jahre alt sein, und Asahi fragte sich, ob Saya wusste, dass die Botschaft verwaschen und kaum noch zu lesen war.

Im Juli wurde Hiroshima üblicherweise mit mildem Sommerwetter verwöhnt. Würde dem Ausdruck nicht etwas Kitschiges anhaften, man hätte es lieblich nennen können. In den letzten vier Tagen aber war bereits drei Mal so viel Regen gefallen wie sonst in allen Sommermonaten zusammen.

Saya stand bis zum Hüftansatz im Wasser. Feiner warmer Regen rieselte unaufhaltsam auf sie herunter, als stünde sie in Kleidern unter der Dusche.

«Grotesk!», dachte Asahi, «einfach grotesk.»

Selbstverständlich ass sie keine Tiere. Aber was ass sie dann? Asahi, der ein gutes Steak nicht verschmähte, fragte sich das jetzt.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Saya gerne diskutiert, ungeduldig, hitzig. Später war sie ruhiger geworden. Oder hatte sie resigniert, ohne ihre Mission aufgeben zu können?

 

Ali Kumar, Basel, Schweiz

Ali Kumar trat aus dem Lift, gab den Code ins Kästchen links von der Tür ein. Sie öffnete sich geräuschlos und schloss sich sofort wieder hinter ihm.

Ali war allein. Mit seiner Arbeit. Mit sich.

Die Monitore wurden nie ausgeschaltet. Alles, was Ali Kumar zu tun hatte war, sich auf einen Stuhl zu setzten, einen der vielen im kreisrunden Büro, und Telefonanrufe zu beantworten, während ihn die Welt umschloss wie ein 3D-Kino.

Es war unmöglich, alle Anrufe zu beantworten.

«Das erwartet ja auch keiner, nicht einmal der Boss», sagte sich der Telefonist.

Auch wenn Ali Kumar Anrufer aus allen Erdteilen berücksichtige, blieben doch täglich hunderte in der Leitung hängen. Das System unterbrach unbeantwortete Anrufe erst nach neunzehn Signaltönen.

«Zurzeit sind alle unsere Mitarbeitenden besetzt. Wir bemühen uns …». Ali Kumars Ansage ab Band wurde ausgeblendet, Mozart eingeblendet. Mozart macht sich immer gut. Man kann sich nur wundern, wie lange Menschen bereit sind, Mozart zu hören, bevor sie aufgeben und die Verbindung unterbrechen. Es ist, als würde Mozart ihnen verbieten, das Hoffen aufzugeben.

Scotty Paul, Pitcairn, Südostpazifik

Der erste Gang an diesem Tag führte ihn hinunter in die Bucht. Scotty Paul liess die Haustür offenstehen, denn das konnte er sich leisten. Er war es, der hier den Ton angab, nicht unangefochten zwar, aber es gehörte sich nicht, die siebzig Einwohner der abgelegensten aller Inseln nicht im Griff zu haben.

Er liess die Bermuda-Shorts fallen, stellte sich, Zehen in der Luft, Fersen auf dem Beton, auf die Hafenmauer. Das Wasser plätscherte fünf Zentimeter unter seinen Füssen an die Mauer. So hoch hatte es nie gestanden und er fragte sich kurz, ob er beunruhigt sein sollte.

Sein Blick streifte über die Wasseroberfläche, suchte nach Fischen und Quallen.

Fisch mochte er nur frittiert. Auf Pitcairn wurde vieles frittiert gegessen. Und auf Quallen konnte er gut und gerne verzichten. Dann stiess er sich ab und tauchte prustend unter. Es war exakt sieben Uhr dreissig.

Am Horizont tanzten ein paar graue Punkte, vorüberhuschenden Fledermäusen gleich, und Scotty Paul blinzelte verärgert. In letzter Zeit machten ihm seine Augen Probleme.

Er schwamm das ganze Jahr über, und er untersagte sich die Frage, ob er es wollte. Es gab ein paar Dinge, die er grundsätzlich nicht diskutierte, weder mit den übrigen neunundsechzig Einwohnern von Pitcairn noch mit den in unregelmässigen Abständen auf der Insel einfallenden Kreuzfahrttouristen noch mit seiner Frau Pearl oder sich selbst. Pearl hatte ein paar Häuser weiter unten an der Strasse Quartier bezogen, weil sie sich auseinandergelebt hatten, wie sie nicht müde wurde zu erklären. Sie kam dennoch hin und wieder bei Scotty vorbei, um seinem Chaotenhaushalt auf die Sprünge zu helfen.

Morgen würde er joggen gehen, quer über die Insel, zwei Mal 1,8 Kilometer.

Er funktionierte, funktionierte nach einem strikten, selbstauferlegten Turnus von Pflichten und Sport. Pitcairn wurde mit jedem fertig, aber nicht jeder war einer tückischen Insel wie Pitcairn gewachsen. Wer hier zu viel nachdachte, starb einen frühen Verbitterungstod, davon war Paul überzeugt. Gegen kreisende Gedanken halfen sportliches Training, Auseinandersetzungen mit anderen Inselbewohnern, bei denen man richtig Dampf abliess, frühes Aufstehen und in seltenen Fällen ein Schluck Alkohol, den er der Besatzung von Versorgungsschiffen abschwatzte.

Jahraus, jahrein kreisten hier die Gedanken um dieselben Sorgen, dieselben Probleme, um knapp werdende Vorräte, wenn Versorgungsschiffe nicht anlanden konnten, um den deshalb ebenfalls ausbleibenden Nachschub an Videoserien, um sanitäre Anlagen, die öfter als nicht defekt waren, um wackelige Internetverbindung und um Streitereien, immer wieder um Streitereien.

Ein muskulöser Körper war beim Lösen von Problemen von Vorteil. Wer aussah, als liesse er sich nicht auf der Nase herumtanzen, dem wurde auch nicht auf der Nase herumgetanzt.

«Punkt!», rief Scotty den Wellen zu, bevor er zurück auf die Mauer kletterte, das Wasser aus den Ohren schüttelte, nach der Hose griff.

Ali Kumar, Basel, Schweiz

Er heftete seine Bewerbungen in einem lila Ordner ab, den er im Sperrmüll gefunden hatte. Und er nummerierte sie.

Es war seine tausendste Bewerbung, die schliesslich Erfolg hatte, denn Ali Kumar war bereit zu tun, was in diesen Zeiten keiner mehr zu tun bereit war: er nahm Telefonanrufe entgegen.

«Mein Name ist Ali Kumar – wie kann ich ihnen helfen?». Dieser Satz war Pflicht. Auf diesem Satz bestand der Arbeitgeber.

Aufgeregte Stimmen drangen an sein Ohr. Nach einigen Wochen Eingewöhnungszeit deutete Ali Kumar die Sprechgeschwindigkeit und die hohe Stimmlage der Anrufer als Verzweiflung.

«Rufen sie in zwei Stunden wieder an», sagte Ali Kumar mit freundlicher Unverbindlichkeit. «Wir haben gerade EDV-Probleme.»

Den Protest des Anrufers erstickte er, indem er rasch auflegte.

Waran Ramatullah, Pantai Bahagia, Indonesien

Als Waran Ramatullah sechzehn wurde, kaufte er sich ein Fahrrad.

Seinem Heimatort Pantai Bahagia hatte er den Rücken gekehrt, wenige Tage, nachdem er fünfzehn Jahre alt geworden war. Auch seine Mutter war gegangen. Zwei Jahre vor dem Jungen hatten sie den Ort und Warans Vater Dewi verlassen.

Sie war ohne Abschied gegangen, obwohl Dewi sie gerade in jenen Wochen, als das Wasser zum ersten Mal bis in die Behausungen stieg und nicht wieder sinken wollte, mehr denn je gebraucht hätte.

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