Loe raamatut: «Sein Horizont», lehekülg 3

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Kapitel 3

Jude wachte auf und wusste, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht. Die Aphrodite lag viel zu still im Wasser, nicht einmal ein sanftes Schaukeln war unter ihm zu hören. Es gab auch nicht das Knarren der Gäste über seinem Kopf, die an Deck die Aussicht genossen, bevor er ihr Frühstück servierte.

Scheiße.

Frühstück.

Er saß da und war erneut desorientiert, weil er nicht die gemütliche Enge seines Quartiers sah. Nein, dies war ein Zimmer, das seine Mutter früher als Gästezimmer vermietet hatte, unverändert bis auf die verblichene Tapete und das Waschbecken in der Ecke. Jetzt war es mit den Habseligkeiten seiner Schwester gefüllt; sein Seesack lag neben einem Stapel Pappkartons. Er warf einen Blick in einen, während er schnell ein paar Klamotten anzog, und ihm fielen einige der College-Lehrbücher auf, die in seinem alten Zimmer fehlten. Ein anderer Karton enthielt wahllosen Schnickschnack. Er kramte eine Tasse heraus, die Louise ihm zu einem vergangenen Geburtstag geschenkt hatte.

Der schlimmste Bruder der Welt.

Damit hatte sie nicht unrecht gehabt.

Er nahm sie mit, als er sich auf den Weg zur Treppe machte, und hielt auf dem Weg an, um noch einmal durch die Tür seines alten Zimmers zu schauen. Die Einrichtung war sicherlich ein Upgrade, eine stilvolle leere Leinwand im Vergleich zu dem, wie er es verlassen hatte, aber sein ganzes Leben in einer Schachtel zu finden, verunsicherte ihn immer noch. Mit der Tasse in der Hand ging er weiter den Flur entlang.

Die Traufe in Louises altem Schlafzimmer war schräg, die Wandbalken aus Eichenholz waren dort zu sehen, wo sie früher Fernschwimmrosetten aufgehängt hatte, die jetzt durch ihre Abwesenheit auffielen. Stattdessen hingen mehr neue Kunstwerke an den Wänden. Er bewunderte eines, das viel ruhigere Gewässer darstellte, dessen türkisgrüne Schattierungen auch außerhalb des Fensters dieses Raumes zu sehen waren. Das Ankermotiv wiederholte sich auch, wie er feststellte, auf den neuen Vorhängen, die die Aussicht einrahmten, und auf einer Frühstückskarte, die auf dem Nachttisch lag.

Er nahm es in die Hand, um den Preis für ein vollwertiges englisches Frühstück zu lesen. »Wie viel?« Mein Gott, das war das Vierfache von dem, was seine Mutter von den üblichen Touristen verlangte – Familien aus der Arbeiterklasse, die das ganze Jahr für eine Woche am Strandcampingplatz sparten. Es gab keinen Grund, ihnen die Welt zu berechnen, hatte seine Mom immer gesagt. Auf diese Weise würden sie für ihr Mittag- und Abendessen zurückkommen. »Achtzehn fünfzig«, murmelte er vor sich hin. Das zeigte, wie wenig Rob wusste, der Londoner Preise für eine viel bodenständigere Bevölkerungsschicht verlangte. Und was sollte diese ganze New-Anchor-Beschilderung? Okay, Jude war eine Weile weg gewesen, und er hatte viel um die Ohren, aber wenn Louise auch nur einmal erwähnt hätte, dass sie ihr Haus umbenannt hatten, hätte er sich daran erinnert. Der Gewinnrückgang konnte nicht durch so viel unnötiges Rebranding aufgefangen werden.

Er trat in den Flur, Speisekarte und Tasse in der Hand, und sah sich der Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern gegenüber.

Er wich lieber zurück, als sie zu öffnen. Da drin hätte sie bestimmt nichts angerührt. Nein, der Pub müsste kurz vor der Schließung stehen, bevor Louise die Karten, die diese Wände tapezierten, abnehmen oder ihre Besitztümer einpacken würde.

Unten öffnete und schloss sich eine Tür, eine Männerstimme rief nach seiner Schwester.

Rob.

Jude wandte dem Zimmer seiner Eltern den Rücken zu und folgte dem Geräusch der Antwort seiner Schwester. Er fand sie beide in der Küche, wo sie über einer Kiste mit Schalentieren brüteten, ein weiterer Grund, warum ihr Kontostand unter Druck stehen könnte. Er hielt in der Tür inne, um zu sehen, wie Rob einen Hummer aus der Kiste zog und so tat, als würde er Louise in die Nase beißen. Sie gaben ein hübsches Bild ab, seine Schwester lächelte und errötete, während Rob sie anstrahlte.

Gott, aber er sah gut aus.

So gut.

Bei Tageslicht war es noch offensichtlicher. Seine Augen waren so dunkel wie sein Haar, die Stoppeln zeichneten einen sexy Schatten auf sein Kinn. Rob strich Louise sanft eine Strähne hinter das Ohr, und Jude sprach lauter, als er beabsichtigt hatte. »Wie viel hat das alles gekostet?«

Louise erschrak über seine Stimme, Rob stellte sich zwischen sie und Jude, als wäre er eine Bedrohung und nicht ihr einziger Bruder. Louise trat erschrocken hinter ihm hervor. »Viel weniger, als du denkst«, sagte sie. »Nicht, dass es dich etwas angehen würde, aber Rob hat einen Deal mit Carl abgeschlossen. Er hat gesagt, er kocht spezielle Mahlzeiten, wann immer er will, wenn er uns für den Rest der Saison einen ausreichend großen Rabatt gibt.«

Das schien unwahrscheinlich. Carl war vielleicht wie ein Onkel für ihn und Lou, aber er war auch ein harter Verhandlungspartner. Bevor er die Chance hatte, das zu sagen, streckte Rob die Hand aus. »Schön, dich wiederzusehen, Jude.« Seine Lippen hoben sich nur leicht, als wäre es Jude nicht wert, ein ganzes Lächeln zu investieren. Sein Blickkontakt war direkt, wenn auch viel kühler als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. »Endlich«, fügte Rob hinzu, eine leise Zurechtweisung, die Jude nicht kommentarlos hinnehmen wollte.

»Ich habe Lou gesagt, dass ich für die Sommersaison zurückkomme. Also danke, dass du eingesprungen bist, aber jetzt bin ich hier und übernehme.« Er zog die Kiste mit den Muscheln über die neue Stahlarbeitsplatte zu sich herüber und hielt sie fest, als ob ihn das davon abhalten könnte, sich in einem Zuhause, das so gar nicht so war, wie er es in Erinnerung hatte, fremd zu fühlen.

»Solltest du nicht schon längst zurück sein?« Rob zuckte mit den Schultern, bevor er hinzufügte: »Scheint, als wäre ich seit Monaten der einzige Koch in dieser Küche.« Er zerrte die Kiste zurück auf seine Seite der Arbeitsplatte. »Du hattest Zeit, an deiner Bräune zu arbeiten, wie ich sehe.« Dann neigte er den Kopf in Richtung Türöffnung. »Wäre eine Schande, wenn sie verblasst. Wenn du dich beeilst, kommt vielleicht bald eine andere Jacht vorbei, auf der du dich verstecken kannst.«

»Du sagst mir ernsthaft, ich soll aus meiner eigenen Küche verschwinden?« Jude ahmte Robs Kopfneigung nach. »Um 12 Uhr fährt ein Bus nach Truro. Wenn du dich beeilst und packst, kannst du ihn noch erwischen. Von dort nimmst du den nächsten Zug nach London, dorthin, wo es einfacher ist, Narren ihr Geld abzuluchsen.« Es gab keine Entschuldigung für das, was er als Nächstes sagte; selbst wenn er so lange auf emotionaler Sparflamme gelaufen war, war das keine Rechtfertigung für offenkundige Unhöflichkeit. »Wenn du unbedingt ein eigenes Restaurant haben willst, lauf zurück zu deinem Daddy. Er würde dir eins von seinen geben, auch wenn du es nicht verdienst.«

»Jude!«, rief Louise erschrocken. »Auf ein Wort«, sagte sie und wartete an der Tür, bis Jude ihr folgte. Bei seinem letzten Blick über die Schulter sah er Robs breites Lächeln, als hätte er ihr Sparring genossen. Es war so irritierend.

Louise war wütend. Und das ließ sie ihn spüren, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war. »Was zum Teufel sollte das denn? Du warst so unhöflich zu Rob«, sagte sie, als hätte Jude einen Welpen getreten.

»Wir brauchen ihn nicht.« Jude merkte, dass er brüsk klang, aber es musste gesagt werden. »Nicht jetzt, wo ich wieder da bin.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir brauchen keine zwei Köche. Es gibt nichts, was er nicht kann, also warum ihn bezahlen, vor allem, wenn es stimmt, was du über die rückläufigen Einnahmen gesagt hast?« Er konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Kein Wunder, dass nicht genug Geld da ist.«

Er hatte nicht mit Louises spöttischem Schnauben gerechnet und auch nicht damit, dass sie sich umdrehen und in das kleine Büro schleichen würde, in dem ihre Mutter die Einnahmen zählte. Der Schreibtisch war an diesem Morgen leer, abgesehen von einem zugeklappten Laptop und einem Stapel Speisekarten, die auf cremigem, dickem Karton gedruckt waren. Der Schriftzug »New Anchor«, der auf deren Ecken gedruckt war, provozierte weitere Fragen von ihm. »Und was soll das ›New‹, das überall draufgepappt ist? Dieser Ort ist schon immer der Anchor gewesen. Es war der Anchor, lange bevor Mom und Dad ihn gekauft haben. Da ist nichts Neues dran, und jeder Einheimische wird es wissen.« Wenn sie sich so sehr um den Gewinn sorgte, was war dann mit den alten Pub-Speisekarten, die man hätte sauber wischen können? Diese Karten würden nicht einmal die Hälfte der Saison überstehen. Er öffnete den Mund, um das zu sagen. Jude sah das Gesicht seiner Schwester und zögerte.

Ihre Augen glitzerten, eine Träne lief ihr die Wange hinunter, bevor sie sie wegwischen konnte.

»Lou …«

»Tu das nicht.« Sie drehte sich um, um sich noch einmal über das Gesicht zu wischen, und drehte sich nicht mehr um, als sie sagte: »Tu das einfach nicht.« Ihr Atemzug war rau, das hörte und sah er an dem Zittern ihrer schmalen Schultern. »Du hast keine Ahnung von dem, was es braucht, um diesen Ort über Wasser zu halten.«

Das war nicht fair, oder? »Du hast gesagt, ich soll gehen, Lou. Und du hast gesagt, es macht dir nichts aus, wenn ich noch ein bisschen länger wegbleiben muss.« Im Ernst, sie war die Erste gewesen, die zugestimmt hatte, als er das erste Mal abgesagt hatte, nach Hause zu kommen. »Du hast nichts davon erwähnt, dass Geld in letzter Zeit ein Problem ist. Ich dachte, du hättest alles unter Kontrolle.«

Sie wirbelte herum und schrie: »Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.« Noch mehr Tränen flossen. Sie wischte sie weg, verärgert über sich selbst. »Ah. Ich hasse es, wenn ich so werde.«

»Dafür kannst du Mom danken.« Sie hatte auch schnell geweint, aber genauso schnell wieder weitergemacht.

Louise schlang ihre Arme um ihn. »Ich wollte nicht, dass du denkst, ich könnte das nicht schaffen. Den Pub am Laufen halten, meine ich«, sagte sie, ihre Stimme dumpf an seiner Brust. »Nicht nachdem ich versprochen hatte, auf den Anchor aufzupassen, während Dad und Mom auf Reisen gingen.« Sie zog sich zurück. »Aber die Dinge haben sich geändert, seit du weg bist.«

Die Bürotür knarrte. Rob hielt auf der Schwelle inne, als würde er auf Erlaubnis warten, ein Tablett in den Händen, auf dem drei Tassen und eine French Press standen. Diesmal war sein Lächeln anders, fast so, als hätte er Mitleid mit Jude. Sein Blick war warm, so wie Jude sich erinnerte, statt wie an jenem Morgen.

»Die Dinge haben sich zum Schlechten verändert«, beharrte Louise, als Rob das Tablett abstellte und Judes Schlimmster-Bruder-Tasse fast bis zum Rand füllte. »Aber Rob ist ein Teil der Lösung.«

* * *

Jude saß neben seiner Schwester, der Laptop fuhr hoch, als er seine Tasse in die Hand nahm. Ein Laut der Anerkennung über den ersten Schluck überkam ihm unwillkürlich.

Louise stupste sein Knie mit ihrem eigenen an. »Das ist guter Kaffee, nicht wahr?«

»Mmm.« Jude nippte erneut. Es war leicht so gut wie das Gebräu, das er an Bord der Aphrodite serviert hatte. »Das ist nicht Moms Üblicher.«

»Nö.« Robs Ton war neutral, auch wenn seine Augen funkelten. »Ich habe das Letzte davon benutzt, um die Abflüsse zu reinigen.«

Louise stöhnte, als wäre das ein alter Witz, den sie schon mehr als ein paarmal gemacht hatten. »So schlimm war er nicht.«

»Er war grauenhaft.« Rob nahm einen Schluck und schaute Jude an. »Und bei Weitem nicht gut genug für die Kunden, die wir jetzt anlocken müssen.«

Bevor Jude Robs Verwendung von »wir« bestreiten konnte, unterbrach Louise ihn. »Sieh mal.« Sie klickte auf das Trackpad ihres Laptops und öffnete eine Tabellenkalkulation. »Diese Seite zeigt den Umsatz der letzten fünf Jahre.« Der Rückgang war ein langsames Abrutschen, offensichtlich in Form eines Diagramms, aber sicher nicht verheerend.

Sie öffnete eine weitere Registerkarte.

Jude inhalierte fast seinen Kaffee.

Ein Diagramm zeigte, dass die Einnahmen des Pubs sanken, als ob ein Taifun sie verfolgte. »Wie konntest du …?« Jude presste die Lippen zusammen, aber Louise beendete einen weiteren gedankenlosen Satz, den er sofort bereute.

»Wie konnte ich es nur so schlimm werden lassen?« Ihre Augen glitzerten wieder. »Wie konnte ich ein Geschäft kaputtmachen, das jahrzehntelang gut lief?« Rob legte ihr eine Hand auf die Schultern und drückte sie, eine Handlung, die eigentlich Jude hätte machen sollen, anstatt ihr die Schuld zuzuschieben. Louise flüsterte: »Wie konnte es unter meiner Leitung nur Monate dauern, bis die Bank mit der Wiederinbesitznahme drohte?«

Jude fühlte sich schrecklich und versuchte, es wiedergutzumachen, in der Hoffnung, dass er nicht zu spät war. Er hielt ihre Hand. »Eher: Wie konntest du mich davonsegeln lassen, wo du doch so besorgt gewesen sein musst?«

Auf der anderen Seite seiner Schwester stieß Rob einen überraschten Laut der Zustimmung aus. Er wich zurück und bewegte seinen Arm von ihrer Schulter, damit Jude seine Schwester ganz trösten konnte. »Dachtest du wirklich, ich wäre nicht sofort nach Hause gekommen, wenn ich davon gewusst hätte?«

Sie drehte ihr feuchtes Gesicht gegen seinen Hals, ihre Wangen waren heiß und ihr Atem ging zitternd. »Ich … ich wollte nicht, dass du nach Hause kommst. Ich wollte, dass du weitersuchst.« Sie zog einen letzten Atemzug ein und sagte: »Außerdem habe ich einen Weg gefunden, das geradezubiegen.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie es so schnell so schlimm werden konnte.« Jude bemühte sich, seiner nächsten Frage auch nur den Hauch eines Vorwurfs zu nehmen. »Hat das denn niemand kommen sehen?«

Rob beugte sich vor, klickte einen Internetbrowser an und tippte ein paar Worte ein. Auf einer Nachrichten-Webseite lief eine Diashow über einen Sturm, der rauer war als jeder, den er an Bord der Aphrodite erlebt hatte. »Warte.« Jude schaute genauer hin. »Ist das hier …?« Himmel, das war es. Auf dem Laptop-Bildschirm peitschte eine hohe Welle aus weißem Schaum und Wut gegen die Kirchturmspitze am Ende des Hafens. Das nächste Bild zeigte ein Fischereifahrzeug, das wie eine riesige Wippe auf der Deichmauer kippte, im Hintergrund war der Pub zu sehen. Weitere Fotos zeigten die Art von Verwüstung, die Jude kürzlich viel näher am Äquator erlebt hatte, und die Schlagzeile auf der Webseite kündigte den schlimmsten Sturm an, der die Küste Cornwalls seit Generationen heimgesucht hatte. »Wann genau war das?«

»Ein paar Wochen nachdem du weg warst.«

»War der Pub komplett überschwemmt?« Das war der einzige Grund, den er sich für den starken Umsatzrückgang vorstellen konnte. »Hat der Sturm das Dach beschädigt?« Das würde auch die vielen Renovierungen im Obergeschoss erklären. »Kein Wunder, dass du das Geschäft geschlossen hast.«

»Nein, der Pub wurde nicht schwer beschädigt.« Das Erdgeschoss bestand aus Steinplatten, die Wände aus Naturstein, gebaut, um gelegentlichen Fluten zu trotzen. »Das Austrocknen hat nicht lange gedauert.«

»Warum sollten wir also ändern, wie wir das Geschäft führen?« Jude klickte zurück auf die Tabellenkalkulation. »Ja, die Wintereinnahmen waren miserabel, aber die Touristen werden jeden Moment kommen. Wenn wir allen, die auf dem Campingplatz am Strand übernachten, das Essen und Trinken hier zu teuer machen, werden die Zahlen auch nicht besser.«

»Ich denke«, sagte Louise, als sie den Laptop zuklappte, »der einzige Weg für dich zu verstehen, ist, es selbst zu sehen.«

Kapitel 4

Jude folgte seiner Schwester zur Eingangstür des Pubs und wurde von Rob aufgehalten, der eine Hand um seinen Ellbogen legte. Sein Griff war so entschlossen wie sein Tonfall. »Wir müssen reden.«

»Nicht jetzt.« Jude riss sich los und trat nach draußen, um seine Schwester am Hafen entlang joggen zu sehen. Er folgte ihr, als sie auf die Deichmauer hüpfte und dann auf der anderen Seite hinunterkletterte. Die Felsen dort waren glitschig, übersät mit Seegras, die violetten Kuppeln der Anemonen lugten hervor, während der Rest bis zur nächsten Flut versteckt war. Louise war flink, als sie durch flache Felspfützen platschte und auf den geschwungenen Vorsprung der nahen Landzunge zusteuerte. Als Kinder hatten sie hier so oft gespielt, und ihr Vater hatte ihnen all die schönen Dinge gezeigt, die normalerweise versteckt waren – Krabben, Seetang und Strandschnecken – eine Diät, von der er versprochen hatte, dass sich jeder davon ernähren könne. Jetzt planschte Jude durch dieselben Pfützen mit kühlem Wasser, die noch nicht von der Sonne erwärmt waren, wie sie es am Mittag sein würden.

Rob fluchte, und Jude schaute zurück.

Er wirkte hier nicht halb so sorglos wie bei Lou in der Küche oder so entspannt, wie er im Bootshaus geschlafen hatte. Robs Arme waren jetzt ausgestreckt, als würde er auf einem Drahtseil laufen, das Gesicht vor Konzentration angespannt. Er geriet ins Straucheln; das Seegras war glitschig unter seinen Füßen. Er war kurz davor zu fallen, bis Jude zurückwich, um ihn zu retten.

Jetzt war er an der Reihe, eine Hand auszustrecken. Robs ganzer Körper war starr, als er versuchte, nicht zu fallen. Irgendwie fiel es ihm leicht, ihn zu necken, trotz des vorangegangenen Streits, wie schon gegen Ende des Wettkampfs. »Was ist?«, fragte Jude. »Weißt du nicht, wie du dein Gleichgewicht halten kannst? Habe ich endlich etwas gefunden, das Daddy dir nicht kaufen konnte?«

»Fick dich, Fischgesicht«, trällerte Rob, eine weitere Erinnerung an ein vergangenes Leben, in dem es sich normal angefühlt hatte, sich gegenseitig zu ärgern. Es war etwas, auf das sich Jude freute. Es hatte begonnen, sich wie ein Vorspiel anzufühlen.

Jude hielt Rob fest, auch nachdem er sich beruhigt hatte, und ließ den Abstand zwischen ihnen und Louise wachsen. »Hör zu. Du hast ja recht. Wir müssen reden.«

Rob nickte. »Ja.« Die Brise zerzauste das Haar, durch das Jude erst einmal seine Hände hatte gleiten lassen, nachdem er es schon seit Ewigkeiten gewollt hatte. Er sah Rob zu, wie er genau das jetzt tat und es mit den Fingern zurückschob, während er hinzufügte: »Jude, du musst wissen, dass ich heute Morgen den Schock meines Lebens bekommen habe, als Lou sagte, du seist tatsächlich nach Hause kommen.« Sein Blick huschte zu Louise in der Ferne. »Ich wusste nicht, wie du darauf reagieren würdest, dass ich hier bin.« Er presste die Lippen zusammen, wie er es früher getan hatte, während er gegen die Uhr kochte, fokussiert auf eine Weise, wie er es bei seinem Vater offenbar nie schaffte. »Ich habe ihr nicht von uns erzählt.« Seine Augen trafen die von Jude nur einen Augenblick lang. »Was hätte ich denn tun sollen? Sagen: ›Ach, übrigens, es könnte ein bisschen unangenehm werden, weil ich mal mit deinem Bruder geknutscht habe, aber keine Sorge, er ist gegangen, bevor ich die Chance hatte, ihn zu ficken? Bleiben wir von nun an rein geschäftlich?‹« Rob riss sich los und begann, die Felsen zu überqueren. »Außerdem«, rief er über seine Schulter, »habe ich ziemlich schnell herausgefunden, dass sie nichts von dir weiß. Ich bin nicht hier, um dich zu outen.« Er klang entschlossen, aber er verlor fast wieder den Halt.

»Halt dich an mir fest«, befahl Jude, bevor er nachsah, wo Louise war. Sie hatte bereits die Landzunge erreicht, wo der Küstenweg zum Strand und zum Campingplatz führte. Dies war der perfekte Zeitpunkt, um zu sprechen, ohne dass sie ihn hörte, und vielleicht seine letzte Chance. »Sag mir, ganz ehrlich, was machst du hier?« Rob hatte eine so große Zukunft in London, die Restaurants seines Vaters waren ein Erbe, das niemand aufgeben würde, der halbwegs vernünftig war. »Ich verstehe das nicht. Was um alles in der Welt ist hier für dich?«

Robs Blick fiel auf seine Lippen.

Jude redete lieber weiter, als in einer Glut zu stochern, die durch die monatelange Abwesenheit nur schwer zu ersticken war. »Ich habe gehört, du hast gewonnen«, sagte er, um das Thema zu wechseln. »Den Wettbewerb, meine ich. Glückwunsch.«

»Das hättest du mir damals selbst sagen können.«

Jude schüttelte den Kopf. »Da war ich schon weg.« Er war gegangen, und zwar nicht, um monatelang an seiner Sonnenbräune zu arbeiten. Stattdessen war das der Beginn eines lebhaften Albtraums gewesen.

»Du hättest mich anrufen können«, sagte Rob trocken. »Oder auf eine der Nachrichten antworten können, die ich dir hinterlassen habe. Hast du es nicht gehört? Es gibt diese brandneue Sache namens E-Mail. Es gibt sie erst seit ein paar Jahrzehnten, aber manche Leute sagen, sie sei praktisch.« Er holte sein Handy heraus, die Schärfe in seinem Tonfall wurde kaum von Humor überdeckt. »Und alle coolen Kids benutzen heutzutage dieses Ding namens Social Media.« Kunstvolle Schnappschüsse von Essen füllten ein Raster auf dem Bildschirm. »Siehst du? Du machst ein Foto mit deinem Handy, und dann fügst du eine Nachricht hinzu.« Er schob das Handy in Richtung Jude, auf dem Bildschirm ein Foto von Louise, die die Augen verdreht und einen weißen Farbklecks auf der Nasenspitze hat. »In Kontakt zu bleiben ist so einfach, selbst jemand, der so beschäftigt ist wie du, könnte das schaffen. Ich habe gehört, dass es auf dem ganzen Planeten funktioniert.« Er hielt sein Handy eine Sekunde lang hoch und tippte dann ein paar Worte. Ein Foto von Judes Gesicht füllte nun den Bildschirm mit den Worten »Ich bin ein gedankenloser Arsch« als Bildunterschrift. Robs Stimme wurde leiser. »Ich sage nicht, dass ich Schwanzbilder von dir erwartet habe, aber es hätte mir nichts ausgemacht, zu wissen, dass du noch gesund und munter bist.«

Jude war überrascht, dass Rob so verletzt klang. »Es tut mir leid.«

»Nicht nötig.« Rob steckte sein Handy in die Tasche. »Wir hatten eine einmalige Sache. Nicht einmal das. Ein Kuss. Das ist doch nichts, oder? Es ist ja nicht so, als wären wir zusammen gewesen. Ich bin gut über dich hinweggekommen.«

Das war nicht das, was Louise gestern Abend gesagt hatte, es sei denn, sie hatte von jemand anderem gesprochen, mit dem Rob während des Wettbewerbs zu tun gehabt hatte, aber sicherlich hätte Rob seinen Mund nicht halten können, wenn er bereits einen Partner hatte? Irgendwie stach die Vorstellung davon wie Seewasser in einem kleinen Schnitt – scharf und unerwartet. Jude zwang sich, fortzufahren. »Du hast recht. Ich hätte einen Weg finden sollen, mit dir zu reden, aber …« Die Wörter zu finden, um es zu erklären, kostete ihn alles, was er hatte, und erschöpfte ihn, als er zugab: »Ich … ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie es war, die Nachricht zu bekommen, die wir bekommen haben. Es gab so viel zu regeln, und niemand hatte eine Antwort.«

»Ich hätte geholfen.« Der Wind wehte Robs nächste Worte fast weg, bevor Jude sie hörte. »Ich hätte es gewollt. Aber das war, bevor du mich ignoriert hast. Ich hab’s verstanden, auch wenn ich dachte, Ghosting sei nur etwas für Gelegenheitssex – für Beziehungen, die man bereut, und nicht für jemanden …« Rob schnaufte und ging dann los, wobei er an Tempo zulegte, als er die letzten tückischen Felspfützen hinter sich gelassen hatte.

Jude eilte hinter ihm her. »Rob …«

»Vergiss es«, beharrte Rob und kletterte die Landzunge hinauf. »Ich habe es schon vergessen.«

»Warum bist du dann noch hier?« Jude folgte ihm und nahm Robs ausgestreckte Hand nahe der Spitze.

»Deswegen«, sagte Rob, als er Jude die letzte steile Stufe hinaufzog. Dann stellte er sich neben Louise und beide beobachteten, wie Jude zum ersten Mal auf den Strand blickte.

Statt einer herrlichen Bucht sah er nur noch Verwüstung, kein einziges Sandkorn mehr.

Statt eines Campingplatzes hinter niedrigen Dünen durchfurchten Schluchten die Landschaft.

Vorbei war der Strand, der seit Generationen Jahr für Jahr Familien angezogen hatte – so vollständig ausgelöscht, als hätte er vielleicht nie existiert.

Wenn Jude bei vollem Tageslicht nach Hause gesegelt wäre, hätte er sein Fehlen bemerkt. Jetzt, vom Aussichtspunkt der Landzunge aus, sah es aus, als ob die Küste blutete, eisenrote Erde, die das Meerwasser blutig machte, als ob das Land verwundet wäre. Der Weg, der die Hauptstraße mit dem Campingplatz verband, war leer; keine Möglichkeit für Touristen, die Spalten an seinem Eingang zu überqueren. Selbst wenn sie es könnten, gab es keinen Platz mehr, um ihre Zelte aufzuschlagen, und keinen sicheren Weg für sie, um den Küstenpfad zu erreichen, der sie zum Anchor bringen würde.

»D-dieser Sturm …« Jude stotterte. »Der Sturm, den du mir gezeigt hast, online …«

»Ja«, sagte Louise schlicht. »Dieser Sturm hat hier alles verändert, über Nacht und ohne Vorwarnung, genau wie der Taifun, der …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. »Jude«, sagte sie, viel leiser. »Jude, es war der Sturm, der den Anchor kaputtgemacht hat, nicht ich.«

»Fast kaputt.« Robs Stimme trug die Art von Zuversicht, die eine ganze Küche zum Zuhören bringen konnte. Er klang in diesem Moment so sehr nach seinem Vater, dass Jude es fast gesagt hätte, bis Rob ihn direkt ansah. »Es gibt keine Möglichkeit, diesen Aspekt zu reparieren.« Er gestikulierte auf eine Szene der Verwüstung, deren Anblick Jude kaum ertragen konnte. »Es gibt keine Möglichkeit, die Natur zu besiegen oder den alten Kundenstamm des Anchor aus Low-Budget-Campern zurückzuzaubern.«

Er hatte recht. »Hier gibt es nichts mehr für sie.« Jude nahm die Hand seiner Schwester in die seine. Und das alles war passiert, kurz nachdem er gegangen war? »Warum hast du nicht …?« Er verschluckte sich an seinen Worten, als er sich vorstellte, wie Louise so kurz nach dem Verschwinden ihrer Eltern zum zweiten Mal in einer Katastrophe aufwachte, und dieses Mal war er nicht da gewesen, um ihr eine tröstende Schulter zu bieten. »Wie hast du das …?«

»Bewältigt?«, fragte Louise trostlos und weinerlich zum dritten Mal, seit er zurückgekommen war. »Habe ich nicht. Konnte es nicht. Nicht allein. Ich konnte das alles nicht schaffen.« Sie gestikulierte dorthin, wo sich der Strand einst gekrümmt hatte, der jetzt abgesperrt war wie ein Tatort. »Aber ich wusste, dass du es auch nicht konntest. Es hatte keinen Sinn, dich zurückzurufen. Ich hätte den Papierkram mit der Versicherung wegen der Sturmschäden am Pub genauso gut erledigen können wie du. Aber wenn es eine Versicherung gibt, die den Verlust unseres gesamten Gewerbes abdeckt, und das so lange, dann haben Mom und Dad nie eine abgeschlossen.«

»Und was hast du dann gemacht?«, fragte Jude, lauter, als der Wind auffrischte und tobte.

»Was ich gemacht habe?« Endlich strahlte Louise. »Ich habe genau das gemacht, was Dad uns immer beigebracht hat, wenn wir im tiefen Wasser in Schwierigkeiten geraten sind.« Sie ergriff Robs Hand, ihre eigene winzig klein in seiner. »Ich habe um Hilfe gerufen und dann versucht, mich so gut es geht über Wasser zu halten, bis Rob kam, um mich zu retten.«

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