Seelenfeuer

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Jetzt suchte sie nach dem Augenblick. Der winzigen Lücke in den mächtigen Speichen im Rad der Zeit, in welche sie mit Gottes Hilfe den Stab des Schicksals senken konnte. Nur einen Atemzug. Und noch einen. Die Minuten verrannen. Und da, endlich vermochten Luzias Finger das Kleine zu greifen und es schließlich im Bauch der Mutter zu drehen, wobei sie die Nabelschnur über den Kopf des Kindes gleiten ließ, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte.

Dann ging alles sehr schnell, und nach drei weiteren Wehen, die Selma zwar Schmerzen bereiteten, sie aber nicht in die tiefsten Abgründe rissen, gebar sie ihr Kind aus eigener Kraft. Luzia nahm das Kleine in Empfang.

»Da haben wir ja den neuen Erdenbürger!« Triumphierend hielt die Wehmutter das neugeborene Menschlein, das sich mit kräftiger Stimme über die kalte, ungewohnte Umgebung beklagte, in die Höhe. So konnte auch Selma einen ersten Blick auf ihr Kind werfen. Als sie sah, dass sie einen Jungen geboren hatte, fiel die Erleichterung noch um einiges größer aus. »Ein Bub, es ist ein Bub!«, rief sie erleichtert.

Selbst die alte Wachterin, deren schlohweißes Haar ihr mittlerweile in wilden Büscheln um den Kopf stand, schien mit dem Ausgang der Geburt sehr zufrieden. Mit einer Regung, welche einem Lächeln schon sehr nahe kam, segnete sie die junge Mutter und das Neugeborene, indem sie beiden ihre Hand auf die Stirn legte.

Mit sanften Berührungen umfingen Luzias Hände den rosigen, kleinen Körper und hoben ihn in sein erstes Bad. Zart strichen ihre Finger über die kleinen Augen, die noch geschlossen waren. Zufrieden entspannte sich das Neugeborene von seiner langen Reise.

»Du bist wunderschön«, flüsterte Luzia.

Der Knabe öffnete seine tiefblauen Augen und schaute sie an, als verstehe er jedes Wort.

Luzia wickelte das Kind in Leinen, ehe sie es Anselma in die Arme legte. Im Anschluss warf sie mit sicherer Hand trockenes Holunderholz in die glimmenden Kohlen des Wärmebeckens. Eine kleine Flamme entstob den rot glühenden Kohlen. Ganz offensichtlich betrachtete Perchta ihr Opfer mit Wohlwollen. »Weise Mutter, ich danke dir für dein unerschöpfliches Wissen. Nimm das heilige Holz des Holunders und behüte Mutter und Kind. Schütze sie vor allem, was ihnen Böses will.«

Inzwischen brachte die Altmutter den frischen Schilfgrassack. Traditionell wurden ihm die Kräuter des Frauenbündels beigemischt. In der Regel handelte es sich um Labkraut, Quendel, Leinkraut, Dost, Weidenröschen, Kamille, Gundelrebe, Frauenmantel und Johanniskraut, die von den Frauen zwischen Sommersonnwende und den Hundstagen gesammelt wurden. Auf diese Weise hielt die große Mutter durch ihre heiligen Schätze ihre schützende Hand über die Wöchnerin und ihr Neugeborenes. Die wertvollen Heilpflanzen bewahrten Mutter und Kind auch vor den Druden. Vor den unheimlichen Nachtmahren fürchtete sich jeder. Sie krochen durch Schlüssellöcher und Fensterritzen, um die ungeschützten Menschenseelen zu entführen oder gegen ein Feenkind auszutauschen.

Luzia setzte sich einen Augenblick und nippte an dem Dünnbier, das ihr die Altmutter servierte.

Heilige Stille erfüllte die kleine Kammer, einzig durchbrochen von den leisen Atemgeräuschen und dem zarten Schmatzen des Kindes, das im Arm seiner Mutter lag. Diesem Moment wohnte immer etwas Heiliges inne.

Der Anfang jeden Lebens gleicht einem Wunder, dachte Luzia. Um dieses Wunder zu ermöglichen, durchschreitet die Frau alle Tiefen der Unterwelt. Sie bezahlt mit ihrem Schmerz, einem Herzen voller Angst und ihrem Schweiß. Erst wenn sie dem Tod als Unterpfand ein kleines Stück ihrer Seele überlässt, darf sie die heilige Flamme des Lebens weiterreichen. So lautet der Handel. Das ist der Preis.

2

Luzia bückte sich nach den leuchtenden Ringelblumen, die neben vielen anderen Heilpflanzen, Gemüsen und Blumen in Elisabeths Garten wuchsen.

»Calendula officinalis«, sagte sie und lächelte. Pater Wendelin bestand darauf, dass sie auch die lateinischen Namen aller Heilpflanzen kannte. Sie pflückte eine Handvoll Blütenköpfe und schüttelte dabei vorsichtig die Regentropfen der letzten Nacht ab. Sie würde aus den Blüten eine Salbe bereiten und etwas davon dem Pater bringen. Er litt unter offenen Beingeschwüren.

Mit einem Korb voller Blüten betrat sie das kleine Fischerhaus von Jakob und Elisabeth. Die sanfte Kühle des dicken Gemäuers umfing sie angenehm und frisch. Wie die anderen Häuser in der Fischergasse war auch dieses aus weißen und in allen Grautönen schimmernden Flusssteinen errichtet. Das über die Jahre gedunkelte Fachwerk bildete einen lebhaften Kontrast zu den unbehauenen Steinen. Luzia ging in die Küche und legte die Blüten auf den Tisch. Sie öffnete die kleinen Fensterluken zur Seeseite hin und bemerkte Nepomuk, der ihr maunzend um die Röcke strich.

»Dann hat’s mit der Jagd wohl nicht geklappt? Na komm!« Sie stellte dem Kater ein Schüsselchen Milch hin und streichelte ihm über das Fell. Im Anschluss schüttelte sie die braunen Schaffelle aus, die auf den Bänken lagen, und rückte Holztisch und Sitzbänke zurecht. Im großen gemauerten Herd brannte schon ein Feuer für die Morgensuppe. Und bald kochte in dem verbeulten Eisenkessel ein dicker Dinkelbrei. Nur ihre Tante ließ noch auf sich warten. Sicher jätete sie noch das Unkraut unter den Essigrosen, denn noch war es nicht so unerträglich heiß, doch die Vorboten der Hitze waren schon jetzt spürbar. Nach dem Gewitter und den sintflutartigen Regengüssen der letzten Nacht würde es ein schwüler, drückender Tag werden. Dabei begannen die Hundstage erst in vier Wochen. Heute war schließlich erst der 21. Tag des Weidemonats im Jahre 1483. Heute war Sommersonnwende.

Luzia beeilte sich, denn sie hatte an diesem Tag noch viel zu tun. Sie machte einen kurzen Wochenbettbesuch in der Kreuzgasse und freute sich, dass die Wöchnerin wohlauf war. Dann sah sie bei der Schäferin vorbei, die ihr drittes Kind erwartete.

»Ein Kind zu Sonnwend. Das wäre schön«, sagte die junge Frau.

»Freu dich nicht zu früh!«, entgegnete Luzia lächelnd und hoffte, sie möge Recht behalten. Wie alle jungen Frauen und Männer wollte auch sie die kürzeste Nacht des Jahres feiern. »Ich glaube nicht, dass dein Kind schon heute kommt«, sagte sie, nachdem sie den Bauch abgetastet hatte. »Lass ihm nur noch ein wenig Zeit und ruh dich aus. Ich sehe morgen wieder nach dir.«

Sie ermahnte die beiden Töchter der Schäferin, gut auf ihre Mutter zu achten, dann machte sie sich auf den Weg den Hügel hinauf, der zusammen mit dem Wald und den Feldern Seefelden umschloss. Am Hang des Hügels fing sich die Sonne, hier wuchsen die besten Kräuter. Heilpflanzen, die zur Sommersonnwende gepflückt wurden, hatten besondere Kräfte. Jetzt musste gesammelt werden, was das Jahr über gebraucht wurde. Selbstverständlich waren die Kräuter für die Hebammentasche schon beisammen und zum Trocknen aufgehängt. Aber ihren eigenen Kräuterbuschen wollte Luzia unbedingt noch pflücken.

Sie lief den kleinen Berg hinauf und genoss den atemberaubenden Blick über das tiefblaue Wasser des Sees, der unter ihr lag. Vereinzelt tanzten ein paar Wellen auf der glatten Oberfläche. Im Osten erhoben sich riesige Berge. Viele von ihnen waren schneebedeckt. Auf den weißen Gipfeln der Eisriesen dauerte der Winter das ganze Jahr.

»Wie weit die Sicht von dort oben wohl sein mag?«, fragte sie Nepomuk, der sie wie immer begleitete. Doch der Kater beachtete sie nicht. Mit zuckendem Schwanz pirschte er sich an einen Kohlweißling heran. Er machte einen Satz auf das Insekt zu, verfehlte es aber und setzte dem davonfliegenden Tier in ausgelassenen Sprüngen nach. Luzia lachte still in sich hinein und bückte sich nach den ersten Johanniskräutern. Quendel und Kamille wuchsen hier im Überfluss. Den Beifuß, eines der wichtigsten Sonnwendkräuter, ließ sie stehen, er wuchs bei ihr zu Hause. Die Ringelblume ebenfalls. Nach Eisenkraut und Schafgarbe musste sie länger suchen.

Als ihr Arm nicht mehr Zweige fassen konnte, rief sie Nepomuk und machte sich auf den Heimweg.

Sie ging direkt in den Garten, weil sie dem heilbringenden Strauß noch eine große, gelbe Königskerze in die Mitte stellen wollte. Elisabeth stand neben der Kuhschelle und zupfte vorsichtig die blauen Blütenblätter ab.

»Luzia, da bist du ja«, rief Elisabeth und säuberte ihre mit Erde bedeckten Hände an der Schürze. »Pater Wendelin hat nach dir geschickt. Er klang sehr aufgeregt. Wie es scheint, haben ihm die Mönche des Klosters Reichenau ein paar neue Pflanzen geschickt und du sollst ihm beim Einsetzen helfen.«

»Dann wurde seine Geduld ja endlich belohnt«, entgegnete Luzia und legte die bunten Sonnwendkräuter auf die kleine Bank neben der Haustür. »Er wartet schon seit Tagen auf die Setzlinge, denn eigentlich ist die Pflanzzeit schon längst vorüber.«

Elisabeth lachte. »Wenn ich mich nicht täusche, bist auch du begierig auf die Schätze von der Reichenau«, neckte sie.

»Du weißt doch, wie gerne ich selbst einmal durch den Klostergarten des Walahfrid Strabo gehen würde.«

Elisabeth hoffte, dass Luzia einmal die Gelegenheit bekommen würde. Doch bei der Abtei handelte es sich nun einmal um ein reines Männerkonvent. Besucher waren zwar willkommen, ihnen gestattete der Abt auch die Messe zu besuchen und die Besucherräume zu betreten. Doch der Garten blieb ihnen verschlossen.

»Na dann geh schon und lass den Pater nicht mehr länger warten!«

Luzia nickte. »Sobald ich die Kräuter für die Sonnwendfeier versorgt habe.«

Elisabeth sah ihrer Nichte nach, als sie den bunten Strauß ins Haus trug. Sie dankte Gott für jeden Tag, den Luzia bei ihr und ihrem Mann wohnte. Luzia war ihr wie eine Tochter. Die einzige Tochter und ihr einziges Kind. Luzia war für Jakob und sie ein Geschenk des Himmels. Wenn sie an die Zeit seit jenem heißen Tag des Erntemonats vor sieben Jahren zurückdachte, konnte sie sich nur an Gutes erinnern. Anna, ihre engherzige Schwester, hatte die damals Dreizehnjährige von Ravensburg zu ihnen nach Seefelden gebracht. Als uneheliches Kind aus einer flüchtigen Nacht geboren, war Luzia ihrer Mutter vom ersten Tag an eher eine Last als eine Freude gewesen. Anna und Luzia waren wie Feuer und Wasser, daran hatte sich bis heute nichts geändert. Anna war froh, Luzia weit weg bei ihrer Schwester zu wissen. Wenn Elisabeth nur daran dachte, wie verdreckt und geschunden das Mädchen damals bei ihnen angekommen war. Doch in ihrem Hause war sie aufgeblüht. Wie eine Blume ihr Gesicht nach der Sonne dreht und gedeiht, so war Luzia in der Wärme und Fürsorge von Elisabeth und Jakobs Haus gediehen.

 

Schon als sie noch in Ravensburg gelebt hatte, war Elisabeth der kleinen Luzia nahe gewesen. Fremde hielten sie oft für Mutter und Tochter. Besaßen sie doch beide jenes rote, wilde Haar, welches sich nur mühsam bändigen ließ. Ebenso blickten beide aus wachen, fast veilchenblauen Augen immer eine Spur zu neugierig in die Welt. Selbst die weiblichen Formen schien Luzia sehr viel eher von ihrer Tante zu haben als von ihrer Mutter. Beide umgab eine sinnliche Aura der Warmherzigkeit und des Mitgefühls.

Als die Glocke von St. Martin zur Vesper läutete, rannte Luzia wie der Wind durch die Fischergasse zum Kirchplatz.

Sie betrat das kleine Pfarrhaus, und Pater Wendelin erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch.

»Luzia, wie schön, dass du so schnell kommen konntest«, sagte Wendelin freudig. »Nun lassen wir die Bücher erst einmal liegen und wenden uns Wichtigerem zu!«

Luzia nickte und folgte dem Pater durch die kleine Schreibstube.

»Hier habe ich Euch noch ein wenig von der Calendulasalbe mitgebracht«, sagte sie und stellte das irdene Gefäß neben die anderen Behältnisse in das Regal neben dem Vorratsschrank. Hier verwahrte der Pater neben Weißdornwein und Spitzwegerichsirup noch weitere Schätze, die seiner Gesundheit dienten. »Legt sie zur Nacht als Salbenverband um Eure Unterschenkel, dann fällt Euch das Gehen bald wieder leichter.«

Wendelin nickte anerkennend. »Genau so werde ich verfahren. Danke mein Kind. Gott schütze dich.«

Luzia machte einen Knicks und bedankte sich für den Segen.

»Möchtest du dich vielleicht setzen und einen Schluck Bier oder zur Feier des Tages einen Schoppen Wein mit mir trinken?«

Luzia lehnte sein Angebot ab, wusste sie doch, dass er nur höflich sein wollte. Später würde noch genügend Zeit bleiben, ein wenig beisammenzusitzen.

»Lasst uns lieber sehen, was Euch die Brüder geschickt haben. Ich merke doch, dass es Euch unter den Nägeln brennt und Ihr es kaum erwartet, bis die grüne Pracht sicher und wohl in der Erde sitzt.«

Wendelin nickte zustimmend und rollte die Ärmel seiner Soutane zurück. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. »Zielstrebig und wissbegierig wie immer! So gefällt es mir. Gott hat seine Freude an den Menschen, aber allen voran an jenen, die mit Freude bei der Arbeit sind.« Mit beiden Händen schob er die junge Frau in den kühlen Wirtschaftsraum, der in den großen, sorgfältig angelegten Garten führte.

Als der alte Pater im angrenzenden Schuppen verschwand und es hinter den verwitterten Brettern lautstark rumorte, rührte sich auch in Luzia die Neugierde.

Nach kurzer Zeit rief er sie zu sich. Gemeinsam schleppten sie die schwere Holzkiste in den Pfarrgarten. Als sie die erdverkrustete Kiste neben dem weitläufigen Beet abstellten, reichte sie ihnen bis zum Knie. Der Pater wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann lachte er still in sich hinein und genoss Luzias erwartungsvollen Blick. Mit wenigen Handgriffen öffnete Wendelin den Deckel und bald strömte ihnen ein wunderbarer Duft entgegen. Würzig, holzig und sehr aromatisch. Luzia erschnupperte schwere balsamische Nuancen sowie frische Anklänge von Zitrone.

»Und, was sagst du zu unseren Schätzen?«, wollte der Pater wissen, während er sich die grobe Gartenschürze umband, um sein dunkles Gewand zu schützen. »Abt Johann von Nordstetten und Bruder Markus haben sich wieder einmal überaus großzügig gezeigt. Weiß er doch um unsere große Freude über jede einzelne Pflanze, die noch nicht im Kirchgarten gedeiht. Du weißt ja, ich stehe in regem Austausch mit dem findigen Botanicus. Schon oft habe ich ihm von deinem Interesse an den Medizinalpflanzen berichtet.«

Luzias senkte den Blick und errötete leicht. »Oh, das solltet Ihr nicht! Mein Wissen ist viel zu gering. Jedenfalls lohnt es nicht, darüber zu sprechen.«

Wendelin schüttelte tadelnd den Kopf. »Deine Bescheidenheit ehrt dich, mein Kind, aber du hast mehr in deinem schönen Kopf als viele, die sich mit dem Beruf des Medicus schmücken. Selbst vor jenen, die für die Heilkunst ein Studium auf sich nahmen, brauchst du dich nicht zu verstecken!«

Um die Peinlichkeit des Lobes nicht länger ertragen zu müssen, wechselte sie rasch das Thema. »Wollen wir uns nicht endlich Euren Pflanzen zuwenden? Mit dem Duft allein ist es ja nicht getan.«

Das Ablenkungsmanöver schien gelungen, denn der Pater nickte eifrig.

Gemeinsam wanderte ihr Blick in die dunkle Truhe. Bruder Markus, der Botanicus, hatte für den Transport alle Blätter entfernt und jedes der kleinen Gewächse sorgfältig zurückgeschnitten. Zusätzlich hatte er die kleinen Wurzelballen mit einer Handvoll Erde in einen Streifen Sackleinen geschlagen. Hier reichte Liebhaberei allein nicht aus. Nur das geschulte Auge erkannte, um welche Pflanzen es sich handelte.

»Jetzt bringe ich dir noch eine Abschrift unseres lieben Walahfrid, und du kannst die Pflänzchen an den richtigen Stellen im Garten einpflanzen.«

Luzia und Pater Wendelin hatten den Pfarrgarten gemäß den Empfehlungen angelegt, die Walahfrid Strabo, der frühere Abt des Klosters Reichenau, in seinem bereits im Jahre 827 verfassten Liber de cultura hortorum, auch bekannt als Hortulus, vorgegeben hatte. Die Schrift, wonach eine kluge und wohldurchdachte Nachbarschaft der Medizinalpflanzen ihr gegenseitiges Wachstum förderte, war in Versform verfasst und sorgfältig aufgezeichnet. Weil sie den Hortulus schon oft gemeinsam gelesen hatten, schenkten sie den ersten drei Abschnitten heute keine weitere Beachtung, sondern begannen gleich mit den Zeilen, die Strabo dem Salbei gewidmet hatte.

Später kniete Luzia dann auf dem weichen Sandboden und wartete mit ausgestreckter Hand darauf, dass der Pater ihr den ersten Setzling reichte.

Pater Wendelin hob einen Wurzelballen aus der geheimnisvollen Kiste.

»Marrubium vulgare?« Gespannt wartete er auf Luzias Antwort. »Der gemeine Andorn. Er gehört zur Familie der Labiaten, also ein Lippenblütler. Sein Duft ist bitter und ein wenig krautig. Schon die heilige Hildegard empfahl den Andorn mit Fenchel und Königskerze bei Husten und Brusthitze.«

Der Pater nickte zufrieden. »Der Name Marrubium kommt ursprünglich aus dem Hebräischen. Wobei ›Mar‹ bitter bedeutet und ›Rob‹ viel heißt.«

»In dem Fall wurde beides in gleicher Weise ins Lateinische übernommen«, bemerkte Luzia und blies sich eine freche Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht. Sie setzte den feuchten Ballen mit dem fleischigen Stängel vorsichtig in die gelockerte Erde.

»Nepeta cataria?«, fragte der Pater gespannt.

»Die echte Katzenminze. Ihr Duft ist minzig-frisch. Katzen lieben den Geruch der blühenden Pflanze.«

»Sehr gut!«

Auch diesen Setzling legte Luzia in die feuchte Erde.

»Artemisia absinthum?«, wollte Pater Wendelin wissen.

»Der gemeine Wermut. Ebenfalls eine Beifußart. Er wird auch als bitterer Beifuß bezeichnet.«

Pater Wendelins Augen verrieten, wie außerordentlich stolz er auf Luzia war. Dabei merkte sie, wie ihr schon wieder die Wärme in die Wangen stieg. Nachdem auch dieser Setzling mit Erde bedeckt war, reichte der Pater ihr den Nächsten.

»Hier haben wir etwas Lieblicheres. Artemisia abrotanum?«

»Die Eberraute. Ebenfalls eine Beifußart. Ihr Duft ist leicht und frisch. Sie wird in der Volkssprache auch Pfarrerkraut genannt«, entgegnete Luzia und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Während der nächsten halben Stunde gruben sie Löcher, setzten die restlichen Pflanzen ein und drückten die Erde vorsichtig an. Dann betrachteten sie die getane Arbeit. Als Luzia die Kräuter gießen wollte, meinte der Pater:

»Du musst dir keine Sorgen machen, das Wässern werde ich übernehmen! Ich weiß doch, dass du heute Abend wie alle jungen Frauen und Männer zum Johannisfeuer möchtest.«

Luzia nickte zögernd.

An diesem Tag feierten die Menschen das Fest des längsten Tages und der kürzesten Nacht mit dem Sonnwendfeuer. Die katholische Kirche sah das nicht gern und beging stattdessen das Fest des Johannes. Der Pater würde am kommenden Sonntag ausführlich über Johannes predigen. Aber heute würde es keine Andacht geben. Pater Wendelin galt als gemäßigter Gottesmann. Er las die Messe höchstens einmal am Tag, doch mit dieser Haltung machte er sich nicht nur Freunde. Anderen, die dachten wie er, war es schlecht ergangen. Im nahen Elsass war einem Geistlichen, der angeblich dem Bösen verfallen war, vorgeworfen worden, einen Pakt mit dem Teufel zu unterhalten. Der Papst hatte seine Enthauptung veranlasst. Papst Sixtus beklagte sich, weil immer mehr Menschen vom rechten Glauben abfielen, und warf ihnen vor, sich dem Bösen zuzuwenden.

Pater Wendelin hielt von all diesem verrückten Treiben überhaupt nichts. Wenn sich seine Schäfchen bereitwillig zur heiligen Messe einfanden, ihre Sünden angemessen bereuten und in Frieden miteinander lebten, ließ er die Mitglieder seiner kleinen Gemeinde zufrieden. Dafür liebten die Menschen den gutmütigen Mann. Aber Wendelin war klug genug, um die Gefahren zu sehen, die sein nachsichtiger Umgang mit den alten Mythen mit sich bringen konnte. Er wäre nicht der erste Gottesmann, den die Kirche mit Exkommunikation oder Schlimmerem bedrohte. Wendelin schüttelte ein wenig unwillig den Kopf. An diesem Abend wollte er sich über seinen Garten freuen und sich keine Sorgen machen.

»Ich werde heute früh zu Bett gehen«, sagte er zu Luzia. »Aber vorher lass uns ein Glas Wein auf die getane Arbeit trinken.«

Bei einem Glas Elbling plauderten sie über die Klosterinsel Reichenau.

»Bruder Markus würde dich von Herzen gerne kennenlernen. Möchtest du mich nicht einmal in den fast schon legendären Klostergarten begleiten? Es wäre mir eine Ehre«, versicherte Wendelin mit einem Lächeln.

Luzia fehlten die Worte. Helle Freude wirbelte durch ihren Kopf.

»Pater Wendelin, damit würdet Ihr mir einen meiner innigsten Wünsche erfüllen! Einmal den wunderschönen Kräutergarten Walahfrid Strabos betreten und ausgiebig studieren zu dürfen! Diesen Wunsch hege ich schon, seitdem mein Onkel Basilius mir zum ersten Mal davon erzählt hat!«

Wendelin wusste, dass Luzias Liebe zu den Heilpflanzen durch die Weitsicht ihres Onkels Basilius geweckt worden war, der die Apotheke in Ravensburg betrieb. Schon früh hatte Basilius den außerordentlich wachen Geist der kleinen Luzia erkannt. Er war es auch gewesen, der das Schulgeld für sie bezahlt hatte, obwohl ihre Mutter den Besuch einer Schule für bloße Zeitverschwendung gehalten hatte.

Und damit hatte das Drama angefangen, das erst mit Luzias Übersiedelung nach Seefelden ein Ende gefunden hatte. Eusebius Grumper, der hartherzige Schulmeister, der zu allem Überfluss auch noch ein Mann der Kirche war, hatte für Luzias wissbegieriges Wesen nicht sonderlich viel übrig gehabt. Ihr rotes Haar hatte er mehr als alles andere gehasst. Vom ersten Tag an hatte er sie spüren lassen, dass sie in seinen Augen eine »Rote« war, ein Kind der Wollust. Während der unreinen Tage ihrer Mütter gezeugt, umgaben die Roten etwas zutiefst Sündiges. Nachdem Luzia es zum ersten Mal gewagt hatte, dem Schulmeister vor den anderen Kindern zu widersprechen – es war dabei um den Namen einer Pflanze gegangen und Luzia hatte recht behalten –, hatte Kaplan Grumper keine Gelegenheit ausgelassen, Luzia zu bestrafen. Er demütigte und quälte sie bei jeder Gelegenheit. Manchmal steigerte sich seine Wut ins Unermessliche, weil Luzia nach wie vor unbeirrt zu ihm in den Unterricht kam. Die Unerbittlichkeit des Mädchens war für den Kaplan ein weiterer Beweis für ihre Gefährlichkeit. Ihr rotes Haar, die ungewöhnlich dunkelblauen Augen und der messerscharfe Verstand – sie alle waren seiner Einschätzung nach augenfällige Hinweise für ihre Andersartigkeit. Stolz und aufrecht trug sie ihr unbedecktes Haar durch die Gassen der Stadt. Daneben fehlte ihr die nötige Demut, was sie zu einer Feindin des wahren Glaubens machte.

 

»Mädchen wie du gehören hinter dicke Klostermauern, wo sie ihren Mitmenschen keinen Schaden zufügen können, oder besser noch gleich auf den Scheiterhaufen«, brüllte er sie an. Um sie auf den rechten Weg zu bringen, verlangte er von ihr, jeden Sonntag nach der Messe zu ihm zu kommen. Dort zwang er sie, stundenlang auf einem scharfkantigen Holzscheit kniend das Paternoster zu beten. Als die ersten Zeichen ihrer erblühenden Weiblichkeit erkennbar wurden, ging der Schulmeister dazu über, Luzia, während sie auf dem Boden kniete, mit einer Rute zu züchtigen. Dabei hatte er es besonders auf Luzias nacktes Gesäß und ihren entblößten Rücken abgesehen.

Die Vorstellung, wie sich der Kaplan beim Anblick von Luzias knospenden Brüsten ergötzt haben mochte, verursachte Wendelin heute noch Übelkeit. Der Pater hatte oft nach dem Grund für Luzias Beharrlichkeit gesucht. Nach der Quelle, die ihr die Kraft verliehen hatte, diese Jahre zu überleben. »Ich kann es Euch nicht sagen, aber meine Neugier siegte tagtäglich über die furchtbare Angst«, hatte ihm Luzia zur Antwort gegeben. Sie konnte nur von einer höheren Macht gekommen sein, dessen war sich Wendelin sicher. Selbst heute erinnerte sich der Geistliche noch beinahe an jedes ihrer Worte. Nach und nach hatte ihm das Mädchen die ganze Geschichte anvertraut. Einiges davon unter dem Geheimnis der Beichte. Manchmal waren ihre Geständnisse furchtbar gewesen. So schrecklich, dass auch ihm die Tränen gekommen waren.

»Ich würde Euch wirklich furchtbar gern begleiten«, antwortete Luzia, bevor sie einen Schluck aus ihrem Becher nahm.

Ihre Worte rissen den Pater aus seinen Erinnerungen. Er atmete tief durch und rieb sich das Gesicht, um die Erinnerungen hinter sich zu lassen. Ein Blick auf Luzia zeigte ihm, dass auch sie an ihre Kindheit in Ravensburg gedacht hatte. Er nickte ihr aufmunternd zu.

»Auf dein Wohl«, sagte er und hob seinen Becher.

»Also ist es beschlossene Sache?«, fragte Luzia nach.

»Bruder Markus wird dich ins Herz schließen und auch du wirst ihn mögen«, versicherte Wendelin und leerte seinen Becher.

»Ich hoffe, das Kind der jungen Schäferin geduldet sich wirklich noch bis morgen. Ich möchte doch so gerne mit den anderen zum Sonnwendfeuer.«

Elisabeth nickte und legte den gewaltigen Hecht zur Seite, den sie gerade schuppte. »Natürlich gehst du hin. Wenn die Schäferin dich braucht, kann man dich benachrichtigen.« Sie seufzte tief. »Die Jugend vergeht viel zu schnell, also nutze jede Gelegenheit zum Tanz.«

Die letzten Worte kamen Elisabeth fast ein wenig traurig über die Lippen. Immerhin hatte die weise Wehmutter bereits die Vierzig überschritten. Doch sie war immer noch eine anziehende Frau. Als Jakob zu ihnen in die Küche kam, lehnte sich Elisabeth bei ihm an.

»Wollen wir auch zum Sonnwendtanz gehen?«, neckte sie ihn.

»Wenn du möchtest, begleite ich dich auch zum Sonnwendfeuer.« Jakobs Worte wurden von einem Augenzwinkern begleitet. Sein ehemals dunkles Haar glänzte mittlerweile eher silbern. Was ihn für seine Elisabeth weitaus wertvoller machte. Silber war nun einmal von höherem Wert als Ebenholz, pflegte er zu sagen. Sein Humor und sein einnehmendes Wesen machten Jakob zu einem gerngesehenen Mann in Seefelden.

»Und du gehst mit Matthias?«, wandte Jakob sich an Luzia.

Luzia hörte die hoffnungsvolle Erwartung in seiner Stimme. Sie wusste, er sähe es gern, wenn sie sich bald entschließen könnte zu heiraten.

»Du weißt, wenn du heute Nacht mit einem Burschen übers Feuer springst, bringt das lebenslanges Glück.«

»Natürlich weiß ich das, und Matthias gibt sicher einen guten Ehemann ab, aber ich bin doch noch viel zu jung zum Heiraten«, versuchte Luzia das leidige Thema zu beenden und begann das Gemüse zu putzen, das in einem Korb auf dem Tisch stand. Sie hoffte, ihr geschäftiges Tun würde ihren Onkel davon abhalten, ihr zum hundertsten Male seine Sicht der Dinge anzutragen. Himmel, wie Luzia diesen Vortrag hasste!

»Zu jung bist du sicher nicht, allenfalls zu störrisch! Dabei solltest du dich freuen, einen wie Matthias zu haben.« Großer Gott, wenn er doch nur schweigen würde, dachte Luzia, während sie den Kohlkopf auf den Tisch warf und in die kleine Vorratskammer neben der Küche stürmte.

»Jakob«, mischte sich Elisabeth mahnend ein, während sie den verbeulten Kessel auf den Haken über dem Feuer hängte.

»Ja, ja, ich meine es ja nur gut«, brummte Jakob.

Diese Unterhaltung hatten sie schon oft geführt. Jakob ärgerte sich über Luzias Starrsinn. Die wenigsten Mädchen wurden gefragt, wen sie heiraten wollten.

Obwohl Luzia in der Vorratskammer rumorte und mehr Lärm erzeugte, als nötig gewesen wäre, redete Jakob unbeirrt weiter: »Im Gegensatz zu manch anderem würde Matthias dich auf Händen tragen. Einen besseren wirst du nicht finden.«

»Ich weiß ja, dass du recht hast«, lenkte Luzia ein, während sie die Tür zur Kammer wieder schloss. Sie wusste, dass Jakob sonst keine Ruhe geben würde. »Aber einen Grobian würde ich ohnehin nicht nehmen. Und sicher auch keinen Dummen. Zudem habe ich noch so viel zu lernen, frag Pater Wendelin, wenn du mir nicht glaubst! Wie gerne würde ich einmal den Kanon der Medizin von Avicenna lesen. Oder die Physica sowie die Causae et curae, welche beide von der großartigen Hildegard von Bingen verfasst wurden«, schwärmte Luzia, während ihre Hände den Kohlkopf zerteilten.

Jakob nickte. »Ich weiß, und ich wünsche es dir auch von ganzem Herzen, dass du Gelegenheit zum Studium dieser Bücher bekommst. Aber ich kann dir versichern, Matthias würde dir keinen Stein in den Weg legen.«

»Wahrscheinlich nicht, aber Matthias ist eben fast wie ein großer Bruder für mich. Ich mag ihn – aber heiraten könnte ich ihn nicht«, entgegnete Luzia beharrlich. »Außerdem ist er einfach ein Kindskopf.«

Elisabeth knuffte Jakob in die Seite. »Jetzt lass es gut sein! Wir wissen doch, wie Luzia über eine Heirat denkt, oder etwa nicht?«

Jakob gab sich geschlagen und nickte. Der Gedanke, seine starrköpfige Nichte könnte einmal einen Mann heiraten, der sie schlug oder ihr gar noch Schlimmeres antat, erfüllte Jakob mit Grauen. Natürlich gab er Luzia recht: Matthias hatte immer irgendwelche Grillen im Kopf, aber bei ihm hätte sie es gut. Und seine Nichte war auch nicht ohne. Im Gegensatz zu ihr war ein Esel geradezu einsichtig. Und was war eigentlich so falsch daran, dass er ihr einen geeigneten Mann wünschte? Einen, der bereit sein würde, ihre stürmische Natur allenfalls ein wenig zu bändigen. Und es war doch wichtig, dass sie heiratete. Eine unverheiratete Frau besaß keinerlei Rechte und war völlig schutzlos. Sie durfte nichts kaufen, was über Lebensmittel oder Haushaltswaren hinausging, noch etwas anderes verkaufen. Was sollte denn aus Luzia werden, wenn er und Elisabeth eines Tages nicht mehr sein würden?

Der Duft der Sommernacht war überwältigend. Süß und fruchtig brachte er die Kunde schwerer, reifer Sommerfrüchte. Jetzt bot die Natur alles im Überfluss und die Menschen schwelgten in dieser Fülle. Sie feierten den Sommer und mit ihm das Licht, das schon bald wieder sterben würde.

Ein sanfter Wind streifte Luzias warme Haut. Nepomuk strich um ihre Röcke und tat seine Ungeduld mit einem lauten Maunzen kund.

Mit wiegenden Schritten verließ Luzia die schmale Fischergasse und bog landeinwärts in die Schilfgasse ein. Hier standen die Häuser dicht an dicht. Am Ende der schmalen Gasse wohnte ihre Freundin Magdalena.