Tödliche Offenbarung

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Tödliche Offenbarung
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Informationen zum Buch

Ein Polit-Krimi über das Massaker von Celle

Informationen zur Autorin

Cornelia Kuhnert, Jahrgang 1956, hat in Hannover studiert und viele Jahre in Burgdorf als Lehrerin gearbeitet. Mittlerweile wohnt sie in Isernhagen. Seit 2005 veröffentlicht sie Kriminalgeschichten und Kriminalromane. Bei zu Klampen veröffentlichte sie zuletzt in der Anthologie »Der Ring der Niedersachsen« (2010).

Cornelia Kuhnert

Tödliche Offenbarung

Kriminalroman


zuKlampen!

Impressum

©2011 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Herausgegeben von Susanne Mischke

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, München

www.hildendesign.de

Umschlagmotiv: © HildenDesign, tilla eulenspiegel / photocase.com

Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-128-7

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

|5|Prolog

»… bislang war das ja mehr ein Spaß, wenn es auch manch einem nicht so vorkam, dem wir das Luftholen abgewöhnten; jetzt aber hört sich die Gemütlichkeit auf. Wehrwölfe waren wir; jetzt müssen wir Beißwölfe werden. Der Wulfsbauer denkt genauso, Drewes. Wer heute nicht zubeißt, der wird gebissen.«

Hermann Löns, Der Wehrwolf, S. 122

|7|Freitag, 22:27 Uhr

Gespenstische Stille liegt über dem Staatsforst Lohne, nur von der Schneise, die die Autobahn durch den Wald schlägt, steigt der monotone Singsang der Reifen hoch. Die Rehe haben sich längst daran gewöhnt. Unbeeindruckt stehen sie am Wegesrand und äsen. Plötzlich hebt ein Rehbock sein Haupt. Jede Faser seines Körpers spürt die sich nähernde Bedrohung. Ohne zu zögern, flüchtet das Tier mit hohen Sprüngen ins Dickicht hinter dem Schlagbaum. Noch bevor das Motorrad die Stelle erreicht, wo der Bock gestanden hat, ist auch von den anderen Rehen nichts mehr zu sehen.

Henry Broderich hat es nicht eilig. Mit geringer Geschwindigkeit tuckert er über das holperige Kopfsteinpflaster des Alten Postwegs, das speckig im Licht des Vollmondes glänzt. Vor der Wegkreuzung zum Golfclub Isernhagen wird er noch langsamer und hält schließlich. Broderich steigt ab und sieht sich nach allen Seiten um. Es ist niemand zu sehen. Ein zufriedenes Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. Heute ist sein Tag – das hat er schon beim Aufwachen gewusst.

Das ins fahle Mondlicht getauchte Mausoleum aus der Gründerzeit steht zurückgesetzt auf der anderen Straßenseite, die floralen Verzierungen der Vorderfront schimmern hell im nachtschwarzen Wald. Broderich mag den steinernen Fremdkörper. Vielleicht, weil es mit seinem abgerundeten |8|Kupferdach genauso wenig hierher passt wie er in das Leben, das er führt. Bisher geführt hat.

Entschlossen überquert er den Vorplatz der Grabstätte. Erst auf der Rückseite des Mausoleums bleibt er stehen. Er lauscht. Alles ist ruhig, nur ab und zu hört man den Schrei eines Käuzchens. Broderichs Blick streift die quadratischen Sandsteine, die im unteren Teil zu einem Bogen geformt sind. Er beugt sich vor und tastet sie mit den Fingerspitzen ab. Sie sind glatt, nur einer hat eine Aufrauung. Als er den losen Stein aus dem Mauerwerk zieht, tritt ein Schatten hinter der dickstämmigen Eiche hervor.

|9|I.
Samstag

»Unser lieber Herr Herzog, den Gott erhalten möge, hat uns wissen lassen, wir sollen zusehen, daß wir uns wehren sollen, wie wir irgend können, und alle Hundsfötter, die hier nicht hergehören, totschießen wie tolle Hunde.«

Der Wehrwolf, S. 49

|11|1

Samstagmorgen gegen acht wacht die Eilenriede auf. Die Menschen strömen in Sportschuhen und Trainingshosen auf Hannovers Stadtwald zu, stehen unruhig dribbelnd am Straßenrand und warten darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün schaltet und sie losspurten können. Einer von ihnen ist Hauptkommissar Max Beckmann. Gestern Morgen hatte er lange suchen müssen, bis er seine Laufschuhe schließlich in einer der Umzugskisten fand, die er bei der letzten Versetzung erst gar nicht ausgepackt hatte. Zerdrückt und vergessen lagen sie ganz unten im Karton. Beckmann zog sie dort erst heraus und dann an. Er kam nicht weit. Zwei Etagen tiefer begannen die Schaumsohlen auf der Treppe zu bröseln, im Hauseingang lösten sich bereits Teile der Sohle vom Schuh. Statt zu joggen, machte sich Beckmann vorm Dienst noch in ein nahe gelegenes Sportgeschäft auf.

»Supernova Cushion«, raunte ihm der Verkäufer zu. »Super Dämpfung, perfekt für längere Asphaltläufe und hohes Lauftempo. Kann ich nur empfehlen, es sei denn, Sie haben Platt- oder Senkfüße.«

Die hat er nicht – und längere Läufe und höheres Tempo strebt er an. Also bewegt sich Beckmann jetzt im Pulk der Jogger, erhöht sein Schritttempo in Höhe der Hohenzollernstraße und steuert auf den Lister Turm zu. Kurz davor geht ihm die Luft aus, schnaufend lehnt er sich an einen Baum. Seine Lunge sticht. Ob das wirklich gesund ist? Er beugt |12|sich vor, atmet ein und aus, sein Pulsschlag beruhigt sich nur langsam. Mit gleichmäßigen Schritten geht er den breiten Asphaltweg zurück, dann beschleunigt er erneut sein Tempo. Die nächsten hundert Meter hat er schnaufend hinter sich gebracht, als eine Gruppe von Joggern in bunter Kleidung auf ihn zurollt. Wer ausweicht, hat verloren. Beckmann gibt trotzdem nach und macht einen Schritt zur Seite. Der Jogger im pinkfarbenen Nylon auch, doch von hinten prescht ein Inlinefahrer heran und schlägt einen Haken. Ein spitzer Ellenbogen rammt Beckmann, er strauchelt und reibt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Rippen. Wie hat er bloß glauben können, dass er der Einzige sei, der mit einer Joggingrunde in diesen strahlenden Sommertag startet? Noch dazu, wo es tagsüber so heiß werden soll, dass man am liebsten in der kühlen Wohnung bleiben würde – wenn man denn eine hätte.

Beckmanns neues Zuhause ist ein in den siebziger Jahren ausgebauter Wäscheboden in der Wedekindstraße. Dass die Wärmedämmung eines Daches nicht nur im Winter von Nutzen ist, daran hatte beim Ausbau niemand gedacht; er selbst bei der Besichtigung der Wohnung auch nicht. Die redegewandte Maklerin überzeugte ihn schnell von den unübersehbaren Vorteilen: »Ein so großzügiges Loft mitten in der List müssen Sie mit der Lupe suchen.«

Loft? Na ja. Die Wände zwischen den Zimmern und zur Küche fehlen, einzig das Badezimmer ist mit einer dünnen Sperrholzwand abgetrennt, durch die man alle Geräusche hört, sogar die, die man am Küchentisch nicht hören möchte. Vor sechs Wochen hatte ihn das nicht weiter gestört, da wollte er nur noch weg aus Burgdorf, dieser Kleinstadt, wo |13|jeder jeden kennt und ihm die Luft zum Atmen fehlte. Nein, das stimmt nicht. Er fängt schon wieder an, sich etwas vorzumachen, die Dinge so zu verdrehen, wie sie ihm passen. Eigentlich hatte Beckmann sich zum Schluss ganz wohl dort gefühlt. Mit seinen Kollegen Borgfeld und Streuwald war er bestens klargekommen – und auch sonst: der Biergarten auf dem Spittaplatz, die Abende mit Martha im Dorfkrug. Martha. Genau das war der Haken.

Sofort sieht er sie vor sich: Dunkle, halblange Haare, volle, geschwungene Lippen, grüne Augen, ihr Grübchen in der rechten Wange, wenn sie lacht. Dieses Lächeln, diese Stimme. Schluss. Er hat es vermasselt. Keine Entschuldigung, die hat er nicht verdient. Aber ein bisschen Nachsicht. Er zieht das Handy aus der Hosentasche und tippt unter Favoriten auf »M«.

Nach dem dritten Klingeln springt die Mailbox an.

2

Uwe Zwingel sieht auf die Uhr. Viertel nach acht. Gleich hat er diese Schnupperkursstunde hinter sich gebracht.

»Ganz locker schwingen. Die Augen sind nach unten gerichtet. Die Füße stehen fest, die Schulter dreht sich, dann die Hüfte … und nun mit Schwung durch den Ball ziehen.«

Marthas Arm schwingt mit dem siebener Eisen nach oben, verweilt einen Augenblick in Schulterhöhe, saust kraftvoll nach unten und – bleibt in der Grasnarbe stecken. Verdammt. Sie reibt sich das schmerzende Schultergelenk. Wäre sie bloß im Bett geblieben.

|14|Der Golftrainer verzieht angesichts des Golfschlags den Mund und rümpft seine gerötete Nase.

»Schwingen, nicht hacken.« Anfänger zu unterrichten, ist eine Strafe Gottes. Kaum können es die einen, werden sie durch Neue ersetzt. Am schlimmsten sind die völlig Untalentierten wie diese hier.

»Und jetzt Sie.« Er wirft Beatrix Wacker, von allen nur Trixi genannt, einen deutlich wohlwollenderen Blick zu. Trixi, heute in kurzem weißen Rock und engem Poloshirt, holt aus und schwingt mit Hüftdrehung nach vorne. Ihr Ball fliegt gerade und weit.

 

»Das ist Golf.« Der Hauch eines Lächelns huscht über das Gesicht des Trainers.

Auch die Dritte im Anfängerkurs macht ihre Sache ordentlich, obwohl Roswitha Neumann alles andere als sportlich aussieht. Die kräftige Mittdreißigerin steht mit leicht gebeugten Knien vor Martha, holt aus und befördert den Golfball mit Schwung in die Luft, allerdings landet er weit rechts im undurchdringlichen Buschwerk.

»Das wird schon.« Zwingel wirft einen Blick auf die Uhr. Noch fünf Minuten, dann hat er es geschafft.

»So, nächster Versuch.«

Zum hundertsten Mal fragt Martha sich, warum sie sich von ihrer Kollegin Trixi zu diesem Golfkurs hat überreden lassen und findet nur stereotype Antworten: Sport bringt auf andere Gedanken, Bewegung vertreibt Trübsinn. Kraft durch Freude.

Martha spannt ihren Körper an und fixiert den Golfball zwischen ihren Füßen. Wie von alleine heben und senken sich ihre Arme, gleitet der Schläger mit sattem Schmatzen |15|über den Rasen und nimmt den Ball mit. Als Martha nach der Drehung den Kopf hebt, sieht sie ihn nach wie vor in der Luft, erst an der 100 Meter Marke landet er und hoppelt auf der mit weißen Übungsbällen übersäten Driving Range noch ein Stück weiter.

»Na, geht doch.« Zwingel pfeift durch die Zähne. »Den Schlag speichern Sie jetzt im Gedächtnis ab. Wir machen Schluss für heute.«

»Ich geh schon vor.« Trixi hat es eilig, ihre Blase drückt.

Die beiden anderen packen in aller Ruhe ihre Eisen ein, danach schieben auch sie die Golfbags über den schmalen Weg zum Clubhaus.

»Was für ein herrliches Wetter. Ich glaube, ich gehe noch eine Runde schwimmen«, verkündet Roswitha. »Hast du Lust mitzukommen?«

Martha schüttelt den Kopf. Ihre weitere Tagesplanung steht fest: Noch eine Tasse Kaffee und dann ab an den Schreibtisch.

»Gestern hatte ich Besuch von einem etwas verhuschten Typen aus Celle. Seine Großmutter ist vor Kurzem gestorben und er löst zurzeit ihren Haushalt auf. Dabei hat er eine Interviewsammlung aus den fünfziger Jahren gefunden. Er meint, dass der Text Sprengstoff enthält. Vielleicht könntest du mal einen Blick …«

Weiter kommt Martha nicht. Kreidebleich stolpert ihnen Trixi entgegen. Die Hand vor den Mund gepresst, stottert sie: »Ddda … «

Trixi dreht sich um und zeigt zu dem Holzhaus, in dem die Golfgerätschaften abgestellt und eingeschlossen werden.

»Da hinten«, bringt sie endlich heraus.

|16|Martha kann dort nichts Besonderes entdecken. Der steinerne Waschtrog zum Säubern der Schläger ist mit Wasser gefüllt, die robusten Bürsten zum Abputzen der Schuhe stehen daneben. Alles ist wie immer. Die Luftdruckpistole hängt ordnungsgemäß an der Wand, nur Trixis umgefallenes Golfbag stört die normale Ordnung – ihre Golfbälle sind in alle Richtungen gerollt.

»Was soll da sein?« Martha verdreht die Augen. Typisch Trixi, nie zieht sie die Reißverschlüsse ihrer Taschen zu.

»Um die Ecke«, presst Trixi hervor. Ihr ausgestreckter Zeigefinger weist zum Caddyhaus.

Martha geht zu dem mit feinem Grasschnitt übersäten Reinigungsplatz. Von dort aus kann sie um die Ecke gucken. Vor dem Schuppen steht eine Holzbank. Darauf lümmelt ein Mann in schwarzer Lederjacke, den Kopf in den Nacken gelegt. Aus einem unerfindlichen Grund bleiben Marthas Augen an seinen Cowboystiefeln hängen, weiße, spitze Exemplare mit schwarzen Streifen und breitem Absatz. Martha starrt die Stiefel an, als wenn die ihr die Antwort geben könnten, warum der Mann mit den weit von sich gestreckten Beinen auf der Bank sitzt. Vielleicht kann sie den Blick auch nicht von ihnen lösen, weil die Füße so weit weg sind von dem Gesicht, vor dem sie Angst hat, es näher zu betrachten.

»Ist da was?« Roswithas Ruf rüttelt sie aus ihrer Starre.

Marthas Augen wandern hoch. Sie registriert die dunkel verfärbte Gesichtshaut, sieht die leblosen Pupillen, die anklagend Richtung Himmel starren und den weit geöffneten Mund.

|17|3

Die Stille des Großen Moors wird durch einen klagenden Schrei eines Raben durchbrochen. Felix Rinsing zuckt erschrocken zusammen. Sein Herz schlägt vor Angst bis zum Hals. Er hätte nicht allein kommen sollen, das spürt er genau. Was ist, wenn sie ihn entdecken?

Über ihm raschelt das Laub der Birken, einzelne gelbe Blätter segeln im sanften Luftzug auf ihn herab. Die anhaltende Trockenheit im August setzt den Bäumen zu. Erneutes Kreischen. Er lauscht. Das ist direkt über ihm. Felix hebt langsam den Kopf und entdeckt den Greifvogel, der seine Bahnen oben am Himmel zieht. Erleichtert atmet er auf und starrt wieder an der Seite des Schlehengebüschs vorbei zum Haus. Langsam beruhigt sich sein Herzschlag.

Das ehemalige Landschulheim der Region Hannover ist ein rechteckiges Fachwerkgebäude mit zwei Etagen. Das Ziegeldach sieht marode aus. Die Wände könnten einen Anstrich vertragen, genau wie die quadratischen Fenster, vor denen vergilbte Gardinen hängen. Die hölzerne Eingangstür wird von zwei beflaggten Masten eingerahmt.

Rechts neben dem Hauptgebäude steht ein eingeschossiger, lang gezogener Flachbau aus den dreißiger Jahren, erstellt in einfachster Bauweise.

Ein durchtrainierter junger Mann um die zwanzig mit Springerstiefeln und rasiertem Schädel lehnt sich in seiner wattierten Fliegerjacke an eine der Fahnenstangen und raucht eine Zigarette. Auf dem Rücken seines Blousons prangt ein Totenkopf aus dem grellrotes Blut läuft. Immer wieder wischt sich das Muskelpaket den Schweiß von der |18|Stirn. Kein Wunder, dass er schwitzt, es sind schon jetzt mindestens zwanzig Grad im Schatten.

Die schwere Holztür quietscht. Zwei Jungen kommen heraus. Beide haben blonde, nicht allzu kurze Haare mit Seitenscheitel. Über schwarzen Jeans tragen sie dunkle T-Shirts. Bei dem einen ist die Zahl 88 groß auf den Rücken gedruckt, bei dem anderen die 18.

Ein weiterer Druck auf den Auslöser der Digitalkamera und Felix hat alle auf seinem Chip festgehalten.

4

Gut gelaunt öffnet Walter Streuwald die Tür seines Dienstzimmers, das er sich seit ewigen Zeiten mit Dieter Borgfeld teilt.

»Mahlzeit!«

»Morgen.« Borgfeld hebt kurz den Kopf und blinzelt mürrisch. Mit einem Bleistift zieht er eine gerade Linie in sein Notizbuch. Dann fischt er sich eine Karotte aus der Plastiktüte und legt sie quer über die aufgeschlagene Seite.

»Das ist jetzt schon eine Hitze draußen. Sollen heute mehr als 30 °C werden.« Streuwald zieht seine blaue Uniformjacke aus und hängt sie an den Haken neben der Tür, ohne einen Blick auf seinen Kollegen zu werfen.

»Wird bestimmt ein ruhiges Wochenende. Um zwei habe ich Anpfiff, da musst du dann mal auf mich verzichten. Ist zwar nur ein Freundschaftsspiel, aber gegen Heeßel.« Streuwald wirft Borgfeld einen viel sagenden Blick zu. »Du weißt |19|ja, wie wichtig das für mich ist. Die Jungs aus Heeßel hätten uns letztes Jahr fast geputzt.«

»Hmm«, kommt es grummelnd aus der anderen Ecke des Raums. Borgfeld starrt immer noch auf das Notizbuch. Schließlich nimmt er seinen Kugelschreiber und schreibt unter die akkurat gezogene Linie: Frühstück 0 Punkte.

Streuwald will noch etwas sagen, hält aber den Mund, als er Borgfeld Auge in Auge mit der Mohrrübe sieht. Seit Borgfeld diese Diät macht, hat er zwar fünf Kilo abgenommen – sein sonst unerschütterlicher Humor ist dabei jedoch auf der Strecke geblieben. Selbst für ein Feierabendbier fehlt ihm die Lust. Das könnte Streuwald nie passieren. Ein Bier nach dem Training am Freitagabend ist Pflicht. Zwei sind die Kür. Bei dreien möchte er seine Kollegen von der Verkehrspolizei lieber nicht mehr treffen. Schon gar nicht nach vieren wie gestern Abend, als er an der Theke zum wiederholten Mal alle Höhepunkte des Spiels der ersten Herren gegen Hannover 96 zum Saisonauftakt mit dem Platzwart hat Revue passieren lassen. Zwei Tore von Mike Hanke – das hat man lange nicht gesehen. Dann der Anschlusstreffer von Maxime Menges zum 1: 2. Super Schuss. Gut, danach überrumpelten die Spieler aus Hannover den RSE. Stindl, Haggui, Schlaudraff, Forsell: Alle trafen. Selbst die, die sonst immer daneben schießen. Zum Glück war Alexander Homann zur Stelle. Der Torhüter des RSE parierte den Foulelfmeter von Hanke. Wenn man ehrlich ist, hatte er sich den allerdings selbst eingebrockt. Aber alles in allem war das Spiel gut. Und mit dem Endstand von 1: 6 kann man leben. Mal sehen, wie es in dieser Saison weitergeht. Der Trainer ist zuversichtlich. Der Vereinsvorsitzende auch. Was kann da noch schief gehen? |20|Versöhnt mit diesen Gedanken, stützt Streuwald sich mit den Armen auf Borgfelds Tisch ab.

»Was gibt’s Neues?«

»Neues?«, brummt Borgfeld und starrt weiter auf sein Notizbuch.

Streuwald kneift die Augen zusammen und poltert los: »Was ist eigentlich mit dir los? Du muffelst mich hier am frühen Morgen an, als wenn ich dir sonst was getan hätte. Ich hab doch nur gesagt, dass ich heute Nachmittag mal kurz weg muss.«

Borgfeld schaut auf. »Nichts ist los.«

Streuwald glaubt ihm kein Wort. Er schaut auf die Uhr. Kurz vor halb neun. Der ganze Tag liegt noch vor ihnen – und dann diese miese Laune.

»Haben sie dir das Knäckebrot etwa auch noch gestrichen?«, stichelt er in einem Tonfall, von dem er genau weiß, dass Borgfeld ihn nicht ausstehen kann.

»Wieso?«, blafft dieser auch sofort zurück.

»Weil du die Mohrrübe so böse anstarrst. Die hat dir doch nichts getan.«

Kommissar Dieter Borgfeld blinzelt seinem Kollegen missmutig zu. »Ist ja schon gut, Walter. Du hast gewonnen. Ich muss heute sechs Punkte einsparen, noch besser acht oder zehn.« Er seufzt laut. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Aber Maria meint, dass ich jetzt nicht aufgeben darf. Der Anfang ist immer …«

Nicht schon wieder, stöhnt Streuwald auf. Seit Wochen geht das nun schon so. Er kann dieses Diätgequatsche über Punkte nicht mehr hören. Natürlich hat Borgfeld einen Bauch, aber so dick ist er nun auch wieder nicht, dass seine |21|Frau ihn jede Woche zu den Weight Watchers auf die Waage schleppen muss.

»Maria meint, dass ich …«

»Und sonst?«, unterbricht Streuwald ihn.

»Wie sonst?«, muffelt Borgfeld ihn an. »Ich habe dir doch gerade erklärt, dass Maria …«

»Ich meine, was ist sonst so? Wie läuft’s zum Beispiel mit deinen Kindern?«

»Wie soll’s schon laufen? Zuhause ist Nahkampf angesagt. Alexander ist mitten in der Pubertät. Seit der sechzehn ist, ist der überhaupt nicht mehr ansprechbar. Furchtbar ist das mit dem. Sonja ist zwar mittlerweile achtzehn und man sollte glauben, die sei damit durch, aber von wegen. Die ist nach wie vor unberechenbar. Wegen jeder Kleinigkeit zickt sie rum. Maria und sie streiten ständig. Über alles.« Borgfeld knabbert mit langen Zähnen an der Spitze seiner Möhre und wirft Streuwald einen nach Mitleid heischenden Blick zu. »Erst gestern Morgen gab es wieder Streit am Frühstückstisch. Das musst du dir mal vorstellen: Alexander sitzt schon vor dem Frühstück am Computer. Hat nicht mal Zeit, in Ruhe seinen Kakao zu trinken. Angeblich muss er was ernten.« Borgfeld tippt sich mit dem Finger an die Stirn. »Ernten am Computer? Und so einen Schwachsinn muss ich mir vorm Dienst anhören! Wo soll das noch hinführen? Überhaupt hängt der Bengel nur noch am Computer und …«

Es folgt eine lange Tirade von Borgfeld über die Probleme mit seinen heranwachsenden Kindern. Streuwald verflucht sich, dass er seinen Kollegen danach gefragt hat. Wie blöd ist er heute Morgen eigentlich? Pubertät ist das zweite Lieblingsjammerthema |22|von Borgfeld – und ein weiteres Problem, für das Streuwald kein Verständnis hat. Für ihn ist die Sache ganz einfach. In dem Alter wissen die Burschen einfach nicht wohin mit ihrer Kraft. Das sieht er doch ständig auf dem Fußballplatz.

Streuwald verschränkt die Arme vor seinem Bauch.

»Jetzt hör mir mal zu, Dieter. Die Sache ist doch ganz einfach: Deine beiden müssen mehr Sport treiben. Bewegung bringt die Hormone ins Gleichgewicht – und schon ist alles im Lot.« Streuwald geht zu seinem Schreibtisch, öffnet die oberste Schublade und holt einen Block heraus. »Ali war ewig nicht beim Fußballtraining. Darüber solltest du dir Gedanken machen.« Der Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Keine Zeit. Q 1«, nuschelt Borgfeld, der sich den Rest der Möhre in den Mund geschoben hat. Er kaut zu Ende und schluckt dann alles auf einmal herunter.

 

»Erster Jahrgang in der Qualifikationsphase. Abitur nach acht Jahren«, erklärt er, als er Streuwalds fragenden Blick auffängt. »Er hat an drei Tagen bis Viertel vor vier Schule, und an den anderen bis halb drei. Danach noch Hausaufgaben. Da bleibt keine Zeit für andere Sachen. So sieht das aus.«

»Überall das Gleiche«, stöhnt Streuwald. »Wenn das so weiter geht, kriege ich meine Mannschaft nicht mehr voll. Letzte Woche waren bloß acht Jungs beim Training. Wie sollen wir da gegen Heeßel gewinnen?« Er rückt den Vereinswimpel des RSE liebevoll zur Seite, als das Telefon klingelt.

»Polizeiinspektion Burgdorf, Kommissar Streuwald«, bellt er in den Hörer. Schweigend hört er eine Weile zu, dann räuspert er sich: »Wir kommen.«