Loe raamatut: «Goldgier»
Von Dagmar Isabell Schmidbauer
Goldgier
Kriminalroman
Imprint
Goldgier
Dagmar Isabell Schmidbauer
published by: epubli GmbH, Berlin
Copyright: © 2018 Dagmar Isabell Schmidbauer
Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de
Prolog
Nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, kniete die Frau auf dem harten Holzboden ihres Schlafzimmers. Den Kopf gesenkt, die Augen weit aufgerissen und zitternd vor Kälte, ging ihr Atem inzwischen nur noch stoßweise. Todesangst schnürte ihr die Kehle zu und ließ sie trotz heftiger Schmerzen in dieser misslichen Lage ausharren. Sie solle sich nicht rühren, hatte einer der Männer gesagt und mit der Waffe auf ihren Kopf gezeigt, woraufhin sie aufgeschrien hatte. Ihr Mann, der gleich neben ihr kniete, hatte nur genickt und ihr mit seinem zuversichtlichen Blick signalisiert, dass sie ruhig bleiben solle. Ruhig in Anbetracht dieser tödlichen Bedrohung.
Tatsächlich hatten sein Blick und die Geräusche, die die nächtlichen Besucher in ihrem Haus verursachten, ihr zunächst Hoffnung gegeben. Sie waren auf der Suche. Sie würden fündig werden. Ihr Mann hatte sich kooperativ gezeigt, ihnen Zugang zu allem gegeben, das sich im Haus befand.
Doch das musste Stunden her sein, seitdem hoffte sie auf ein Ende der Tortur.
Die Schmerzen in ihren Beinen waren schier unerträglich, doch sie traute sich nicht, sich zu bewegen oder gar eine andere Haltung einzunehmen, denn der Mann mit der Waffe stand hinter ihr, und sie spürte seine Bereitschaft zum Töten.
Der einzige Trost war das Lächeln ihres Sohnes Moritz, zu dessen Foto ihr Blick immer wieder unbemerkt wandern konnte. Was für ein Glück, dass zumindest er nicht im Haus war. Sie seufzte kaum hörbar. Ach, wenn sie doch nur die Hand ihres Mannes halten könnte. Nur kurz seine Wärme und seine Zuversicht spüren dürfte, dann würde sie auch weiter durchhalten und ertragen, was kaum mehr zu ertragen war. Vorsichtig bewegte sie ihre Hand in Richtung ihres Mannes. Streckte einen Finger nach ihm aus, glaubte ihn gleich erreicht zu haben, als sie einen Schlag auf den Kopf spürte und zusammenbrach.
„Hast es wohl eilig mit dem Sterben?“, spottete der Mann und riss an ihr, bis sie sich wieder aufrichtete. „Hinknien!“, befahl er, und sie wusste, er würde seine Macht auskosten.
„Aber wir haben Ihnen doch alles gegeben“, jammerte sie, „was wollen Sie denn noch von uns?“
„Sssch!“, machte ihr Ehemann, und als sie trotz der Warnung kurz zu ihm hinübersah, erkannte sie, dass auch er Angst hatte. Der Blick ihres Mannes bewies ihr, wie schlimm es wirklich war. Wenn er ihr seine Angst so deutlich zeigte, dann gab es keine Hoffnung mehr.
Als Kind war sie leicht zu erschrecken gewesen und hatte sich daher am liebsten im Haus bei der Mutter aufgehalten. Erst die Stärke ihres Mannes hatte auch sie stärker gemacht. An ihn und seine Möglichkeiten, alles zum Guten oder noch Besseren zu wenden, hatte sie geglaubt. Stets hatte er für sie gesorgt, und mit den Jahren hatte sie sich so sehr an das sichere Leben an seiner Seite gewöhnt, dass sie ein anderes gar nicht mehr in Betracht gezogen hatte. Sie schloss die Augen, dachte ganz fest an ihre Mutter, ihre Wärme und Liebe und die Gebete, die sie gemeinsam gesprochen hatten, um Angst und Leid zu vertreiben.
Selbst als sie weitere Stimmen hörte und Schritte, die laut stampfend näher kamen, schaute sie nicht auf. „Heilige Mutter Gottes“, flehte sie stumm in die jetzt unheilvolle Stille hinein. Wieder und immer wieder, bis die Kugel ihren Kopf durchschlug und sie von ihrer Angst, ihren Schmerzen und ihrem Flehen erlöste.
∞
20 Jahre später …
November. Feucht und kalt waberten die Nebelschwaden, die vom Inn heraufzogen, zwischen den Grabsteinen des Passauer Innstadtfriedhofs und legten sich wie Schleierfetzen auf die Gräber. Die höher gelegene zweistöckige Gruft und die Kuppel der Gedächtniskapelle sowie die Bäume und Sträucher, unter denen Engelchen gebettet waren, die nur für wenige Stunden oder Tage unter den Lebenden geweilt hatten, waren in der anbrechenden Dunkelheit kaum noch zu erahnen. In Nächten wie diesen gehörte der Friedhof allein den Toten und den wenigen, die sich trotz der unwirtlichen Kulisse nicht von einem Besuch abhalten ließen.
Aus dem Geräteschuppen, der an der Mauer zwischen den prachtvoll mit Stuck und Gemälden geschmückten Arkadengräbern und dem hinteren Eingang lag, trat ein Mann. Er hieß Arnold Schwarzenflecker, war Mitte vierzig, groß, und sein schlanker, an harte Arbeit gewöhnter Körper steckte in einer wattierten Jacke, Arbeitshosen und Stiefeln. Er bugsierte eine Schubkarre vor sich her, die mit Spitzhacke und Schaufel bestückt war. Mit forschem Schritt lief er die gekiesten Wege den Berg hinauf zu den weiter oben gelegenen Grabreihen. Sein Ziel war die Grabstelle von Theo Koller, dessen sterbliche Überreste er ausgraben sollte, damit er genau wie seine Witwe Rosemarie nach Berlin übersiedeln konnte.
Als Arnie vor vielen Jahren diesen für die meisten Menschen nicht infrage kommenden Job übernommen hatte, wusste er noch nicht wirklich, was ihn erwarten würde. Schon in der zweiten Woche traf er bei seiner ersten Umbettung auf eine sogenannte Wachsleiche, bei der selbst die Gesichtszüge noch erkennbar waren. Solche Überraschungen waren auch der Grund dafür, warum Umbettungen immer spätabends durchgeführt wurden. Zum einen sollten die Friedhofsbesucher nicht unfreiwillig Zeuge werden, andererseits konnte so verhindert werden, dass jemand fotografierte und die Bilder anschließend als Gruselfotos ins Netz stellte.
Die meisten Leichen blieben lange genug in ihrem Grab unter der Erde, um vollständig zu verwesen, sodass bei der Auflassung ihrer Gräber, wenn überhaupt, nur noch Knochen und der kahle Schädel übrig waren.
Trotz mancher nicht immer schöner, aber ausgesprochen menschlicher Fundstücke liebte Arnie seine stille Arbeit, bei der ihn niemand störte und er eins werden konnte mit seinen Werkzeugen, die er mit Kraft und Ausdauer in die lehmige Erde trieb. Diese schweißtreibende Tätigkeit erinnerte ihn an die Arbeit im Wald seines Vaters, bevor der Sturm Kyrill wie aus dem Nichts aufgetaucht war und kleine, abgegrenzte Gebiete überfallen hatte – ein Vorbote der Klimaänderung. Scharf war der Sturm in jener Nacht durch das Waldstück gefegt und hatte genau die Bäume, die seinem Vater gehörten, herausgeschnitten. Das Grundstück des Nachbarn war praktisch verschont geblieben. Gemeinsam hatten sie noch aufgeräumt, das Holz zu einem Spottpreis verkauft und neue Schösslinge gepflanzt. Danach hatte er sich etwas Neues suchen müssen und wurde so Angestellter der Stadt Passau, die seinen Lohn immer pünktlich bezahlte.
Inzwischen war Arnie am Grab angekommen und stellte die Schubkarre neben die Einfassungssteine, die er bereits am Vormittag entfernt hatte.
Er musste sich beeilen. Er war in Sorge.
Noch nie zuvor hatte Arnie während der Arbeit an eine Frau gedacht.
Sein Leben war stets fest getaktet gewesen: Er ging zur Arbeit, kam nach Hause, duschte, machte sich sein Abendbrot und schaute fern. Alles war eine gut abgestimmte Routine, bis eines Abends – seine Aufmerksamkeit galt gerade einem dieser Vorabendkrimis – an seiner Wohnungstür geklingelt wurde. Verwundert erhob er sich. Für gewöhnlich gab es niemanden, der ihn in seinem Feierabend störte. Als er die Tür öffnete, stand die Frau aus dem Erdgeschoss vor ihm. Vor ein paar Wochen erst war sie in die lange Zeit leerstehende Wohnung unter ihm eingezogen. Er hatte sie im Vorbeigehen schon ein paar Mal angesehen und ihr Lächeln erwidert. Auch jetzt lächelte sie und hielt ihm einen Teller mit belegten Sandwiches und eine Flasche Wein entgegen. „Ich dachte, ich schau mal auf einen Antrittsbesuch vorbei“, erklärte sie ihm und schielte an ihm vorbei in seine Wohnung. „Oder komme ich ungelegen?“ Arnie hatten die Worte gefehlt, weshalb er nur stumm den Kopf geschüttelt und sie hereingelassen hatte.
„Oh, Sie schauen fern. Ich liebe diese Krimis am Vorabend“, plapperte sie weiter und drängelte sich in ihrem Rock, der auf Sliphöhe endete, an ihm vorbei. Sprachlos schloss er die Tür und folgte ihr ins Wohnzimmer. „Die Wohnung hat den gleichen Schnitt wie meine“, erklärte sie und wandte sich dann zu ihm um. „Ich heiße Daniela, wollen wir uns nicht duzen?“
Weil der Film bereits lief, hatte Arnie aus der Küche Gläser und Teller geholt und Taschentücher bereitgelegt, so etwas wie Servietten gab es in seinem Ein-Mann-Haushalt nicht. Eigentlich hatte er zuvor schon gegessen, aber Danielas Sandwich war natürlich viel besser. Schinken und Käse waren mit Mayonnaise und Salat verfeinert, und ihr fröhliches Gequassel, das ihn die wichtigsten Stellen glatt verpassen ließ, störte ihn auch nicht im Mindesten.
Nachdem sie gegessen hatten, räumte Daniela die Teller zusammen, schenkte Wein nach und fragte, ob es ihn störe, wenn sie ihre Füße auf den Tisch legen würde, das wäre einfach bequemer nach dem langen Tag in der Tankstelle. Arnie hatte natürlich nichts dagegen, schon weil sie sich dazu ein wenig an ihn lehnte und er sie so besser riechen konnte. Daniela duftete sehr weiblich, und er fand auch das einfach schön. Irgendwann stand Daniela auf, ging zur Toilette, und als sie zurückkam, schaffte sie es, seinen Arm um ihre Schultern zu legen und sich noch ein bisschen mehr an ihn zu kuscheln.
Von diesem Tag an kam Daniela jeden Abend zu ihm herauf, und Arnie durfte sich an ihren Zärtlichkeiten und Liebkosungen sattfühlen.
Bald schon spürte er unter der Dusche nach der Arbeit schmerzhaft das Verlangen nach ihr. Eine Sehnsucht, die nur gestillt werden konnte, wenn er neben ihr lag und ihren nackten Körper an seinem spürte.
Natürlich hatte Arnie schon die eine oder andere Frau gehabt, doch diese Beziehungen waren über kurz oder lang schwierig geworden, weil jede ihn auf die eine oder andere Art umerziehen wollte. Als ob er ein Hündchen wäre, hatte er einmal sogar gedacht. Irgendwann hatte er es dann aufgegeben, nach der Richtigen zu suchen. Bei Daniela war alles anders.
Wenn er bei ihr seine von der harten Arbeit schwieligen Hände auf Entdeckungsreise schickte und dabei immer unersättlicher wurde, schmolz sie einfach nur dahin, was seine Begierde und Fantasie befeuerte.
An einem Abend kam sie im roten Negligé und am nächsten in schwarzen Netzstrümpfen und Strapsen. Ihr Vorrat schien so unerschöpflich wie Arnies Verlangen nach ihren Brüsten, die er streicheln und drücken und an denen er saugen durfte. Nie wies sie ihn zurück, immer wollte sie es genau so sehr wie er. Bis es vor ein paar Tagen zu diesem mehr als störenden Zwischenfall kam.
Längst trafen sie sich nicht nur in seiner, sondern auch in ihrer Wohnung. An jenem Abend hatte Daniela im Bett nackt vor ihm auf allen Vieren gekniet – eine Position, die Arnie besonders liebte. Sanft waren seine Hände über ihren Rücken gefahren, damit sie ihn noch mehr durchdrückte, und an den Seiten vorbei. Sie hatte laut aufgestöhnt, als er ihre Brüste umfasste, die Knospen sanft streichelte und vorsichtig knetete, bis die Geliebte sich seinen Händen immer mehr entgegendrängte. Er genoss dieses Stöhnen und Sich-Hingeben und hatte gerade ganz langsam in sie eindringen wollen, als es laut an der Tür geklingelt hatte und gleich darauf gegen das Türblatt gehämmert worden war.
Erschrocken waren sie auseinandergefahren. Noch einmal hatte es ungestüm an der Tür geklopft.
„Wer ist das denn?“, hatte Arnie geschimpft. Er war aus dem Bett gesprungen und hatte seine Hose gesucht. Inzwischen wurde laut nach Daniela gerufen. „Lass mal, ich muss selbst gehen“, hatte Daniela ihm energisch erklärt und sich ihren Bademantel geschnappt.
„Hast du Bohnen in den Ohren?“, war das Erste, was Arnie, der im Schlafzimmer auf dem Bett sitzend zurückgeblieben war, von dem späten Besucher zu hören bekam.
„Psst, nicht so laut!“, zischte Daniela zurück. Arnie hatte sich vom Bett erhoben und den Kopf an die Tür gedrückt, um lauschen zu können. Ihre Stimme hatte auf einmal so fremd geklungen, und auch der Inhalt ihres Gesprächs hatte ihn alarmiert.
Natürlich wusste Arnie längst nicht alles von Daniela, und letztlich war praktisch ihr ganzes vorheriges Leben ein einziges Geheimnis für ihn. Nach wie vor. Arnie hatte erkannt, dass ihn das sogar ein wenig erregte. Aber der Typ, der sich in diesem Moment mit ihr im Wohnzimmer befand, machte einfach keinen guten Eindruck auf ihn.
„Du schuldest mir etwas.“ Die Stimme war fordernd, und gleich darauf hatte Arnie ein Geräusch vernommen, das er nur als Ohrfeige deuten konnte. Vorsichtig hatte er die Tür geöffnet, ein zweiter Schlag und ein unterdrückter Aufschrei, gefolgt von einem Fluch, waren zu hören. „Ich hab dein Scheißgeld nicht!“ Im Wohnzimmer entstand ein Tumult, und Arnie war nicht mehr zu halten gewesen.
Er war ins Wohnzimmer gesprungen, hatte den Eindringling von hinten gepackt und überwältigt. Der Unbekannte hatte sich losmachen wollen, aber Arnie hatte ihn fest im Griff gehabt und zur Tür geschoben.
„Und jetzt raus mit dir, Bürschchen, sonst vergesse ich mich!“, hatte Arnie mit drohender Stimme geknurrt. Der Fremde schien verstanden zu haben. Er hatte etwas gemurmelt, was sich wie ein „Okay, okay, ich hab’s kapiert, du hast jetzt einen Aufpasser!“ angehört hatte. Ohne weitere Gegenwehr ließ sich der Eindringling zur Tür bugsieren und mit einem kräftigen Stoß hinausbefördern. Dort hatte er seine Lederjacke gerichtet und war sich durchs gegelte Haar gefahren. Dann hatte er an Arnie vorbei gerufen: „Das wirst du mir büßen. Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du versuchst, dich hinter deinem Bodyguard zu verstecken!“
„Wer war das denn, und woher kennst du solche Typen?“, hatte Arnie gefragt, nachdem er die Tür mit Nachdruck geschlossen hatte.
Seine immer noch leicht bekleidete Freundin hatte den Kopf geschüttelt, sich an ihn geschmiegt und ein „Ist nicht so wichtig“ genuschelt. Doch mit dieser Antwort hatte er sich nicht zufriedengeben wollen. Energisch schob er sie ein wenig von sich, damit er ihr Gesicht sehen konnte.
„Jetzt sag schon! Hattest du was mit ihm?“
„Ich hab mal für ihn gearbeitet. Und jetzt behauptet er, ich hätte ihm Geld gestohlen, aber das stimmt nicht“, hatte sie mit Tränen in den Augen gebeichtet.
„Sollten wir nicht zur Polizei gehen?“, hatte Arnie vorgeschlagen, von ihren Tränen überwältigt, doch Daniela hatte ihn zurück ins Schlafzimmer gezogen, ihren Bademantel geöffnet und langsam über ihre Schultern zu Boden gleiten lassen. „Nein. Der kommt nicht wieder. Ich glaube, er hat es begriffen.“
Aber Arnie hatte der Vorfall trotzdem keine Ruhe gelassen. Vielleicht hatte Daniela gedacht, er würde nicht bemerken, wie sehr sie sich verstellte, um ihre Angst nicht zu zeigen. Arnie wusste inzwischen, dass Daniela kein Geld hatte. Wie viel sie benötigte, um ihren Schuldner zufriedenzustellen, wusste er nicht. Trotzdem hatte er beschlossen, ihr zu helfen. Denn eines wusste er sicher: Er wollte nicht, dass seine Liebste von Typen wie ihm belästigt wurde …
Inzwischen war Arnie in seinen kleinen Bagger geklettert. Er wollte gerade starten, als er ein Geräusch vernahm, das ihn innehalten ließ. Mit Hilfe seiner Stirnlampe blickte er sich zwischen den Grabreihen um. Er war nicht ängstlich, und auch vor den Toten fürchtete er sich nicht. Ihm ging es nur um die Menschen, die vielleicht zufällig Zeuge dessen werden könnten, was er in den nächsten Stunden freilegen würde. Doch um ihn herum war alles still. Er musste sich getäuscht haben, dachte er und ließ den Motor an.
∞
Mit dicken Socken und einer an vielen Stellen geflickten Männerstrickjacke über dem knappen Trägerhemdchen saß Daniela am Küchentisch ihrer kleinen Parterrewohnung und blätterte in der Heimatzeitung, die sie beim Nachhause Kommen aus dem Papiercontainer gefischt hatte. Sie wollte sich ablenken, um nicht ständig an ihre Sorgen denken zu müssen.
Ihr Vormieter war im Alter von 88 Jahren in seinem Fernsehsessel eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Erst viele Tage später hatte ihn der Hausbesitzer gefunden. Die Bestürzung in der Straße war so groß gewesen, dass bald die ganze Innstadt davon wusste. Und trotz des Passauer Wohnungsmangels hatte niemand sich für eine Nachmietung beworben – niemand außer Daniela, die es sich nicht leisten konnte, wählerisch zu sein.
Für sie war die Wohnung, direkt am Inn gelegen, ein Geschenk des Himmels. Wobei natürlich auch sie sich anfangs vor dem Gestank geekelt hatte. Aber nach einer gründlichen Reinigung mit allem, was gut und wohlriechend war, konnte sie sich einreden, dass die Ausdünstungen des alten Mannes verschwunden waren. Zumindest solange die Luft mild war und sie die Fenster auf Durchzug lassen konnte. Mit Einsetzen des feuchtkalten Nebelwetters kam jedoch auch der leichte Verwesungsgeruch zurück, und so folgte Daniela dem Tipp eines Zeitungsartikels über das Ausräuchern. Sie kaufte eine Duftlampe, legte Rosmarinzweige und Wacholderbeeren auf das Drahtsieb und vertrieb damit den unangenehmen Geruch aus der Wohnung.
Der einzige Sohn des alten Mannes hatte sich, wie Daniela nur zu gut verstehen konnte, geweigert, die Wohnung nach dem Tod des Vaters noch einmal zu betreten, und daher den Vermieter gebeten, alles, was sein Vater besessen hatte, zu verschenken oder zu entsorgen. Dieser Wunsch war für Daniela ein Segen, denn außer dem sehr speziellen Duft war die Wohnung ein wahres Schatzkämmerchen, wie Daniela sehr schnell feststellte. Täglich fand sie nützliche Dinge.
Im vollgestopften Kleiderschrank hatte sie nicht nur einen kleinen Vorrat an Sekt, sondern auch mehrere Bündel Geldscheine entdeckt. Der Sekt war schnell verbraucht, doch das Geld legte sie vorsichtshalber zurück unter die langen Männerunterhosen.
Weil es draußen bereits dunkel war, hatte sie die Vorhänge zugezogen und wie jeden Abend eine Duftkerze entzündet. Vor ihr stand eine Tasse mit dampfendem Tee, daneben lag eine angebrochene Tafel Schokolade. Die Schokolade schmeckte so billig, wie sie gewesen war, aber Daniela brauchte Nervennahrung. Die Sache mit Kanopka, dem unerwünschten Besucher vom Vortag, machte sie unruhig. Reine Auslegungssache, ob er ihr Geld schuldete oder sie ihm. Fest stand nur, dass er sich am längeren Hebel befand und sie ihm wenig entgegenzusetzen hatte. Arnie hatte sich zwar als Held erwiesen, aber sie kannte Kanopka und wusste, dass er das nur einmal mit sich machen ließ.
Daniela erhob sich schwerfällig und humpelte ins Schlafzimmer, das auf der hinteren Seite des Hauses lag, mit Blick direkt auf den Innstadtbahnhofsweg und den Inn, der sich nur ein Stück weiter östlich mit Donau und Ilz vermählte und der Stadt Passau ihren Beinamen gab: Dreiflüssestadt. Lange bevor sie eingezogen war, waren auf dem Weg unterhalb ihres Hauses Züge gefahren. Die Gleise lagen noch, doch unterwegs waren jetzt Radfahrer und Fußgänger, oft mit ihren vierbeinigen Freunden. Neuerdings wurde an dem Gleisbett wieder gebaut, weil ein rühriger Verein die alte Bahnlinie reaktivieren will.
Wenn sie unter Stress stand, machte sich der nie richtig ausgeheilte Schienbeinbruch, den sie sich vor Jahren bei einem Unfall zugezogen hatte, mit einem stechenden Pochen bemerkbar. Und allein bei dem Gedanken an Kanopka und seine Kaltblütigkeit schmerzte sie ihr rechtes Bein so sehr, dass sie kaum auftreten konnte. Sie holte das Geld des Vormieters aus dem Versteck, es wog schwer in ihrer Hand. Das könnte sie Kanopka geben, dann wäre sie ihre Schulden los, aber eben nur die, noch lange aber nicht Kanopka selbst. Das Geld, das sie sich für ihren Umzug nach Passau „stibitzt“ hatte, war längst verbraucht und sicher nicht der Grund für sein Auftauchen. Kanopka führte etwas im Schilde, und wenn er zu ihr kam, dann wollte er etwas von ihr. Was das sein könnte, davon hatte Daniela keine Ahnung, aber sie wusste, dass sie nicht mitmachen würde. Und sie wusste auch, dass sie ihm das Geld nicht geben würde, denn mittlerweile betrachtete sie das Geld als eine Art Alterssicherung.
Sorgfältig schob Daniela die Geldbündel zurück an ihren Platz und schloss gewissenhaft die Schranktür. Danach warf sie einen Blick auf den altmodischen Wecker, aber Arnie musste heute länger arbeiten. Sie beschloss, zurück in die Küche zu gehen, ihren Tee zu trinken und weiter auf ihn zu warten. Da klopfte es auf einmal laut und fest an ihr Fenster.
Daniela schrak zusammen und verhielt sich automatisch ganz still. Wieder klopfte es, heftiger noch als zuvor. Daniela schielte zur Küchenuhr. Konnte es sein, dass Arnie doch schon fertig war?
Mit der Zeitung in der rechten Hand ging sie zum Küchenfenster, aus dem sie in Richtung Kapuzinerstraße blicken konnte. Mit der linken Hand zog sie die beiden Teile des Vorhangs auseinander. Kanopka. Er bedeutete ihr mit einer unwirschen Handbewegung, das Fenster zu öffnen. Daniela schüttelte den Kopf. Glaubte der allen Ernstes, dass sie so dumm sein würde, ihn hereinzulassen?
Doch gleich darauf verpuffte ihr Löwenmut zu Mäusedreck. Plötzlich hielt Kanopka eine Spraydose in der Hand und schrie so laut, dass im Haus gegenüber die Lichter angingen: „Wenn du nicht aufmachst, erfährt jeder in dieser Straße, wer du wirklich bist!“ Er zog die Kappe von der Farbdose und sprayte das erste Wort auf die Scheibe: „Hier …“
„Lass mich in Ruhe, ich hab dein Geld nicht mehr“, schrie sie durch das geschlossene Fenster zurück, aber da entstanden schon die nächsten Worte „wohnt eine verf…“. Voller Wut riss Daniela das Fenster auf. Hastig wischte sie mit der Zeitung über die Schmierereien. Die Buchstaben verloren ihren Sinn. Zu spät begriff sie, dass Kanopka sie nur abgelenkt hatte. Rasch zog er sich am Fensterbrett hoch und stemmte sich auf die Brüstung. Endlich erkannte Daniela, was er vorhatte, und attackierte ihn mit ihren Fäusten. Kanopka schubste sie von sich und sprang in ihre Küche. Als Daniela sich nach ihm umwandte, traf sie seine Faust völlig unvermittelt ins Gesicht. In Sekunden schwoll ihr linkes Auge bis auf einen kleinen Schlitz zu, während aus der Nase das Blut schoss und der Schmerz in ihrem Gesicht hämmerte. Es war nicht das erste Mal, dass Daniela von ihm verprügelt wurde, sie wusste, was nun kommen würde, und versuchte, sich hastig in Sicherheit zu bringen. Dabei stolperte sie über ihre am Boden herumliegenden Schuhe, und als sie sich an irgendetwas festhalten wollte, traf sie der nächste Schlag brutal in die Magengrube. Würgend ging sie endgültig zu Boden, wo sie sich zusammenrollte und die Hände schützend um ihren Kopf legte, um zumindest ihn vor weiteren Schlägen zu schützen.
„Hast du genug, oder soll ich weitermachen?“, fragte Kanopka überheblich, musterte Daniela eingehend und stellte sich schließlich breitbeinig über ihren Körper, um ihr die Hand zum Aufstehen zu reichen. „Na los, ich will dir ein Geschäft anbieten.“
Doch Daniela war viel zu verängstigt, um etwas zu sagen, und schüttelte nur schwach den Kopf, denn sie dachte überhaupt nicht daran, mit Kanopka Geschäfte zu machen. Sie wusste schließlich, wohin sie das führen könnte. „Wenn Arnie dich erwischt, dann bist du dran.“
Kanopka schnaubte verächtlich, zog seine Hand zurück und machte zwei Schritte von Daniela weg, dann drehte er sich um, holte aus und verpasste ihr einen Tritt in die Flanke.
Während sie vor Schmerz aufschrie, ging Kanopka neben ihr in die Hocke und zischte ihr zu: „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass dich dieser Weichling tatsächlich beschützen kann? Wo ist er denn, dein neuer Beschützer? Vielleicht beim Leicheneinbuddeln?“
Daniela schwieg.
„Brauchst nichts sagen, ich habe ihn weggehen sehen. Und weißt du, was ich jetzt mache? Ich geh zum Friedhof, und dann nehme ich mir dein Freundchen vor, und wenn ich mit ihm fertig bin und du ihn nicht mehr wiedererkennst, dann wirst du angewinselt kommen und betteln, dass ich dir einen Job gebe. Und vielleicht, wenn ich ganz gut gestimmt bin, werde ich dir tatsächlich noch einmal die Hand reichen. Aber da musst du schon richtig vor mir kriechen, das kann ich dir versprechen.“
Kanopka stand wieder auf und ging in Richtung Flur, um die Wohnung zu verlassen, drehte sich dann aber noch einmal um und erklärte lautstark: „Du gehörst mir, und du machst, was ich dir sage, hast du das kapiert?“
∞
Arnie liebte seinen Spezialbagger, einen Bobcat. Schallisoliert, hydraulisch und leichtgängig, machte der ihm richtig Spaß. Beim Ausheben alter Gräber musste er natürlich vorsichtig sein, aber seine Erfahrung sagte ihm, wann es genug war. Als der Erdaushub neben der Grabstätte kniehoch lag, schaltete er den Bobcat aus, legte Hacke und Schippe an den Rand des Lochs und kletterte über die Leiter hinunter.
Sofort spürte und hörte er morsches Holz unter seinen Stiefeln brechen. Kalte, modrige Luft stieg ihm in die Nase. Das war der Moment, in dem ihn jedes Mal fröstelte, auch wenn ihn die Beschaffenheit des Sarges nicht interessierte. Oder die des Leichnams. Vor einem Toten musste man sich nicht fürchten, egal in welchem Stadium der Verwesung er sich gerade befand. Arnie ging es nur darum, möglichst schnell mit dem Graben fertig zu werden, denn er hoffte, dass auch die Berliner Bestatter dann ihren Teil zügig erledigen würden, damit er das Grab wieder verfüllen und endlich zu Daniela nach Hause fahren konnte. In einer Nacht wie dieser hatte niemand Lust auf einen gepflegten Plausch am offenen Grab.
Daniela. Natürlich dachte er die ganze Zeit über nur an sie, auch wenn er sich konzentrieren musste, weil er jetzt jeden Moment damit rechnete, auf Holz zu treffen, was bedeuten würde, dass seine Arbeit vorerst abgeschlossen war. Tatsächlich erreichte er, als er die Schaufel das nächste Mal in die Erde führte, den eingebrochenen Sargdeckel. Rasch legte er den gesamten Sarg frei, und als er die Schaufel beiseite stellte und ein Stück des verwitterten Deckels anhob, fiel sein Blick auf die Röhrenknochen der Beine und einen Teil des Beckens. Zwischen den Knochen zu seinen Füßen, noch halb von Erde bedeckt, glänzte etwas in der Dunkelheit. Ein künstliches Hüftgelenk, dachte Arnie. Um genauer zu sehen, schaltete er seine Taschenlampe an, die er immer mit sich trug. Zwei Dinge wurden ihm sofort klar.
Erstens: Das, was glänzte, war zwar Metall, vielleicht sogar Edelstahl, aber es war ganz sicher kein Hüftgelenk. Zweitens: Dieses Ding aus Edelstahl konnte nicht zum eigentlichen Sarg und seinem Bewohner gehören. Seltsam.
Mit den behandschuhten Händen grub Arnie neben seinem Fund weiter und befreite gleich darauf eine komplette Urne, die auf einer Seite mit der Blüte einer Calla verziert war.
Er hob das metallene Fundstück mit beiden Händen an. Als er es zur Seite stellen wollte, damit er den Leichnam weiter bergen konnte, wurde ihm bewusst, dass das Gewicht dieses Behältnisses einfach nicht zu seinem vorgesehenen Inhalt passte. Arnie hielt inne – er musste nachdenken. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Er selbst war an der Grablegung von Theo Koller vor sechs Jahren beteiligt gewesen, und er wusste, dass das Grab seither nicht mehr für eine Urnenbeisetzung geöffnet worden war. Auch der Grabstein selbst schwieg sich aus: Kein zweiter Mensch lag hier neben Theo Koller bestattet. Wie also war die Urne dann ins Grab oder ja eigentlich in den Sarg gekommen?
Vielleicht würde die Inschrift weiterhelfen. Er wischte über den Verschluss der Urne. Sie könnte ihm zumindest zeigen, wessen Asche sich im Inneren befand. Doch der Behälter war nicht nur viel zu schwer für eine mit Asche gefüllte Urne, er besaß auch keinerlei Inschrift.
Seltsam, dachte Arnie erneut, und wenn er nicht gewusst hätte, dass er die Grube zu keiner Zeit aus den Augen gelassen hatte, dann hätte er spätestens jetzt an einen üblen Scherz im Sinne von ‚Verstehen Sie Spaß‘ geglaubt.
So aber kletterte er mit dem Gefäß unter dem Arm umständlich die Leiter hinauf und schaute zum hinteren Friedhofstor, das er an diesem Abend extra unverschlossen gelassen hatte. Er wollte nachsehen, ob die Berliner schon im Anmarsch waren. Wenn ja, musste er seine Arbeit schnellstens beenden. Wenn nein, konnte er einen ungestörten Blick in die Urne riskieren. Arnie stellte sie auf seine wattierte Arbeitsjacke, die er während des Schaufelns ausgezogen hatte.
Um ihn herum war alles still. Hin und wieder fuhr ein Auto jenseits der Friedhofsmauer vorbei. Vereinzelt hörte er von Alkohol aufgekratzte Stimmen, die vom Fünferlsteg herüberkamen, Studenten vermutlich, die bald darauf oben im Wohnheim verschwinden würden. Arnie überlegte, ob er nicht doch lieber schnell seine Arbeit beenden und sich erst, wenn die Berliner Schädel, Knochen und die sie umgebenden breiigen Reste des Verstorbenen verstaut hatten, um den mysteriösen Inhalt der Urne kümmern sollte.
Doch er konnte seinen Blick nicht von dem Behälter lösen. Er kniete sich auf seine Jacke und wog ihn noch einmal in seinen Händen. Er faszinierte ihn. Ratlos senkte ihn Arnie zu Boden. Kein Laut wies auf die Ankunft der Bestatter hin. Er war ganz allein, er und die Toten in ihren Gräbern.
Hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Pflichtbewusstsein, umfasste Arnie mit einer Hand den Deckel des Metallgefäßes. Mit etwas Kraftanstrengung konnte er ihn lösen und drehen. Das Gewinde quietschte. In der Stille des Friedhofs war es das einzige Geräusch, überlaut, erschreckend. Arnie fühlte sich ertappt und schaute sich um. Niemand da, er war noch immer allein. Versunken in sein Tun, dachte Arnie inzwischen weder an die Berliner noch an den zersetzten Leichnam am Boden der Grube. Ihn interessierte ausschließlich, was sich derart Schweres im Inneren des Behälters befand.
Als er den Deckel endlich freibekommen hatte, sah er ein fest zusammengeknülltes Stück Zeitung. Er zog es heraus, musterte es kurz, dann schob er es in die Tasche seiner Jacke. Mit beiden Händen hob er die Urne auf und drehte sie im Lichtkegel seiner Stirnlampe. Im nächsten Moment starrte Arnie fassungslos auf den Inhalt und ihm wurde heiß. „Das, das, das gibt’s doch nicht!“, stotterte er schließlich und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Augen, bevor er noch einmal hineinblickte.