Loe raamatut: «Schnulzenroman»
DANIEL BORGELDT
Schnulzenroman
Die Autobiografie
des Heinrich Fraunhofer
aka Danny Silver
Daniel Borgeldt ist ausgebildeter Buchhändler, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Italienisch und lehrt Deutsch als Zweitsprache an einer Berufsschule. 1982 in Melle (Niedersachsen) geboren, kehrte er seiner Heimatstadt den Rücken, um in Bielefeld sein Abitur nachzuholen. Heute lebt er mit seiner Familie in Mainz und schreibt Rezensionen für »testcard« und »literaturkritik.de«. Und jetzt auch Romane.
1. Auflage November 2020
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz, 2020
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher
Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95575-135-7
eISBN 978-3-95575-613-0
Lektorat: Jonas Engelmann
Gestaltung und Satz: Oliver Schmitt
Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz
Für Judith und Wolfgang
INHALT
Teil I: Die Fahrt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil II: Das Haus
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil III: Die Bühne
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
TEIL I
»Wenn Sie Ihre Eltern wirklich kränken wollen
und nicht den Nerv haben, homosexuell zu
werden, könnten Sie wenigstens eine künstlerische
Laufbahn einschlagen.«
Kurt Vonnegut
1
Ich wachte fünf Minuten vor dem Klingeln des Weckers auf. Mit so einer Situation ist jeder alleine. Es war kurz vor sechs. Ich richtete mich im Bett auf, drehte meinen Unterkörper zur Seite und rutschte bis an den Rand der Matratze, so dass meine Beine aus dem Bett herausreichten, winkelte die Knie an und stellte die Füße auf den Boden, um wach zu werden. In meinem Alter braucht man dafür einen Augenblick. Es funktioniert nicht mehr alles so wie früher. Wie ein blinder Maulwurf tastete ich auf dem Nachttisch nach meiner Brille. Ich musste mich nach dem Schlafen erst einmal zurechtfinden. Dazu rief ich mir ein paar Daten ins Gedächtnis. Mein Geburtstag? 6. Juni 1945. Der heutige Tag? Freitag, der 30. Juni 2017. Wann ist mein Vater gestorben? 1960. Wann meine Mutter? 1999. Wann ist meine Tochter geboren? 1982. Gut, das genügte. Ich schaute mich in meinem 30-Quadratmeter-Zimmer um. Eigentlich war es zu groß für eine Person. Aber im Lerchenhof waren alle Zimmer gleich geschnitten, mit einem kleinen Balkon, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den südlichen Schwarzwald hatte und auf dem absolutes Rauchverbot herrschte, das ich aber häufiger brach und mir dabei vorkam wie ein Teenager, der heimlich in der Schule auf dem Klo raucht. Ich war mir im Lerchenhof häufig wie ein Teenager vorgekommen. Teenager mit 72 Jahren. So könnte der Titel meiner Autobiografie lauten.
Was Frau Dr. Müller-Bach wohl dazu sagen würde? Sie ist die Chefärztin der Klinik und hat alle Patienten dazu animiert, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Sie sagte, man solle keine Kunstwerke verfassen, nur kurz und knapp notieren, was man für wichtig halte. Als wenn das so einfach wäre!
Zufällig fiel mein Blick auf den Abreißkalender, der über meinem Bett hing. Als ich hierherkam, hieß es, wir sollten uns ein Morgenritual aus mehreren kleinen Schritten überlegen, das unserem Tag von Anfang an ein wenig Struktur gebe. Also hatte ich mir in der Buchhandlung des nächsten Ortes ein schwarzes Notizbuch und einen kleinen Abreißkalender besorgt, auf dem für jeden Tag der Spruch eines prominenten Intellektuellen stand. So etwas wie: »Ein Haus ohne Bücher ist arm«, Hermann Hesse, »Der Schwache kann nicht verzeihen«, Mahatma Gandhi usw. Mein Morgenritual bestand nun darin, das Blatt vom Vortag abzureißen, in dem Notizbuch alles, was wichtig war, festzuhalten und manchmal das Rauchverbot zu brechen. Als ich nun beim Morgenlicht auf den Kalender schaute und das Blatt abriss, stand dort: »Wer seine Memoiren schreibt, hat etwas zu verheimlichen«, Kurt Tucholsky.
Ich heiße Heinrich Fraunhofer, aber dieser Name wird Ihnen nichts sagen. Besser bekannt bin ich unter meinem Künstlernamen Danny Silver. In den Siebzigern habe ich Millionen mit Hits wie Nur du und Nachts träume ich nur von dir verdient. Es war die sogenannte »Goldene Zeit des Schlagers« und ich war einer der kommerziell erfolgreichsten Schlagersänger.
Mein Vermögen ist leider auf wenige Besitztümer geschrumpft, zu denen eine Eigentumswohnung in Mainz gehört, die ich von meiner Mutter geerbt habe, und ein Mercedes 200, Baujahr 1982. Früher besaß ich mehrere Häuser in Deutschland, an der Côte d’Azur, in Schottland sowie eine Finca auf Mallorca, außerdem einen Fuhrpark, der aus zwölf Oldtimern und sechs Sportwagen bestand. Aber durch eine raffgierige Plattenfirma, die mich um den Großteil der Rechte meiner Lieder betrog, habe ich in den Achtzigern beinahe alles verloren. Ich lebe heute von spärlichen zwölf Prozent Tantiemen von dem, was mir eigentlich zustehen müsste. Aber ich will mich nicht beschweren.
Ich habe eine Tochter, Clara, aus zweiter Ehe. Sie ist schon erwachsen und hat selbst Kinder. Wir haben seit langer Zeit keinen Kontakt, was an meinem früheren Alkoholproblem liegt, das ich inzwischen aber gut im Griff habe. Clara lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Hamburg und arbeitet als Immobilienmaklerin. Mein negatives Beispiel hat ihr die Lust an allem, was auch nur entfernt nach künstlerischer Existenz aussieht, gründlich verdorben, obwohl sie als Kind eine leidenschaftliche Chorsängerin war. Wahrscheinlich werden meine Enkelkinder auch sehr bodenständige Berufe ergreifen. Und das ist wohl auch besser so.
Es gibt nicht mehr viele Schlagersänger meiner Generation. Denken Sie nur an Ludwig Franz Hirtreiter alias Rex Gildo, der aus dem Fenster seiner Münchner Wohnung sprang, nach einem Streit mit seinem Lebensgefährten. Vielleicht war er es auch einfach leid, immer den gleichen Song zu singen. Aber ich habe Rex Gildo nie persönlich kennengelernt, kann also nur spekulieren, ob er damit wirklich unglücklich war. Oder denken Sie an Drafi Deutscher, Roy Black und Bernd Clüver, die alle Opfer ihrer Alkohol- und/oder Tablettensucht wurden.
Und nun kommen wir zum eigentlichen Grund meines Aufenthalts im Lerchenhof: Auch ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen. In den Gruppentherapien dort habe ich gelernt, gleich offen über alles zu reden, sozusagen mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Hi. Ich bin Heinrich Fraunhofer. Ich bin ein ehemaliger Schlagerstar und ich habe versucht, mich umzubringen. Wie ich das getan habe? Ich sprang, genau wie Rex Gildo, aus dem Fenster, allerdings nicht aus dem meiner Wohnung, sondern aus dem des Hotels Ideal in Oelde, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Vorher hatte ich einen Auftritt bei der Eröffnung eines Autohauses. Muss ich noch mehr sagen?«
Ich stand auf, nahm mir eine Gauloises aus der Schachtel vom Tisch und ging auf meinen Balkon. Er war ungefähr anderthalb Quadratmeter groß und komplett vergittert. Es hatte damit tatsächlich nur eine Person darauf Platz. Und was sollte man dort wohl anderes tun als rauchen? Manchmal sah ich auch andere Leute, die das Rauchverbot brachen, auf ihren Balkonen stehen. Wir winkten uns dann zu als würden wir in vergitterten Raumkapseln einsam durchs All gondeln, froh ein anderes Lebewesen zu sehen, aber unfähig einander zu erreichen.
Der Lerchenhof ist spezialisiert auf Fälle wie mich. Eine Luxusklinik, die sich nicht jeder leisten kann. Mehr als die Hälfte meiner Mitpatienten haben einen oder sogar mehrere Suizidversuche hinter sich. Mein Freund, der Schriftsteller Kurt Vechter, ist auch einer von ihnen. Ich sage, dass er mein Freund ist, obwohl ich mir nicht so sicher bin, immerhin haben wir uns erst vor vier Wochen hier im Lerchenhof kennengelernt. Aber stellen Sie sich vor: Gestern gab er mir die Schlüssel zu einem Haus an der Nordsee, das ihm gehört. Er sagte, ich könne es haben und dort wohnen, es sei ihm nicht mehr wichtig.
Kurt ist genauso wie ich ein alter Knacker, der versucht hat, sich umzubringen. Er trägt immer schwarz: schwarze Schuhe, schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpulli und sieht damit aus wie einer dieser Existentialisten, die in den Fünfzigern auch an deutschen Universitäten auftauchten, bevor diese Spezies in den Sechzigern durch die Marxisten verdrängt wurde, die ihren natürlichen Lebensraum, den Hörsaal, besetzten und durch das Schwingen großer Reden ihre melancholischen Vorgänger, die zwischen Uni und Jazzkeller hin- und herpendelten, verdrängten. Die Leute, die sich Existentialisten nannten, lasen Sartre und Camus oder gaben wenigstens vor, es zu tun, und behaupteten, das Leben sei sinnlos, aber man solle sich über diesen Zustand freuen. Als wenn man für diese Erkenntnis Sartre und Camus lesen müsste! Die meisten männlichen Studenten, die sagten, sie seien Existentialisten, taten das sowieso nur, um Studentinnen ins Bett zu kriegen. Es gab auch ein paar Frauen, die von sich behaupteten, Existentialistinnen zu sein. Warum sie das taten, weiß ich nicht.
Kurt ist Autodidakt und sehr gebildet. Er hat wahrscheinlich auch Sartre und Camus gelesen, aber er ist mit Sicherheit kein Existentialist. Im Lerchenhof trug er diesen Rollkragenpulli in erster Linie, um die Striemen an seinem Hals zu verstecken, von dem Strick, an dem er sich hatte aufhängen wollen.
Albert Camus behauptete ja bekanntermaßen, es gebe nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Meiner Meinung nach hatte Camus damit alles Wichtige gesagt und er hätte gar kein ganzes Buch schreiben müssen. Leider ging es aber noch weiter und natürlich mussten ein paar philosophische Kniffe folgen, um den Lesern die Botschaft zu geben, dass es noch Hoffnung gebe und jeder, der dann doch den Selbstmord wählt, entweder ein Feigling wäre oder die grundlegende Bedingung des Lebens nicht verstanden habe. Ich hätte Camus gewünscht, diese Thesen mal im Lerchenhof im Kreise der Suizidpatienten erläutern zu müssen. Das wäre eine echte Herausforderung gewesen. Wie sich noch manche erinnern mögen, ist Camus 1960 gestorben, übrigens im gleichen Jahr wie mein Vater, allerdings nicht durch Suizid sondern bei einem Autounfall. Er ist noch nicht mal selber gefahren, sondern der Sohn seines Verlegers hat einen Sportwagen, einen Facel Vega, mit Camus und sich darin um einen Baum gewickelt. Dumm gelaufen!
Ich habe gesagt, Kurt Vechter sei Schriftsteller. Er hat jedoch noch nie etwas veröffentlicht, obwohl er mir erzählte, er habe in seinem Leben hundertdreißig Kurzgeschichten und zwanzig Romane geschrieben. Wir haben uns in den vier Wochen unserer Bekanntschaft im Lerchenhof oft unterhalten und er hat mir viele Inhalte seiner Werke anvertraut. Er sagte, sie seien ihm sowieso nicht mehr wichtig.
Kurt schrieb seine erste Kurzgeschichte im Alter von fünfzehn Jahren, als er noch davon träumte, eines Tages ein großer und bekannter Schriftsteller zu werden.
Es war eine Art Fantasygeschichte und spielt in einer Welt, die von fleischfressenden Ziegen beherrscht wird, die sich Schafe, die ihnen geistig unterlegen sind, als Nutztiere und Futter halten. Der grundlegende Konflikt der Geschichte wird von einer jungen Ziege ausgelöst, die behauptet, die Schafe wären den Ziegen gleich und hätten eine Seele. Sie wird daraufhin von ihresgleichen verstoßen. Es gelingt ihr jedoch, mit ein paar Schafen zu fliehen und zusammen mit ihnen eine Art Kommune aufzubauen, in der alle gleichberechtigt sind!
Ich ließ meinen Blick über den Schwarzwald schweifen, landete aber bei den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes, das auch zum Lerchenhof gehörte. In manchen Zimmern brannte Licht, obwohl es draußen schon hell war. Die Patienten machten sich fertig für einen weiteren Tag voller Therapien und Gespräche. Manche von ihnen hatte ich in meiner Zeit hier näher kennengelernt. Wir waren eine nette, kleine Familie, wenn auch nur auf Zeit. Jeden Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt, falls wir nicht schon auf waren. Wir mussten uns fertig machen und dann in den Gemeinschaftsraum zum Frühstück kommen. Danach konnte man alle möglichen Arten von Therapien machen: Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Gesprächstherapie, einzeln oder in der Gruppe usw. Man konnte frei wählen, aber wenn man einmal eine Therapieform gewählt hatte, musste man sie eine Zeit lang belegen.
Ich hatte alle zwei Tage eine Sitzung bei Frau Dr. Müller-Bach, die mir sagte, ich solle meine Autobiografie schreiben oder mir wenigstens Gedanken darüber machen, was mir in meinem Leben wichtig sei und das dann aufschreiben. Schreibtherapie nannte sie das. In der Klapse durften wir nicht einmal ein Buch lesen, das über das Niveau von Foto-Love-Storys hinausging, um negative Einflüsse von uns fernzuhalten. Und nun sollten wir in den Abgründen unserer Seele herumfischen. Aber die Psychosomatik war eben etwas anderes. Ich war eine Stufe weiter und wurde auf das Leben draußen vorbereitet.
Ich sagte gerade, dass ich in der Klapse war. Der Arzt, der mich nach meinem Sprung aus dem Fenster untersuchte und zu seiner Verblüffung feststellte, dass ich körperlich völlig unversehrt war, verfügte die Einweisung auf der Stelle. Ich befand mich damals in einem Zustand, in dem man sowieso alles mit mir hätte machen können. Also warum nicht die Klapse? Bleibt noch zu sagen, warum ich eigentlich unverletzt war. Das lag daran, dass ich aus meinem Zimmer im zweiten Stock direkt durch das geöffnete Dachfenster des Wellness-Bereichs des Hotels in den Swimming-Pool gesprungen bin. Das Fenster war geöffnet, weil es schon spät abends und der Wellness-Bereich geschlossen war. Das Reinigungspersonal war gerade dabei sauberzumachen und ein wenig zu lüften. Als sie meinen Sprung live miterlebten, riefen sie sofort ihren Chef und den Notarzt an. Dafür, dass sie mit Sicherheit unterbezahlt waren, waren sie sehr pflichtbewusste Leute.
Nach drei Monaten in der geschlossenen Psychiatrie wurde ich der Psychosomatik überstellt und landete im Lerchenhof. An meinem ersten Tag fragte mich eine der Mitpatientinnen, warum ich dort sei. Ich sah keinen Grund, zu lügen und so erzählte ich ihr von meinem Sprung. Sie sagte daraufhin, dass das der wohl schlechteste Selbstmordversuch sei, von dem sie jemals gehört habe.
Der Name der jungen Frau ist Jessy Baumann. Sie ist auch Musikerin, allerdings in einer Punkband, die nur aus Frauen besteht. Jessy bezeichnet sich selbst als Riot Grrrl. Ich weiß nicht, was das ist, aber es scheint ihr sehr wichtig zu sein. Wie viele junge Leute ist sie gepierct und tätowiert. Ihre Haare sind lang und rot gefärbt und an einer Seite abrasiert. Als wir uns gleich am ersten Tag kennenlernten und sie sich über meinen Suizidversuch lustig machte, fragte ich sie, warum sie denn bitte schön hier sei. Sie antwortete, sie habe versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich wollte ihr irgendwie heimzahlen, dass sie sich über mich lustig gemacht hatte und fragte sie, was denn passiert sei, dass es bei ihr nicht geklappt hatte. Sie antwortete, sie habe es einfach nicht ernst genug gemeint.
Im Laufe der nächsten Wochen lernte ich Jessy besser kennen. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt und könnte damit natürlich gut und gerne meine Tochter sein. Sie kommt aus Ludwigshafen und ihr Vater ist Ingenieur bei der BASF. Nach dem Abitur ging sie nach Berlin und schrieb sich für Germanistik und Philosophie an der Humboldt-Universität ein. Nebenbei jobbte sie als Kellnerin und begann als Gitarristin in Punkbands zu spielen. Inzwischen hat sie ihre eigene Band gegründet, die The Paloma Pussys heißt. Warum sie sich dann aber plötzlich das Leben nehmen wollte, sagte sie mir nicht, obwohl ich sehr offen ihr gegenüber war. Nicht, dass ich glaube, man braucht dafür unbedingt einen guten Grund, aber bei Jessy hatte ich irgendwie das Gefühl, dass etwas mehr dahinter steckte. Und das war bestimmt mehr, als herausgefunden zu haben, dass das Leben sinnlos ist.
Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, wie ich auf Jessy aufmerksam wurde. Sie saß auf einer Bank im Park, der zum Lerchenhof gehörte, und las ein Buch. Ich bemerkte im Vorbeigehen zufällig den Titel. Es war Die Vernichtung der europäischen Juden von Raul Hilberg. Ich stand wohl ein bisschen zu lange da, denn schließlich senkte sie das Buch, blickte mich an und fragte: »Is was?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also meinte ich: »Ein interessantes Buch lesen Sie da.«
»Ach das, ja«, antwortete sie, worauf eine längere, unangenehme Pause entstand.
Schließlich versuchte ich einen Witz zu machen, um das Schweigen zu brechen: »Ich dachte, Ihre Generation interessiert sich nur für Pornos und Videospiele.«
Jessy sah mich an und antwortete: »Und ich dachte, Ihre Generation interessiert sich nur für Schlager.«
Ich war ziemlich überrascht. »Kennen Sie mich?«, fragte ich.
Sie grinste.
»Ich war mir erst nicht sicher. Aber doch, ja. Du bist dieser Schlagertyp. Ist doch okay, wenn ich dich duze? Wir sind doch alle gleich hier?«, meinte sie grinsend und redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten: »Meine Oma hatte eine Plattensammlung mit Schlagern. Auf dem einen Cover war ein Foto von dir. Die goldenen Hits der 70er oder so ähnlich. Als Kind habe ich, zusammen mit meinen Cousins, bei Familienfesten aus Langeweile immer die Plattensammlung durchgehört und mir die Cover angeschaut. Dein Gesicht war eins von denen, an die ich mich irgendwie erinnere. Du warst damals natürlich viel jünger und hattest auch keine langen Haare und keinen Bart. Darum war ich mir auch erst nicht sicher.«
Jessy hatte Recht, nicht nur was das Alter anging. Äußerlich hatte ich mich seit den Siebzigern so verändert, dass ich dachte, kaum jemand könnte mich von alten Fotos wiedererkennen. Seit vielen Jahren ließ ich mein Haupt- und Barthaar wachsen, so dass ich aussehe, wie ein alter Einsiedler, ein Waldschrat. Ich habe frappierende Ähnlichkeit mit Lee Marvin, dem Lee Marvin aus dem Westernmusical Paint your waggon, der Wandrin’ Star sang.
Ich setzte mich und wir redeten weiter. Jessy stellte mir im Laufe unseres Aufenthalts häufig Fragen, die eindeutig unter die Gürtellinie gingen. Sie benahm sich unmöglich. Sie sagte so Sachen wie: »Wenn ich ein Schlagerstar wäre, würde ich nichts anbrennen lassen und ordentlich durch die Gegend vögeln. Wie viele Groupies hast du denn so gebumst?« oder: »Du scheinst ja irgendwie ganz vernünftig zu sein. Wie bist du denn darauf gekommen, Schlager zu machen?«
Auf die letzte Frage antwortete ich ihr: »Ich musste von irgendetwas leben und zu allem anderen besaß ich kein Talent.«
Ich fand meine Antwort ziemlich gut, aber sie schien nicht zufrieden zu sein.
»Ich glaub nicht an so was wie Talent«, sagte sie. »Wenn man etwas häufig genug gemacht hat, dann kann man das irgendwann richtig gut. Ich zum Beispiel hab ein paar Songs geschrieben, die wirklich Scheiße sind, aber ich weiß, wenn ich genau da weitermache, werde ich immer besser.«
»Ich wusste nicht, dass es beim Punk darum geht, möglichst gut zu sein«, meinte ich, um sie zu ärgern.
»Was weißt du denn bitte schön von Punk?«
Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung davon. Ich wollte mir aber vor ihr keine Blöße geben, also packte ich ein paar rudimentäre Kenntnisse aus.
»Mein liebes Kind, 1979, im Hochjahr von Punk, war ich 34 Jahre alt und du noch nicht mal geboren. Ich weiß sehr gut, was Punk ist. Und die Sache mit dem Talent. Na ja. Irgendwas muss da auf jeden Fall dran sein. Ich geb’ dir ein Beispiel. Du kennst doch bestimmt Tolstoi? Dann weißt du vielleicht auch, dass er in seinen späten Jahren versucht hat, ein einfaches Leben auf dem Land zu führen und seine Hausangestellten als gleichberechtigt behandelt hat, was damals im zaristischen Russland ungefähr so obszön war, wie heute, Tierpornos zu drehen. Auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit begann er Schuhe zu machen. Aber er machte es so schlecht, weil er sein ganzes Leben lang nie körperlich oder handwerklich gearbeitet hatte, dass sein Hauspersonal und seine Familie alle nur aus Höflichkeit die Schuhe trugen, die er für sie gemacht hatte. Der vielleicht größte Romancier der Weltliteratur war also gleichzeitig der schlechteste Schuhmacher weit und breit. Was ich meine ist nur, manche Leute sollten einfach bei dem bleiben, was sie richtig gut können und wofür sie Talent haben.«
Man kann sich an dieser Stelle fragen, woher ein Schlagersänger das alles weiß? Na ja, nur weil ich mit Schnulzen ein Vermögen verdient habe, bedeutet das nicht, dass ich ungebildet bin! Aber in diesem Fall hatte mir Kurt diese Anekdote kurz vorher erzählt.
Nach diesem Gespräch herrschte eine Weile Stille zwischen uns. Als ich sie ein paar Tage später traf, sprach sie mich auf diese »Tolstoi-Sache« noch einmal an und meinte: »Wenn er lange genug geübt hätte, wäre er sicher ein super Schuhmacher geworden. Es war für ihn nur leider ein bisschen zu spät.« Sie ist so stur!
An meinem letzten Tag im Lerchenhof hatte ich keine Termine. Das Abschlussgespräch mit Frau Dr. Müller-Bach hatte am vorigen Tag stattgefunden. Sie ist ungefähr zehn Jahre jünger als ich, mit einem strengen Zug um den Mund, halblangen, ergrauten Haaren und einem stechenden Chefärztinnenblick. Bei unserer letzten Sitzung war sie jedoch sehr herzlich zu mir und verabschiedete sich vielleicht ein wenig zu überschwänglich, dafür, dass sie meine Therapeutin war. Frau Dr. Müller-Bach hat ihren Doppelnamen von ihren beiden geschiedenen Ehemännern. Sie sagte mir, sie habe immer noch Kontakt zu beiden und sie seien immer noch sehr nett. Das nenne ich mal Treue bis in den Tod. Bleibt abzuwarten, was sie von ihrem jetzigen Mann behalten wird. Ich dachte, dass ich das auf jeden Fall nicht mehr miterleben werde, denn gleich sollte ich durch das Tor des Lerchenhofs gehen und nie wiederkommen. Mein alter Mercedes war auf einem bewachten Parkplatz nicht weit weg geparkt. Ich wollte mit einem Taxi dorthin fahren und mich auf den Weg nach Trangast machen. So hieß die kleine Küstenstadt an der Nordsee, wo Kurts Haus stand. Ich wusste nichts über dieses Kaff, nur dass es dort dieses Haus gab, in dem ich dann meine Memoiren schreiben wollte. Jawohl, ich war entschlossen herauszufinden, was ich eigentlich zu verheimlichen hatte. Das war es, was ich von Frau Dr. Müller-Bach behalten wollte.
Ich drückte meine Zigarette am Gitter aus, warf sie drinnen in meinen Papierkorb und begann, meine Sachen zu packen. Es waren nicht besonders viele, aber ich ließ mir Zeit. Dann nahm ich meine Tasche und verließ das Zimmer, das wochenlang mein Zuhause gewesen war. An der Pforte sollte der Arztbrief für mich bereitliegen, sozusagen meine Entlassungspapiere.
»Es wird empfohlen, dass sich der Patient umgehend in ambulante Behandlung begibt. Eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie erscheint ratsam.«
So oder ähnlich hatte es mir tags zuvor Frau Dr. Müller-Bach persönlich gesagt, in ihrem schönsten Chefärztinnenjargon. Ich hatte ihr Büro mit dem guten Gefühl verlassen, noch einmal davongekommen und keiner ihrer verflossenen Ehemänner geworden zu sein.
Ich machte noch einen Abstecher zum Frühstückssaal, den ich als Patient jeden Morgen besucht hatte, entdeckte dort aber keine Bekannten, nur ein paar neue Gesichter. Schnell nahm ich eine Schüssel Müsli und einen Kaffee zu mir und machte mich auf den Weg zur Pforte. Plötzlich stand Jessy mit gepackten Taschen vor mir.
»Ich habe Kurt getroffen. Er hat mir alles erzählt. Ich komme mit dir«, sagte sie.
Ich starrte sie an.
»Und auf den Gedanken, mich zu fragen, ob mir das recht ist, bist du wohl nicht gekommen?«
»Warum soll dir das nicht recht sein? Es ist schließlich nicht dein Haus. Von Kurt habe ich schon das Okay. Ihm ist das alles egal.«
»Mir aber nicht.«
»Was willst du denn bitte schön völlig alleine in diesem Kaff an der Nordsee anfangen?«
»Ich will meine Memoiren schreiben.«
»Na, umso besser. Ich kann dir dabei helfen.«
»Wie willst du mir denn dabei helfen? Für so was braucht man Ruhe und vor allem Einsamkeit.«
»Das hast du wohl in einem Ratgeber für angehende Schriftsteller gelesen, was? Klischeehafter geht’s ja nicht. Du kannst mir auf der Fahrt Anekdoten aus deinem Leben erzählen und ich sag dir dann, welche ins Buch kommen. Außerdem schuldest du mir noch eine Antwort.«
Was sie meinte, war die Antwort auf die Frage, warum ich Schlagersänger geworden war. Jessy war während meines Aufenthalts im Lerchenhof immer wieder darauf zurückgekommen, weil meine erste Antwort sie nicht zufriedengestellt hatte. Irgendwann einmal hatte ich keine Geduld mehr und schrie sie an: »Ist ja gut! Ich sags dir! Weißt du, ich bin niemand, der sich nicht darüber bewusst wäre, dass das, was er gemacht hat, nur Schnulzen waren. Seichte Unterhaltung, die die Leute nach Feierabend hörten, Lieder bei denen sie mitsummten und nicht einmal wussten, wie der Song genau hieß. Aber vielleicht wollte ich noch etwas anderes. Ich wollte die Deutschen, die in der Zeit, als ich anfing, Musik zu machen, hauptsächlich aus Altnazis bestanden, mit meiner Musik zumüllen. Ich wollte ihnen eine heile Welt geben, eine heile Welt, die ihnen vorne und hinten wieder rauskam, die sie retardieren ließ, weil sie es nicht besser verdient hatten, weil sie zugesehen hatten, wie sechs Millionen Juden deportiert und ermordet worden waren, weil sie Hitler gewählt hatten und es immer wieder getan hätten. Deshalb habe ich begonnen, Schlager zu machen.«
Nach diesem Ausbruch ließ sie mich eine Weile in Ruhe. Aber bald kam sie wieder und ihre Fragerei nach Details wurde noch bohrender, besonders, weil ich einmal erwähnt hatte, dass ich nicht mit Schlagern angefangen hatte. Eine Zeit lang wollte ich nichts lieber machen als Serielle Musik. Diese Musikrichtung, die man kaum hören kann, in der Nachfolge der Zwölftonmusik, deren Stücke so Namen haben, wie Subtraktion 33, Molekül XII–XXIII oder Dienstag aus Licht.
Wir standen also beide mit gepackten Taschen voreinander.
Ich seufzte. »Aber du bist hier doch noch gar nicht fertig. Soweit ich weiß, hast du noch mindestens eine Woche vor dir.«
»Das stimmt. Aber das ist alles schon geregelt. Ich gehe auf eigene Verantwortung. Das ist ja kein Knast hier.«
Damit hatte Jessy natürlich Recht. Wir konnten jederzeit auf eigenen Wunsch den Lerchenhof verlassen, wenn wir wollten. Es schien, als gab es keine Möglichkeit, das Drohende zu verhindern.
Aber ich blieb unerbittlich: »Nein Jessy, keine Chance. Ich gehe alleine. Du kannst mich nicht umstimmen. Es gibt nichts, was du sagen kannst, um das zu ändern.«