Loe raamatut: «Eine Geschichte des Krieges», lehekülg 16

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»Der Blick, der tötet«

Die Drohnenangriffe unserer Gegenwart sind also nicht aus dem Nichts entstanden. Will man die heutigen Drohnen verstehen, muss man bedenken, dass durch Bestückung der Predator mit Hellfire-Raketen zum ersten Mal zwei zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte der Drohnen entwickelte Aspekte der Drohnentechnologie miteinander kombiniert wurden: die Fähigkeiten zur Überwachung und zum Zielbeschuss. Der Prozess der Aufklärung und Identifizierung der Ziele einerseits und die Mechanismen zu ihrer Eliminierung andererseits, die normalerweise räumlich und zeitlich getrennt waren, unterscheiden sich immer weniger. Grégoire Chamyou hat dies als den »Blick, der tötet«, beschrieben. Je mehr sich diese Prozesse beschleunigen, desto mehr verschwindet das menschliche Bedienpersonal aus der Entscheidung zum Angriff und desto weniger Zeit und Spielraum bleiben uns zur kritischen Prüfung und Reflexion.

Während sich der Zielapparat der Drohnen zunehmend auf Metadaten, Algorithmen und Automatisierung stützt, ist es außerdem notwendig, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie Individuen allmählich in Abstraktionen verwandelt werden, und zwar in dem Maße, wie die »Analyse der Lebensgewohnheiten« immer öfter als Grundlage der Drohnenangriffe dient. Die militärischen und akademischen Argumente für die Entwicklung automatisierter Drohnen betonen deren Fähigkeit zur Berechnung und Bewältigung gigantischer Datenmengen, die ihnen erlauben, besser und schneller zu entscheiden und zu töten, als Menschen dies können. Manche Kritiker*innen erwidern, dass die Entscheidung über das Töten aus grundsätzlichen ethischen Erwägungen das Vorrecht der Menschen bleiben muss. Allerdings trägt diese Debatte nicht recht der Tatsache Rechnung, dass die Verschiebung hin zur Automatisierung nur das Ergebnis einer viel älteren Geschichte von Versuchen ist, unbemannte Flugzeuge in Militäroperationen zu integrieren. Die Berücksichtigung dieser Geschichte zeigt, dass die Frage nicht so sehr als diejenige nach dem Roboter- oder nichtmenschlichen Krieg gestellt werden darf: Die heutigen Drohnenangriffe stellen nur neue Formen dar, in denen die Menschen – wie sie es immer versucht haben – die geografischen und technologischen Grenzen des Krieges verschieben.

Katharine Hall ist Postdoctoral Fellow am Institut für Geografie in Dartmouth. Sie arbeitet über westliche Gewalt und die gegenwärtigen Konfigurationen der Staatsmacht.

Literaturhinweise

Zu Daten über die Drohnenangriffe siehe Jessica Purkiss und Jack Serle, »Obama’s Covert Drone War in Numbers: Ten Times more Strikes than Bush«, The Bureau of Investigative Journalism, 17. Januar 2017, https://www.thebureauinvestigates.com/stories/2017-01-17/obamas-covert-drone-war-in-numbers-ten-times-more-strikes-than-bush [10. 6. 2019].

Zu Quellen über die Geschichte der Drohnentechnologie siehe Katharine Kindervater, »The Emergence of Lethal Surveillance. Watching and Killing in the History of Drone Technology«, Security Dialogue 47, Nr. 3 / 2016, S. 223–238.

Zu spezifischen Informationen über den Vietnamkrieg siehe Ian Shaw, Predator Empire. Drone Warfare and Full Spectrum Dominance (Minneapolis 2016).

Für Beispiele der Debatte über automatisierte Drohnen siehe Ronald Arkin, »The Case for Ethical Autonomy in Unmanned Systems« (Journal of Military Ethics 9, Nr. 4 / 2010), sowie Peter Asaro, »On Banning Autonomous Weapon Systems. Human Rights, Automation, and the Dehumanization of Lethal Decision-Making« (International Review of the Red Cross 94, Nr. 886 / 2012, S. 687–709). Siehe auch Grégoire Chamayou, Ferngesteuerte Gewalt (Wien 2014).

Querverweise

Technologie ist nichts ohne Strategie132

Der Bombenkrieg, vom Boden aus betrachtet568

Richard Overy
Der Aufstieg des Kriegsstaates

Nur durch extreme Beanspruchung ihrer ökonomischen Ressourcen und ihrer aktiven Bevölkerung konnten die Staaten im 20. Jahrhundert Kriege auf globaler Ebene führen. Sowohl Demokratien als auch Diktaturen haben dabei ihre Vorrechte und ihre Macht ausgebaut.

Über Jahrhunderte haben die Staaten Kriege geführt, aus denen sie gestärkt oder geschwächt hervorgingen. Die qualitative Veränderung des Krieges im 20. Jahrhundert hingegen hat den Staaten die Mobilisierung ihrer gesamten ökonomischen Ressourcen und aktiven Bevölkerung abverlangt, um in den Krieg ziehen und die Kriegsanstrengung aufrechterhalten zu können. Indem sich der Staat in den »totalen Krieg« stürzte, wie man ihn von nun an nannte, hat er selber Veränderungen durchlaufen. Doch die Wirkung war eine gegenseitige: Der Übergang zum totalen Krieg, wie er sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog, ist auch eine Folge der ökonomischen und sozialen »Modernisierung« des Staates. Ohne einen Staat mit voll entwickelter Verwaltungsstruktur, hochentwickelten Kommunikationsmitteln, Statistikamt, einer Propaganda, die die Bevölkerung überzeugen und dazu bringen kann, aktiv zu werden, mit geschulten Männern und Frauen und einer zur Massenproduktion fähigen Industrie hätte die Mobilisierung der gesamten aktiven Bevölkerung und der ökonomischen Ressourcen nur wenig bewirken können.

Da diese Bedingungen erfüllt waren, konnten die Großmächte zur Zeit der Massenmobilmachung zwei Weltkriege führen und die Supermächte des langen Kalten Krieges dank beträchtlicher und weiterentwickelter militärischer Mittel ihre Kriegsbereitschaft aufrechterhalten. In der Gegenwart haben sich kleinere Länder manchmal durch den Krieg gezwungen gesehen, sich zu »Kriegsstaaten« zu entwickeln. Das gilt beispielsweise für Israel, den Irak und Nordkorea, wo der Zustand ständiger militärischer Bereitschaft eine große Rolle spielt.

Anfänge des »Militär-Industrie-Komplexes«

Die Beziehung zwischen Kriegführung und Staatsmacht gab es lange vor dem 20. Jahrhundert. Das Ausmaß der französischen Revolutionskriege und des Ersten Weltkrieges zwangen die Großmächte zu einer umfangreichen Mobilisierung der Arbeitskräfte und industriellen Ressourcen. Wehrpflicht und Beschlagnahme erweiterten die Befugnisse des Staates, auch wenn für den Hauptteil der ökonomischen Erfordernisse des Krieges noch nichtstaatliche Akteure verantwortlich blieben und die lokalen Behörden maßgeblich an der Mobilmachung beteiligt waren. Zu dieser Zeit befand sich der »Militär-Industrie-Komplex«, wie er heute genannt wird, noch in seinen Anfängen. Der Staat organisierte seine Ressourcen nicht auf systematische Weise. Außerdem waren die meisten Kriege des 19. Jahrhunderts kurzlebig und erforderten nur wenige Anstrengungen seitens des Staates, Arbeitskräfte und Versorgung bereitzustellen.

Der Amerikanische Bürgerkrieg, der manchmal als der erste totale Krieg beschrieben wird, bildet eine Ausnahme. Ohne Aussicht auf einen schnellen Sieg wurde er zum Schauplatz einer breiten Mobilisierung der ökonomischen und sozialen Ressourcen. In den 1850er Jahren war der Zentralstaat noch schwach, die Besteuerung niedrig, und die Interessen der verschiedenen Unionsstaaten blieben gewahrt. Die Entscheidung der Südstaaten, sich abzuspalten, zwang die Bundesregierung in Washington, dem Staatsapparat mehr Gewicht zu verleihen (1865 zählte man 200 000 Angestellte auf Bundesebene, fünfmal so viel wie 1861), neue Steuern zu erheben und Kredite in beispielloser Höhe aufzunehmen. Zwischen 1857 und 1860 belief sich der Bundeshaushalt lediglich auf 274 Millionen Dollar. Im Verlauf der vier Jahre des Bürgerkrieges erreichten die Aufwendungen eine Gesamtsumme von 3,4 Milliarden Dollar, 1,8 Milliarden davon direkt für Militärkampagnen.

Paradoxerweise war es die weniger urbanisierte, weniger industrialisierte, jeder Zentralstaatlichkeit feindlich gesinnte Konföderation im Süden, in der sich der Staat am stärksten in die Kampfhandlungen verwickelte. »Gegenwärtig ist es geboten, dass sich die ganze Nation in eine Armee verwandelt, in der die Produzenten die Versorgung sichern und die Soldaten kämpfen«1, konstatierte Robert Edward Lee, Oberbefehlshaber der Konföderiertenarmee. 1863 brachte der Süden mit der Wehrpflicht, der Zunahme der staatlichen Kontrolle und der Überwachung der Kriegsproduktion effektiv die gesamte Bevölkerung auf Linie. Die Rhetorik in beiden Lagern definierte den Konflikt als »Volkskrieg«: Alle mussten dazu beitragen und sich zu Opfern für den Endsieg bereit erklären. Dennoch blieb auf beiden Seiten ein Großteil der Kriegsanstrengung auf Freiwilligkeit gegründet. Nach Schätzungen waren lediglich 10 Prozent der Unionssoldaten eingezogen, alle anderen hatten sich freiwillig gemeldet. Die Union war stark von privatem Handel und privater Finanzierung abhängig, da ihr die Mittel und die Erfahrung zur staatlichen Wirtschaftskontrolle fehlten. Nach 1865 verschwanden die neuen Bundesbehörden, und der Bundeshaushalt und der Staatsapparat schrumpften in einem Maße, dass am Ende die Unionsarmee die Besetzung der Südstaaten organisierte und leitete.

Wenn man sagen kann, dass der Amerikanische Bürgerkrieg die Konflikte des 20. Jahrhunderts bereits ankündigte, dann gilt das vor allem für die Ausdehnung der Kämpfe und die Einbeziehung der Zivilist*innen. In den Vereinigten Staaten wie in den großen europäischen Ländern entsprachen die Militärausgaben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur einem Bruchteil des Nationalprodukts – 1914 im Allgemeinen zwischen 2 und 4 Prozent –, aber dafür einem viel größeren Teil der Gesamtausgaben: In dieser Zeit erhoben die Staaten noch wenig Steuern und spielten auch keine große Rolle in der Finanzierung der Wohlfahrt sowie des Gesundheits-, Bildungs- und Transportsystems. Die Streitkräfte bildeten, wenn sie Krieg führten oder sich darauf vorbereiteten, tendenziell »einen Staat im Staate« und stützten sich für ihre Belange auf freiwilliges Engagement oder nichtstaatliche Institutionen. Die Militärbehörden übten eine strenge Kontrolle über die Waffenproduktion und -entwicklung aus. Wenn sich der Staat an der Beaufsichtigung der Mobilmachung versuchte, wie Frankreich im Sommer 1870 in Reaktion auf den Einmarsch der deutschen Armeen oder Großbritannien während des Zweiten Burenkrieges 1899–1902, erschwerten die fehlende Voraussicht und Verwaltungspraxis die kurzfristige Aushebung, Ausbildung und Ausrüstung der Truppen.

Die beiden Weltkriege veränderten die Rolle des Staates in Kriegszeiten. 1914–1918 standen sich ganze Gesellschaften gegenüber, in denen die Staaten die Hauptrolle in der Mobilisierung der ökonomischen, sozialen, moralischen und kulturellen Ressourcen spielten. Nur die staatlichen Behörden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene konnten die Einbeziehung der Zivilist*innen, Wehrpflichtigen oder Arbeiter*innen, Büroangestellten oder Bauern und Bäuerinnen organisieren, die zu der Kriegsanstrengung hinzugezogen wurden. Die Mobilmachung der gesamten Nation brachte auch mit sich, dass die Schwächung oder Zerstörung der Heimatfront des Gegners zu ebenso wichtigen strategischen Zielen wurden wie der Sieg über seine Streitkräfte. Der Begriff des »totalen Krieges« stammt vom deutschen General Erich Ludendorff, der ihn während des Ersten Weltkrieges entwickelte und in einem 1935 erschienenen Buch theoretisch ausarbeitete: »Das Wesen des totalen Krieges beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines Volkes.«2 Der Staat müsse sich den Erfordernissen des Krieges beugen und für die »Bereitstellung seiner [des Volkes] seelischen, physischen und materiellen Kräfte für die Kriegführung«3 sorgen.

Auch wenn über die Definition des totalen Krieges viel gestritten wurde, hat sich in erster Linie die Ludendorffs durchgesetzt. Der britische Militärtheoretiker Cyril Falls sah in einem Essay über »die Doktrin des totalen Krieges« (»The Doctrine of Total War«) von 1941 darin »die Ausrichtung jedes Teilbereichs der Nation, jeder Phase ihres Tuns auf den Kriegszweck«4. Die fast universelle Anerkennung dieser Idee galt schließlich als eine selbsterfüllende Prophezeiung. Im Zweiten Weltkrieg teilten die Bevölkerung und ihre Führung das Postulat, dass der moderne Krieg vom Staat verlangt, die Mobilmachung auf ein historisch beispielloses Niveau zu heben oder anders die Niederlage in Kauf zu nehmen.

Victory-Bonds: Aus dem Patriotismus Kapital schlagen

Bei Kriegseintritt im Sommer 1914 rechneten die Großmächte nicht damit, dass der Staat eine Schlüsselrolle in einem lang andauernden Konflikt spielen würde. Man erwartete eine Reihe kurzer Feldzüge, durchgeführt von den aus bestehenden Reserven gezogenen verfügbaren Truppen. Es stimmt, dass der Konflikt schon 1914 hätte enden können, wenn Deutschland die Erste Schlacht an der Marne oder Russland die bei Tannenberg gewonnen hätte. Erst mit der Zeit begriffen die Kriegsparteien, dass sie es mit einem Abnutzungskrieg zu tun hatten. Zu Beginn der Kampfhandlungen rechnete die französische Armee damit, täglich 13 600 Artilleriegeschosse zu brauchen; im September 1914 forderte sie 50 000, im Januar 1915 dann 80 000; im folgenden Herbst waren 150 000 nötig. Der unerwartete Bedarf an zusätzlichen Truppen und die zunehmende Zahl an Arbeiter*innen, die zur Munitionsherstellung herangezogen wurden, zwangen die Staaten, ihre Kontrolle über die Arbeitskräfte in der Industrie und in der Landwirtschaft zu erhöhen.

Selbst in den Ländern, die wie Frankreich oder Russland bereits über einen starken Staat und eine bürokratische Kultur verfügten, nahmen die Veränderungen Proportionen an, die man sich zuvor nicht vorgestellt hatte. Davon zeugt der Anteil des Nationaleinkommens, der für die Staatsausgaben aufgewendet wurde. In Großbritannien, wo der öffentliche Sektor relativ bescheiden ausgebaut war, stiegen sie von 8,1 Prozent im Jahr 1913 auf 37,1 Prozent 1917; in Frankreich von 10 Prozent vor dem Krieg auf 53,5 Prozent 1918; in Deutschland, wo die Macht des Zentralstaates vor dem Krieg reduziert war, von 9,8 Prozent 1913 auf 59 Prozent 1917, was der größte Anteil unter allen kriegführenden Mächten war. In Russland, wo das Nationaleinkommen nach 1915 rasant einbrach, stiegen die Staatsausgaben von 3,4 Milliarden Rubel 1913 auf 30,6 Milliarden 1917. In den Vereinigten Staaten, die 1917 in den Krieg eintraten, stiegen die Staatsschulden des Bundes von 1,2 Milliarden Dollar 1916 auf 25,5 Milliarden 1919, und dies nicht nur zur Finanzierung der eigenen Kriegsanstrengung, sondern auch zur Vergabe von Krediten in Höhe von 7,5 Milliarden Dollar an die Alliierten.

Die Forderungen, die der Staat zum Kriegführen stellte, brachten Finanz-, Industrie- und Agrarsektor durcheinander. Bis 1914 blieben seine Eingriffe im Allgemeinen in engen Grenzen und die Steuersätze niedrig. Das vorherrschende Wirtschaftsmodell war liberal: auf Freihandel, Industrie und Geschäft in Privathand und freiwillige Mitwirkung gegründet. Das alles änderte sich mit Kriegseintritt. Zivilist*innen wurden sehr viel stärker direkt und indirekt besteuert, was das Konsumniveau im selben Maße absenkte; die Anleihen zur Deckung der wachsenden Staatsschulden bewirkten eine beträchtliche Verlagerung von Geldern, die in den Privatsektor hätten investiert werden können, hin zum öffentlichen Sektor und in sein Budget für Armee und Kriegsindustrie. Diese Anleihen wurden von den Regierungen unter massiver Propaganda ausgegeben, die die Bürger*innen dazu anhielt, zur Finanzierung der Kriegsanstrengung beizutragen. Für den amerikanischen Finanzminister William Gibbs McAdoo waren die Liberty-Bonds und die Victory-Bonds ein Mittel, »aus dem Patriotismus Kapital zu schlagen«. Daraus resultierten auf den Finanzmärkten, die so starke staatliche Eingriffe nicht gewöhnt waren, hohe Inflationsraten. 1918 verloren die deutsche Mark und der französische Franc die Hälfte ihres Werts. In Russland genügten die Anleihen und Steuern nicht zur Deckung der Schulden, sodass der Staat neues Geld ausgab, auch wenn der Rubel 1918 fast wertlos geworden war. In Großbritannien, wo der Staat stärker als anderswo auf eine Erhöhung der direkten Steuern zurückgriff, stiegen die öffentlichen Einnahmen fast auf das Fünffache, und dennoch wuchsen die Schulden Jahr für Jahr, sodass sie 1917–1918 bei 47 Prozent des BIP lagen. Der junge Ökonom John Maynard Keynes, zu der Zeit hoher Beamter beim britischen Schatzamt, beklagte die finanziellen Risiken, die die Regierung eingegangen war, bevor amerikanische Unterstützung eintraf: »Wir schleppten uns mit immer nur ein oder zwei Wochen Liquidität voran, bis dann im März 1917 die Vereinigten Staaten eingriffen und das Problem gelöst war.«5

Die Inflation speiste sich aus dem allgemeinen Scheitern der Staaten, die Preise zu kontrollieren oder die Rationierung der Waren zu organisieren. Ab einem bestimmten Niveau drückte dies auf die Motivation der Arbeiter*innen, deren Löhne im Allgemeinen nicht dem Preisanstieg entsprechend angehoben wurden. In Russland misslang es dem Staat, die Inflation in den Griff zu bekommen und auf einer gerechten Grundlage die Versorgung der städtischen Arbeiter*innen mit dem Lebensnotwendigen sicherzustellen. Im Winter 1916–1917 führten die Entbehrungen zu sozialen Unruhen und schließlich zur Februarrevolution von 1917. In Deutschland wandten sich die Arbeiter*innenproteste gegen einen Staat, der auf die Bedürfnisse der Verbraucher*innen nicht im selben Maße reagieren konnte wie auf die Forderungen der Armee, wobei die von den Alliierten organisierte Seeblockade – ein Beispiel für die neue Art von Krieg gegen die Zivilist*innen – ohnehin einer Steigerung der Nahrungsmittelimporte entgegenwirkte. Wie in Frankreich und in Großbritannien war es schließlich die Einführung einer begrenzten Rationierung, die Arbeiter*innen die Produktion der für den Sieg wesentlichen Güter fortsetzen ließ. Doch während des »Steckrübenwinters« von 1916 / 1917, in dem sich die Ernährung der städtischen Arbeiterschaft auf dieses schlichte Gemüse reduzierte, brach die Zustimmung der Bevölkerung zu den Bedingungen des totalen Krieges ein. Der letztliche Zusammenbruch Deutschlands im November 1918 zeigt die Wichtigkeit einer effizienten (staatlichen) Verwaltung der Kriegsanstrengung im Inneren.

Im Ersten Weltkrieg war der Staat noch mit einem anderen Problem konfrontiert: Wie die Bevölkerung zur Mitwirkung an den Kriegsanstrengungen bewegen? Die Mobilisierung der Arbeitskräfte, die finanzielle Inbeschlagnahme, die Anforderungen im Bereich der Industrie und der Nahrungsmittelversorgung konnten der europäischen Bevölkerung, die dieses Maß an staatlicher Intervention nicht gewohnt war, nicht schonungslos aufgezwungen werden. Abgesehen von kleinen Variationen behalf man sich überall mit denselben glühenden Appellen zu patriotischem Engagement. Im Laufe der Zeit schwand jedoch der Enthusiasmus. Die Staaten griffen nun zur Propaganda, die das Bild eines barbarischen und unbarmherzigen Feindes zeichnete und die Bevölkerung dazu anhielt, sich mit dem Kriegsunterfangen zu identifizieren und darüber nachzudenken, was sie selbst dazu beitragen könne. Die Alliierten hatten damit eine leichtere Aufgabe. Ihre Propaganda richtete sich gegen die »Barbarei«, der die deutschen Truppen sich mit ihren Gräueltaten bei der Schändung Belgiens schuldig gemacht hatten, gegen die Zeppelinangriffe auf Paris und die britischen Städte oder auch gegen die Erklärung des exzessiven U-Boot-Krieges. In Deutschland und in Österreich-Ungarn gestaltete sich die Propaganda komplizierter, insbesondere weil die zwei Reiche sich auch an eine nichtdeutsche Bevölkerung wandten, für die der Krieg die Möglichkeit nationaler Emanzipation eröffnete.

Den Kontrapunkt zur Propaganda setzt der Zwang. Selbst in den Demokratien griff der Staat, wenn nötig, zur politischen Repression, ob gegen die irischen Rebellen beim Osteraufstand 1916 oder durch strenge Disziplinierungsmaßnahmen gegen Wehrdienstverweigerer oder Deserteure. In Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn wurden politische Oppositionelle, gleich ob Nationalist*innen oder Sozialist*innen, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil geschickt. Die Polizeikräfte des Staates waren ausreichend präsent, um in Kriegszeiten öffentliche Eintracht durchzusetzen. Dennoch versagte in Russland und Österreich-Ungarn wie auch am Ende in Irland diese Politik des Zwangs infolge der ökonomischen und sozialen Krise, die sich in zunehmender Schärfe bemerkbar machte.

1918 hatte der Staat als Ensemble von Institutionen und Behörden, die für die Kriegführung und für eine beispiellose Mobilmachung der Bevölkerung verantwortlich zeichneten, im Vergleich zu 1914 eine tiefgreifende Strukturveränderung erfahren. Doch in den meisten Fällen – mit Ausnahme Russlands, das ab Oktober 1917 unter einem neuen, kommunistischen Regime lebte – gab der Staat viele seiner Machtbefugnisse und Vorrechte in der Verwaltung der nationalen Ressourcen wieder ab. Der Krieg mit seiner staatlichen Wirtschaftskontrolle hinterließ dagegen Spuren in der Beziehung zwischen Arbeit und Kapital und in der gewachsenen Zuständigkeit des Staates bei der Wohlfahrt, insbesondere für die Kriegsversehrten und Kriegszitterer. In Frankreich machten die Pensionen der Veteranen noch in den 1930er Jahren einen beträchtlichen Teil des Staatshaushalts aus. Die Kriegsschulden belasteten die öffentlichen Finanzen über Jahre, außer in Russland und Deutschland, wo sie durch Hyperinflation beseitigt wurden. Selbst in den Ländern, in denen die Wirtschaft in den 1920er Jahren besser lief, bemühte man sich, die Rückzahlung der im Ausland aufgenommenen Kriegsdarlehen zu vermeiden.

Die Priorität des »Nachkriegsstaates« lag daher auf der möglichst weitgehenden Reduzierung der ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Eingriffe, die der Staat im Krieg vorgenommen hatte, sowie darauf, Militärausgaben zu senken und diplomatische Bemühungen zur Abrüstung zu fördern. Der Welthandel und die Finanzmärkte erreichten wieder ihr Vorkriegsniveau; der durch die ökonomische Macht der Vereinigten Staaten beflügelte Wirtschaftsliberalismus trat an die Stelle des Etatismus. Dennoch war für viele Beobachter klar, dass ein erneuter Krieg, falls ein solcher ausbrechen sollte, wieder ein »totaler« Krieg werden würde. Dies war ein zentrales Erbe von 1914–1918. Der Staat musste daher diesmal darauf bedacht sein, sich auf einen Krieg vorzubereiten, in dem sich komplette Gesellschaften gegenübertraten. Zwar schien in den 1920er Jahren, als man allgemein noch damit beschäftigt war, die Wunden des Ersten Weltkrieges zu lecken und die internationalen Krisen im Zaum zu halten, ein zweiter Krieg noch undenkbar. Doch nach dem Börsenkrach von 1929 und dem Zusammenbruch der internationalen Kooperation zeichnete sich die Perspektive eines neuerlichen Konflikts ab. Selbst die Vereinigten Staaten, die den Querelen in Europa und Asien doch so fern waren, setzten 1931 in Erwartung eines kommenden Krieges einen Plan zur industriellen Mobilmachung in Kraft. In Deutschland kam in den 1920er Jahren, lange vor Hitlers Wiederbewaffnungsprogrammen, der Begriff der Wehrwirtschaft auf, der eine auf die nationale Verteidigung getrimmte Ökonomie beschrieb.

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