Loe raamatut: «Eine Geschichte des Krieges», lehekülg 23

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Ein globalisierter Pazifismus

Mit Beginn des Atomzeitalters 1945 wurden bisherige Gewissheiten in den internationalen Beziehungen infrage gestellt. Der Krieg war gerade zu Ende gegangen, als vor den entsetzten Augen der Welt das Schreckgespenst einer Auslöschung allen menschlichen Lebens auftauchte. Außerdem verwandelten sich die ideologischen Spannungen, die infolge der Russischen Revolution 1917 entstanden waren, in einen latenten Krieg und sollten ein halbes Jahrhundert lang die Diplomatie auf globaler Ebene bestimmen. Wie konnte man sich in dieser neuen und komplexen Weltlage für den Frieden engagieren? Im Ostblock wurde jede pazifistische Aktion, die nicht unter Kontrolle des politischen Apparats stand, unterdrückt, während im Westen viele Friedensvereine, deren Aktivist*innen überwiegend links waren, zu Recht oder zu Unrecht unter dem Verdacht standen, in stillschweigendem Einverständnis mit Moskau zu stehen oder von Moskau manipuliert zu sein. Dennoch prägten zwei große Strömungen den Pazifismus nach 1945: die Antiatombewegung und der Kampf für Frieden und Gerechtigkeit.

Eine der ersten internationalen Maßnahmen nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Schaffung der UNO, was bei Weitem nicht denselben Enthusiasmus hervorrief, der die Gründung des Völkerbundes 1919 begleitet hatte. In einer Welt, die sich keine Illusionen mehr machte, deren Frieden erst kurz währte und die schon wieder unruhig wurde, war Optimismus nicht an der Tagesordnung. Für die Bewegung der Weltföderalisten (World Federalist Movement, WFM), ein 1947 gegründeter internationaler Zusammenschluss pazifistischer und föderalistischer Vereinigungen, gab es für die unmittelbarste Bedrohung, die der atomaren Apokalypse, nur eine Lösung, die über den verbesserten Völkerbund, den die UNO darstellte, weit hinausging: eine Weltregierung. Das WFM machte sich die im Vorjahr veröffentlichten Vorschläge der angesehenen Federation of American Scientists zu eigen (die neben Einstein auch die Väter der Atombombe, Niels Bohr und Robert Oppenheimer, unterzeichneten) und verbreiteten sie über den Film One World or None. Die Verknüpfung des Kampfes gegen die Atombombe mit dem supranationalen Projekt, das in der Zwischenkriegszeit einen gewissen Erfolg gehabt hatte (und teilweise im europäischen Projekt wieder auflebte), bringt die Verschiebung innerhalb der pazifistischen Bewegung angesichts der neuen Problemstellungen des Zeitalters zum Ausdruck. Doch vor dem Hintergrund der Teilung Deutschlands, der Gründung der NATO und einige Jahre später des Warschauer Paktes sowie des Koreakrieges waren solche Stimmen während der ersten Nachkriegsjahre kaum zu vernehmen.

Dennoch war der globale Charakter der atomaren Bedrohung ab den 1960er Jahren der weltweiten Verbreitung des Friedensaktivismus förderlich. Obwohl seit dem 19. Jahrhundert Beispiele internationaler Vereinigungen bekannt sind, blieben diese bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf den Westen (Nordamerika, Europa) beschränkt. Die atomare Gefahr, die mit dem Kalten Krieg verbundene geopolitische Blockade und die Dekolonisation trugen aber nun zur Ausweitung der pazifistischen Solidarität auf den gesamten Erdball bei. Die spektakulärste Entwicklung außerhalb des Westens fand in Japan statt, das die verheerende Wirkung der Atombombe unmittelbar erlebt hatte und von der Kriegserfahrung traumatisiert war. Dort entstand ein tief verankerter Pazifismus, der sogar Eingang in die Landesverfassung fand, deren gegenwärtig wieder infrage stehender Artikel 9 festschreibt: »In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.«2 Ebenso unbestreitbar ist die weltweite Wirkung von Gandhis gewaltloser Kampagne für die indische Unabhängigkeit, die insbesondere in den Ländern, die sich auf dem Weg der Dekolonisation befanden, eine Protestform bot, die mit den pazifistischen Prinzipien in Einklang stand.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer engeren Verknüpfung von Frieden mit Gerechtigkeit. Der Pazifismus auf rechtlicher und technischer Ebene, der von Schlichtung, Abrüstung und dem Aufbau internationaler Organisationen geprägt ist, war bis in die Zwischenkriegszeit dominant und entwickelte sich in der Folge zu einem Pazifismus der Tat, der konkretere und zugleich tiefer wirkende Ergebnisse anstrebte, beispielsweise durch die Förderung von Diversität und Menschenrechten, des Rechts auf Bildung, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, der Armutsbekämpfung. Bevorzugt setzte man auf gemeinschaftliches lokales Handeln in Form von Graswurzelbewegungen, was Koordination auf globaler Ebene nicht ausschloss. Mit seinem Angriff gegen verschiedene Quellen der strukturellen Gewalt zielt dieser Pazifismus auf die Herstellung positiven Friedens, wie es seit Johan Galtung genannt wird.

In dieser Hinsicht ist keine Episode so symbolträchtig wie die Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg, die in gewisser Hinsicht als Gründungsmythos des globalen und globalisierten Pazifismus fungiert. Getragen war sie von einer neuen, größtenteils nach 1945 geborenen Generation von Aktivist*innen, die aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammten und sich aus unterschiedlichen Gründen beteiligten. Dieser Widerstand fügte sich in einen umfassenderen Protest ein, der die Ablehnung des Krieges in eine Sehnsucht nach radikaler Veränderung der Gesellschaft einbettete: nationale Befreiung der Vietnames*innen, überhaupt aller unterdrückten Völker; Gleichheit und Rechte für Frauen und Homosexuelle; Kampf gegen ethnische Diskriminierung usw. Diese allseitige Kontroverse sollte die amerikanische Vietnampolitik beeinflussen und am Ende auch zum Truppenrückzug beitragen. Die Befürworter des Friedens mit Vietnam feierten ihren »Sieg«: Wenngleich sich der Pazifismus rühmen mag, Einfluss auf die Politik gehabt zu haben, indem er allmählich die Normen der internationalen Beziehungen entwickeln half, lässt sich selten seine reale Wirkung auf die Politik und ihre Entscheidungen auch nur einigermaßen präzise bestimmen.

Mit dem Kalten Krieg endete auch die geopolitische Pattsituation, die seit Mitte des Jahrhunderts bestanden hatte. Die Euphorie nach dem Fall der Berliner Mauer war nur von kurzer Dauer, da die neuen globalen Kräfteverhältnisse zu einer beunruhigenden Serie von Konflikten und extremen Gewaltausbrüchen führten. In dieser neuen, multipolaren Welt hatte es die pazifistische Mobilisierung mit Ausnahme weniger starker Momente wie bei den weltweiten Protesten gegen den Irakkrieg 2003 schwer, aus der Marginalisierung herauszukommen. Um relevant zu bleiben, schloss sich die Friedensbewegung dem transnationalen Protestnetzwerk an, das allgemein als globalisierungskritische Bewegung bezeichnet wird. Die immer noch beunruhigende nukleare Bedrohung wurde zunehmend aus der Perspektive des Umweltschutzes (Ökopazifismus) gesehen. Dieser Perspektivwechsel zeugt von der sehr viel globaleren Sicht des heutigen Pazifismus. In dieser neuen Ausrichtung rücken die Betonung lokaler und regionaler Initiativen wie die Aktionen der Gruppe Peace Now in Israel und Bemühungen um größere soziale Gerechtigkeit stärker ins Zentrum. Dennoch gibt es auch heute weiterhin Vereinigungen, die während des Ersten Weltkrieges oder in der Zwischenkriegszeit entstanden: die Peace Pledge Union, War Register’s International, International Fellowship of Reconciliation, außerdem die Women’s International League for Peace and Freedom, die 2015 ihr hundertjähriges Bestehen feierte. Im Laufe eines Jahrhunderts hat sich ihr Aktionsfeld verändert, doch von dem Prinzip, von dem ihre Gründung geleitet war, ist sie nicht abgewichen: die Weigerung, den Krieg und die Gewalt als Schicksal der Menschheit hinzunehmen.

Carl Bouchard ist Professor an der Universität Montreal. Er arbeitet zur Friedensidee in den 1920er und 1930er Jahren. Zu seinen Veröffentlichungen gehört insbesondere Cher Monsieur le Président. Quand les Français écrivaient à Woodrow Wilson (Ceyzérieu 2015).

Literaturhinweise

Literatur zur Geschichte des Friedens und des Pazifismus liegt größtenteils auf Englisch vor und stammt teilweise von Frauen und Männern, die sich zum Pazifismus bekennen: Wie jede Bewegungs-Geschichtsschreibung ist sie bisweilen apologetisch, bisweilen auch teleologisch, und lässt besonders viel Raum für das Schicksal von Einzelpersonen und Gruppen, die als Streiter*innen für die Sache des Friedens gegen die Kräfte des Konservatismus und Militarismus dargestellt werden.

Daneben hat sich auch die Geschichte der internationalen Beziehungen seit Langem mit der Frage des Friedens beschäftigt, ein wenig aus Verlegenheit, um einen Kontrapunkt zum Krieg und zu den zwischenstaatlichen Spannungen zu haben. Erst in den 1960er Jahren tauchte die Friedensgeschichte als eigenständiges Forschungsfeld auf. Peter Brock hat sich in einer zum Klassiker gewordenen Trilogie (Pacifism in the United States. From the Colonial Era to the First World War, Princeton 1968; Twentieth-Century Pacifism, New York 1970; Pacifism in Europa to 1914, Princeton 1972) mit dem absoluten Pazifismus und den Kriegsdienstverweigerern beschäftigt. Dabei versuchte er auch eine Typologie des pazifistischen Denkens, ein wiederkehrendes Thema in der Forschung, das sich auch bei Marcel Merle findet, einem der wenigen Franzosen, die genau zu dieser Form des Aktivismus in jener Epoche gearbeitet haben (Pacifisme et internationalisme, XVIIe – xxe siècle, Paris 1966). Der wichtigste Beitrag aus dieser Frühphase stammt von Johan Galtung, einem norwegischen Forscher und Aktivisten, der der Friedensforschung (Peace Research) in einem entschieden interdisziplinären Geiste den Weg bereitete. Seine Arbeiten über die Begriffe »positiver Frieden« und »strukturelle Gewalt« (»Violence, Peace, and Peace Research«, Journal of Peace Research 6, 3 / 1969) waren epochemachend und haben große Resonanz im Anschluss an den Widerstand gegen den Vietnamkrieg und den globalen Protest Ende der 1960er und während der 1970er Jahre erfahren.

Die Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre haben der Geschichte des Pazifismus einen breiteren Fokus gegeben und sie in einen umfassenderen sozialen, politischen und ideologischen Kontext gestellt. Der britische Historiker Martin Ceadel begründete ein großes Forschungsprogramm zum britischen Pazifismus (Pacifism in Britain, 1914–1945. The Defining of Faith, Oxford 1980; The Origins of War Prevention. The British Peace Movement and International Relations, 1730–1854, Oxford 1996; Semi-Detached Idealists. The British Peace Movement and International Relations, 1854–1945, Oxford 1987) und legte eine umfassende und einflussreiche Typologie vor, die versucht, dem Verhältnis zur Gewalt und zum Krieg in den westlichen Gesellschaften Rechnung zu tragen (Thinking about Peace and War, Oxford 1987). Sandi Cooper hat sich ebenfalls für die Entwicklung des pazifistischen Denkens in Europa im 19. Jahrhundert interessiert (Patriotic Pacifism. Waging War on War in Europe, 1815–1914, Oxford 1991) und seine Beziehungen zu den Ideologien der Zeit, insbesondere zum Nationalismus, untersucht. Im selben Jahr erschien die erste tiefergehende Studie zum französischen Pazifismus in der Zwischenkriegszeit (Norman Ingram, The Politics of Dissent. Pacifism in France, 1919–1939, Oxford 1991), eine scharfsinnige Analyse des Übergangs vom legalistischen »Pazifismus alten Typs« zum umfassenden und bedingungslosen Pazifismus »neuen Typs« der 1930er Jahre. Ebenfalls ab den 1990er Jahren tauchten die Arbeiten zum Engagement der Frauen auf (Harriet Alonso, Peace as a Women’s Issue. A History of the US Movement for World Peace and Women’s Rights, 1993), die Teil einer erneuten thematischen Öffnung der Friedensforschung waren, zu der auch die Studien über die transnationalen Beziehungen der Friedensbewegung gehören. Deren Höhepunkt bildete die imposante Trilogie Lawrence Wittners über die weltweite Bewegung gegen atomare Aufrüstung (The Struggle against the Bomb, Stanford 1993–2003, zusammengefasst in Confronting the Bomb. A Short History of the World Nuclear Disarmament Movement, Stanford 2009). Die von Nigel Young herausgegebene Enzyklopädie Oxford International Enyclopaedia of Peace, die 2010 erschienen ist, versammelt die jüngsten Beiträge und liefert zweifellos die umfänglichste internationale Perspektive auf den Pazifismus im weitesten Sinne.

Querverweise

Die Zeit der Bürgersoldat*innen78

Krieg und Recht103

Umweltzerstörung117

Der Preis des Krieges166

Rebellen und Verweigerer415

Wien, Paris, Jalta: Frieden schließen732

Kriegsheimkehrer*innen748

1William Mulligan, The Great War for Peace, New Haven 2014.

2https://web.archive.org/web/20070519022015/ http://www.cx.unibe.ch/~ruetsche/japan/Japan3.htm#Kapitel%20II:%20Verzicht%20auf%20Krieg [3. 8. 2019].

Caroline Elkins
Die Mythen des britischen Imperialismus

Das Britische Weltreich wird oft als Modellimperialismus dargestellt: Mag die zivilisatorische Mission in diesem Fall etwa die kolonialistische Gewalt aufgewogen haben? Ein solches Bild erweist sich als ideologische Konstruktion, die aus einer rigoros umgesetzten Zensurpolitik und Zerstörung offizieller Dokumente resultiert. Einer Überprüfung hält es nicht stand.

Gefeiert für seine zivilisatorische Mission und für seinen ostentativ wohlmeinenden Kolonialismus – insbesondere im Vergleich zu den anderen europäischen Mächten –, wird das britische Weltreich oft als der Modellimperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts dargestellt. Diese Idee prägt sowohl die Populärkultur als auch die Arbeiten renommierter Akademiker*innen. Zur Zeit der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg habe es somit im Britischen Weltreich praktisch keine Kämpfe gegeben, was – so die weit verbreitete Ansicht – nicht auf Schwäche, sondern auf die Weigerung, in derselben Weise fortzufahren, zurückzuführen sei.

Diese sich hartnäckig haltende Vorstellung zeugt jedoch vor allem von der Mythologie, die den britischen Imperialismus umgibt. Zu lange haben die Historiker*innen des Weltreichs – auch diejenigen, die mit seiner dunklen Seite vertraut waren – die Dramen, die sich in seinen letzten Tagen abspielten, vernachlässigt: das Chaos des britischen Rückzugs, die Gewalt von zwei Seiten, den lokalen Eliten und den Rebell*innen, und ebenso auch das Verbrennen der Archive des Empire. Wenn Reiche zusammenbrechen, geht das immer mit einem gewissen Maß an Gewalt einher. Der britische Fall ist allerdings nicht nur durch eine Mischung aus Liberalismus, Ordnungspolitik und Kolonialismus gekennzeichnet, die vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Waffen und Taktiken in alle Ecken des Weltreichs trug, sondern auch durch eine gut organisierte Politik der Zerstörung offizieller Dokumente und der Zensur persönlicher Zeugnisse (darunter Erinnerungen von und Interviews mit früheren Soldaten und Führungspersonal in den Kolonien).

Vor allem die Vorstellung, es habe »praktisch keine Kämpfe« gegeben, war die Antwort auf eine ideologische Notwendigkeit. Als Großbritannien im 19. Jahrhundert seine zivilisatorische Mission aufnahm, bedeutete dies in der Theorie einen Bruch mit früheren Formen der Eroberung und Kolonisierung. Das imperiale Projekt Großbritanniens ließ sich von der Aufklärung und ihren universellen Prinzipien inspirieren, um die politische, wirtschaftliche und soziale Integration der Besitzungen zu rechtfertigen. So musste es mit der Zeit auch einen neuen Typ von Staatsbürgerschaft zulassen: Es stellte sich ihm als – moralische, kulturelle und ökonomische – Pflicht dar, die »nicht zivilisierten« Völker in Afrika, Asien, Irland und an anderen Orten, denen es »Bildung« brachte, im Sinne der Fortschrittslogik ebenfalls in den Genuss der Staatsbürgerschaft kommen zu lassen. Prominente, in paternalistische Bilder verliebte liberale Denker verglichen die einheimischen Bevölkerungen mit Kindern, die Richtung Zivilisation taperten, ganz nach dem Vorbild eines John Stuart Mill, dem für Indien ein »Regierungssystem, das man ein System der Gängelung nennen könnte«, vorschwebte, um das »Volk allmählich zum selbstständigen Gehen zu erziehen«.1

Bedauerliche, doch notwendige Maßnahmen

Diese wohlmeinende Sicht auf die Untertan*innen des Empire und ihre Rechte schwand ab dem 19. Jahrhundert im Zuge der Ereignisse, die das Weltreich erschütterten. Zwar blieb die Wirkung auf die Vorstellungswelt, doch die zivilisatorische Mission sah sich infrage gestellt und durch ein Gefühl der Desillusionierung ersetzt, was die Fähigkeit des Liberalismus anging, die zurückgebliebenen Völker des Reiches zu transformieren. Eine neue Form imperialen Regierens übernahm das Ruder. Sie berief sich zwar weiterhin auf die zivilisatorische Mission, betonte und systematisierte aber die Unterschiede zwischen Völkern und war auch nicht abgeneigt, zur Gewalt anzustacheln und selbst darauf zurückzugreifen. Aufstände, insbesondere in Indien und Jamaika, verstärkten diesen Sinneswandel.

Im Mai 1857 griffen Sepoys, die in der britischen Armee in Bengalen dienten, zu den Waffen: Als sie mit Schweine- und Rinderfett eingeschmierte Patronen – die vor dem Einsatz aufgebissen werden mussten – zugeteilt bekamen, trieb dies die Muslime und Hindus in der Truppe aufgrund ihrer Ernährungsvorschriften zur Revolte. Der Aufstand verbreitete sich über Indien und mobilisierte Männer und Frauen aus sehr unterschiedlichen kulturellen und sozioökonomischen Sphären gegen das britische Joch. Große Teile des Territoriums gerieten außer Kontrolle. Die Kolonialregierung setzte auf gnadenlose Unterdrückung, gestützt von der Verbreitung übertriebener Berichte über Verbrechen, insbesondere Vergewaltigungen, die Inder an Europäer*innen begangen haben sollten. Inder*innen, die des Aufruhrs verdächtigt wurden, fixierte man vor Kanonenrohren, um ihre Leiber zu zerfetzen. Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht; mörderische Kampagnen gegen die Bevölkerung wurden gang und gäbe. Eine umfangreiche Berichterstattung und Erzählungen von Gräueltaten gegen weiße Zivilist*innen mobilisierten im Mutterland die breite Öffentlichkeit während des ganzen sogenannten Roten Jahres. Ende 1958 konnte die Rebellion schließlich niedergeworfen werden, doch die rassistischen Vorurteile hatten sich derart festgesetzt, dass sie die britische Auffassung vom Regieren der auswärtigen Besitzungen und von den Gesetzen des Krieges veränderten.

Acht Jahre nach der indischen Rebellion erhob sich eine Gruppe früherer jamaikanischer Sklavinnen und Sklaven, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren. Im Gegensatz zur Situation in Indien waren die Aufständischen von Morant Bay zahlenmäßig und an Bewaffnung schlecht aufgestellt. Sie wurden darum nicht weniger brutal unterdrückt. Der Gouverneur der Insel, Edward Eyre, verhängte das Kriegsrecht und befahl die Hinrichtung Hunderter Schwarzer, unter ihnen der »Mestize« George William Gordon, der sich in öffentliche Angelegenheiten und Politik eingemischt hatte und als Anstifter der Rebellion im Verdacht stand, weil er die lokale Regierung offen kritisiert hatte. In Großbritannien wurden die drakonischen Maßnahmen des Gouverneurs als bedauerlich, aber notwendig und im kolonialen Kontext als entschuldbar angesehen.

Dennoch entzweite der Fall des Gouverneurs Eyre die Liberalen. John Stuart Mill und einige andere gründeten das Jamaica Committee mit dem Ziel, die Regierung zur Eröffnung einer offiziellen Untersuchung zu zwingen. Doch das Pendel der imperialen Politik schlug zugunsten der Konservativen aus. Die Gegner Mills unterstützten Eyre und konnten selbst bei dem Versuch, ihre autoritären Konzepte der Machtausübung und Lösung der Kolonialkonflikte durchzusetzen, von den Ereignissen profitieren. Thomas Carlyle und James Fitzjames Stephen führten den Angriff: Sie geißelten den »sentimentalen Liberalismus« Mills, der aus ihrer Sicht die politische Ordnung in den Kolonien ebenso wie im Mutterland aufs Spiel setzte. In seinem 1849 veröffentlichten Occasional Discourse on the Negro Question nahm Carlyle kein Blatt vor den Mund und zeichnete ein düsteres Bild von der Zukunft der Schwarzen nach ihrer Befreiung: Ohne Vormundschaft der Weißen würden sie in Müßiggang, oder schlimmer noch, in ihre natürliche Wildheit zurückfallen. Die jamaikanische Rebellion diente Carlyle zur Legitimierung seiner extremen Ansichten und den Konservativen zum Anlass, ihrem autoritären Elan freien Lauf zu lassen. Stephen für seinen Teil attackierte Mill unaufhörlich, indem er auf einer Überlegenheit der »weißen Rasse« insistierte, und verteidigte die Notwendigkeit einer absoluten und durch Zwang regierenden Staatsgewalt in den Kolonien. Hinsichtlich des von Mill geltend gemachten Rechtsstaates antwortete er ohne Umschweife: »Gewalt ist ein absolut notwendiges Element jeden Rechts. Vielmehr ist das Recht nichts anderes als die besonderen Bedingungen unterworfene und auf besondere Gegenstände gerichtete geregelte Anwendung der Gewalt.«2

Dass das Vorgehen Edward Eyres niemals Gegenstand einer offiziellen Untersuchung oder strafrechtlicher Verfolgung wurde, überrascht kaum. Wie im 19. Jahrhundert bei der lokalen Bevölkerung Jamaikas oder Indiens so wurden im 20. Jahrhundert die Erhebungen der Bevölkerung Palästinas, Britisch-Malaysias, Kenias oder Zyperns gegen die britische Regierung als Zeichen von Undankbarkeit wahrgenommen, als unverständliche Handlungen, die durch eine rassistische Brille gedeutet wurden. Im Angesicht der Revolte stellte Großbritannien weder seine Strukturen noch sein vorgebliches Engagement für den Fortschritt infrage. Es wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen, und diese waren grundsätzlich auf die Bestärkung der Macht und der Kolonialprivilegien ausgerichtet.

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