Loe raamatut: «Eine Geschichte des Krieges», lehekülg 7

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Rhetorik der Volksmobilisierung

Diese Feststellung gilt jedoch nicht für die anderen Fronten. Und dies ist einer der besten Indikatoren für den fundamentalen Wandel, den das Konzept der Schlacht selbst mit dem Ersten Weltkrieg durchlief: Die drei heftigen Schlachten im Herbst 1918 an der italienischen, palästinischen und mesopotamischen Front – bei Vittorio Veneto, bei Megiddo und bei Mossul – wurden interessanterweise von der Geschichtsschreibung vernachlässigt, und werden es heute noch. Dabei waren alle drei nicht weniger entscheidend als Waterloo. Sie beendeten den Konflikt in ihrem jeweiligen Kriegstheater und werden doch als leichte Siege angesehen, errungen von Truppen, die – relativ zu den an der Westfront eingesetzten Armeen – zu den besten gehörten, gegen Armeen, die den Kampf bereits verloren gegeben hatten. Die Argumente über den »Abnutzungskrieg« entziehen den leichten Siegen implizit jeden moralischen Wert unter dem Vorwand, dass die Kämpfe sich nicht länger hinzogen und die Verluste nicht bedeutender waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Generalmajor John F. C. Fuller, ebenfalls ein Veteran des Ersten Weltkrieges, das dreibändige Werk The Decisive Battles of the Western World, in dem der Autor von Gallipoli 1915 direkt zu den Schlachten von 1918 übergeht und alles, was in der Zwischenzeit passierte, einschließlich Verdun und der Schlacht an der Somme, auslässt. Ein separates Kapitel ist dem italienischen Sieg bei Vittorio Veneto im Oktober 1918 gewidmet, den der Verfasser als »entscheidend« beurteilt, weil er einen Einfluss auf die Moral des italienischen Volks hatte und von Mussolini und den Faschisten dazu benutzt wurde, »allen jenen subversiven und korrupten Kräften, die den Nationalgeist in Italien zersetzten«14, entgegenzuwirken. Dazu muss man sagen, dass Fuller ein ehemaliger Faschist war, doch sein Argument gilt für die Dritte Republik wie für Italien. Verdun kann somit in Frankreich aus nationalen Gründen als eine große Schlacht angesehen werden. Dasselbe lässt sich für Großbritannien und die Schlacht an der Somme sagen. Die Helden dieser Schlachten waren nicht die Befehlshaber, sondern die einfachen Soldaten – die Nation verkörpernde Bürger. Trotzdem stellte Fuller nicht die Frage, ob in den ideologischen Kriegen – so beschrieb er die Kriege des 20. Jahrhunderts – und insbesondere im Verlauf des Zweiten Weltkrieges die Entscheidungsschlacht die zentrale Stellung wiedererlangte, die sie im 19. Jahrhundert innegehabt hatte, oder ob sie im modernen Krieg endgültig ihre Bedeutung eingebüßt hatte.

Mit einer unzweideutigen Antwort eröffnet Phillips Payson O’Brien sein Buch How the War Was Won: »Es gab keine Entscheidungsschlachten im Zweiten Weltkrieg.«15 Dieser Krieg, der in zahlreichen Ländern die Mobilisierung der ganzen Bevölkerung und aller ökonomischen Ressourcen verlangte, wurde in einer Weise geführt, dass es in den großen Schlachten – von Stalingrad bis Midway – weder gelang, die Ressourcen des Gegners noch seine Kampftauglichkeit zu zerstören. Es war vielmehr die unnachgiebige Fortführung der Kämpfe, durch die Deutschland und Japan im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wie die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg ihre materiellen Mittel einbüßten. Der Unterschied zwischen den Schlachten in den beiden Weltkriegen und denen der vorindustriellen Ära ist, dass die Kämpfe Tag für Tag und selbst nachts und im tiefsten Winter fortgesetzt wurden. Dass die britische Armee am 1. Juli 1916 Verluste von 60 000 Mann erlitt, erweckt die falsche Vorstellung einer zeitlich begrenzten Schlacht. Wichtiger ist es aber, sich an den Verlust der 360 000 Mann zu erinnern, die in den darauffolgenden einhundertvierzig Tagen den Tod fanden. In den beiden Weltkriegen hatten die kriegführenden Staaten alle Hände voll zu tun, um ihre Verluste auszugleichen, während sie zugleich genügend Arbeitskräfte mobilisieren mussten, um die zur Fortführung der Kämpfe notwendige Produktion am Laufen zu halten.

Der Zweite Weltkrieg war, wie Fuller beobachtete, von tiefen ideologischen Gegensätzen gespeist und wurde von ganzen Nationen geführt statt nur von Armeen, die ihren Monarch*innen Rechenschaft schuldig waren. Es war diese Rhetorik der allgemeinen Mobilmachung, die die Vorstellung einer »Entscheidungsschlacht« am Leben erhielt. »Schlachten sind die entscheidenden Meilensteine der weltlichen Geschichte«16, erklärte Winston Churchill 1940 und machte damit deutlich, welches Gewicht er ihnen beimaß. Noch als junger Mann hatte er 1898 an einem Kavallerieangriff bei Omdurman teilgenommen, der Entscheidungsschlacht, mit der das britische Empire die Mahdistenherrschaft im Sudan beendete. In dem Moment, als sich Großbritannien dem nationalsozialistischen Deutschland »allein entgegenstellte«, nannte Churchill zwei entscheidende Schlachten, die zu schlagen seien: die Schlacht um England und die Atlantikschlacht, die eine in der Luft, die andere auf dem Meer. Beide waren existenziell, weil der Ausgang des Krieges von ihnen abhing. Aber handelte es sich wirklich um Schlachten? Ihre Benennung anhand geografischer Bestimmungen zeigt schon ihre vage räumliche Eingrenzung. Aber auch zeitlich waren sie nicht eng umschrieben. Die erste dauerte vier Monate, die zweite vier Jahre. Übrigens ist bemerkenswert, dass im Deutschen im Zusammenhang mit der Atlantik-»Schlacht« auch genauer von U-Boot-»Krieg« gesprochen wird.

Es steht außer Frage, dass bestimmte Tage außerordentliche Konsequenzen für den Fortgang des Zweiten Weltkrieges hatten. Die zweite Schlacht von El Alamein dauerte länger als einen Tag und war vielleicht kein Wendepunkt in dem Sinne, wie Churchill ihn verstand, aber sie entsprach doch mehr den traditionellen Definitionen der Schlacht. Doch damit bildet sie eher die Ausnahme: An der Ostfront lassen sich aufgrund ihrer Dauer weder Stalingrad noch Kursk richtig als »Schlachten« beschreiben. Wenn es ein schlagartig eingetretenes und entscheidendes Ereignis im Zweiten Weltkrieg gab, dann war das der Atombombenabwurf auf Hiroshima. Doch niemand behauptet, dabei habe es sich um eine Schlacht gehandelt, da dies irgendeine Form von Gegenseitigkeit voraussetzen würde.

Vermeidung der nuklearen Schlacht

Nach 1945 machte die Logik der nuklearen Abschreckung deutlich, dass die Epoche der Entscheidungsschlachten lange vergangen war: Ziel der Strategie war von nun an, Schlachten zu vermeiden, und nicht, sie zu suchen. Dennoch inspirierten sie weiterhin die Öffentlichkeit ebenso wie die Historiker, was zum Beispiel das 1953–1955 veröffentlichte dreibändige Werk von Fuller zeigt. 2001 hauchte Victor Davis Hanson, ein Althistoriker und Spezialist für den Hoplitenkrieg, mit seinem ambitionierten, aber überbewerteten Buch Carnage and Culture. Landmark Battles in the Rise of Westen Power dem Begriff der Schlacht neues Leben ein. Er betont eine Kontinuität von der griechischen Antike, dem whig-Geschichtsbild nach die Wiege der westlichen Welt, bis zu den Vereinigten Staaten. Aus seiner Sicht haben diese beiden Mächte Siege davongetragen, weil sie sich auf vergleichbare Weise kulturell von ihrer Umwelt unterschieden. Beide, demokratisch verfasst und diszipliniert, brillierten dabei, »ihre Zivilisation einzusetzen, um andere zu töten«.17 Hanson kam außerdem zu dem Urteil, dass der Infanteriekrieg von Natur aus demokratisch sei, weil freie Menschen besser kämpfen als Berufssoldat*innen, und dass zahlenmäßig unterlegene, aber nach diesen Prinzipien ausgebildete Truppen zahlenmäßig stärkere Kräfte besiegen können.

Das Buch erschien gerade zu einem Zeitpunkt, als die Vereinigten Staaten die internationale Bühne zu dominieren schienen. Es nährte eine bestimmte triumphalistische Erzählung, die sich von der Vergangenheit bis in die Zukunft erstreckte. Doch in den militärischen Interventionen, die auf die Anschläge des 11. September 2001 folgten, schienen die Vereinigten Staaten, obwohl sie die Schlachten klar gewannen, die Kriege zu verlieren. Der Schwachpunkt in Hansons Argumentation rührt von seiner Neigung her, alle anderen Formen des Krieges, die er als kulturell inkompatibel mit der Demokratie beurteilt, zu verwerfen. Nur ergibt die frontale Auseinandersetzung, der sich die Hopliten stellten, weniger Sinn als der Hinterhalt und der Überraschungsangriff. Warum sich der Gefahr aussetzen, wenn man sie meiden und trotzdem seine Ziele erreichen kann? In den Kriegen der Antike kam es vor, dass die Griechen die Schlacht vermieden, und dasselbe gilt für bestimmte Episoden des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.

Tatsächlich ist der Guerillakrieg seit 1945 zur vorherrschenden Kampfform geworden. In seinen theoretischen Schriften über den Revolutionskrieg nahm Mao Zedong an, dass die Methoden des irregulären Kampfes zu einer letzten Etappe führen, in der die Revolutionsarmee über ihre Gegner obsiegt. 1954 schien ihm Vô Nguyên Giáp recht zu geben, als er mit der Schlacht von Diên Biên Phu die französische Herrschaft in Indochina beendete. Doch sein Erfolg ist eine Ausnahme: Seit 1945 ist so gut wie kein irregulärer Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden worden. In Vietnam und in Afghanistan gelang es den überlegenen konventionellen Streitkräften, die für die Schlacht ausgebildet waren, nie, sich an den irregulären Guerillakrieg anzupassen, sodass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion am Ende ihre Niederlage eingestehen mussten.

Die Idee der Entscheidungsschlacht erreichte ihren Höhepunkt in einer Epoche, in der die Staaten autokratisch regiert wurden und die Armeen von vorindustriellen Gesellschaften organisiert und ausgerüstet wurden. Demokratisierung und Industrialisierung haben beide die Bedeutung der Schlachten im Krieg erschüttert. Dennoch ist der Niedergang der Schlacht nie in aller Klarheit anerkannt worden – und das aus drei Gründen. Der erste hängt damit zusammen, dass das Gefecht den Kern der Schlacht ausmacht und auch für die anderen Formen der Kriegführung zentral ist, und dies bildet das zusammenschließende und übergreifende Element, das für die Idee, die wir uns vom Krieg machen, nötig ist. Der zweite Grund ist, dass die Berufsarmeen die Idee der Schlacht als höchste Prüfung ihres Könnens kultiviert haben – als das, was Strategie mit Taktik verbindet und der Idee einer Kriegskunst Konsistenz gibt. Drittens und allgemeiner bleiben Schlacht und Schlachterfahrung etwas ihrer Natur nach Rätselhaftes. Die Kombattant*innen haben nicht die Zeit, zu schreiben oder nachzudenken, wenn sie sich in die Schlacht geworfen finden, und was sie im Nachhinein rekonstruieren, bleibt partiell und selektiv. Diejenigen, die nie an einer Schlacht teilgenommen haben, bleiben in diesen Erzählungen gefangen, und sie sind sich bewusst, dass es ihnen niemals gelingt, ihre ganze Bedeutung zu durchdringen.

Sir Hew Strachan ist Professor für Internationale Beziehungen an der St. Andrews University. Er ist einer der wichtigsten Forscher über die Militärgeschichte des Ersten Weltkrieges und Verfasser insbesondere eines Klassikers: The First World War, Bd. 1: To Arms (Oxford 2001).

Literaturhinweise

In Das Antlitz des Krieges (Düsseldorf 1978) beschäftigt sich John Keegan mit der Erfahrung der Schlacht, insbesondere im grundlegenden ersten Kapitel. Damit steht er in der Nachfolge zweier amerikanischer Autoren: S. L. A. Marshall, Men against Fire. The Problem of Battle Command in Future Wars (New York 1947), das trotz der Kritiken, die ihm seine retrospektive Methode eingebracht hat, von Bedeutung ist; und Jesse Glenn Gray, Homo furens oder braucht der Mensch den Krieg? (Hamburg 1970), das sich mit der Erfahrung des Infanteriekampfes im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Études sur le combat (Paris 1903; englisch: Battle Studies, Harrisburg, Pa. 1958) von Charles Ardant du Picq wurde zur Pionierarbeit über dieses Thema, während Sous le feu. La Mort comme hypothèse de travail (Paris 2014) von Michel Goya die jüngste Aktualisierung liefert.

Zu den Ursprüngen der Schlacht in der antiken Welt stützt sich Victor Davis Hanson in Carnage and Culture. Landmark Battles in the Rise of Westen Power (New York 2001) auf sein früheres Werk The Western Way of War. Infantry Battle in Classical Greece (New York 1989). Direkt infrage gezogen werden seine Thesen von John Lynn in Battle. A History of Combat and Culture (Boulder, Colo. 2003). In The Age of Battles. The Quest for Decisive Warfare from Breitenfeld to Waterloo (Bloomington 1991) erklärt Russell Weigley, wie schwer die Idee der Entscheidungsschlacht zu Beginn der Moderne zu fassen ist, während umgekehrt James Whitman in The Verdict of Battle. The Law of Victory and the Making of Modern War (Cambridge, Ma. 2012) zeigt, in welchem Maße sie doch gültig blieb.

Für den Einsatz der Schlacht durch Napoleon siehe die von Bruno Colson herausgegebene Ausgabe von De la guerre (Paris 2011) sowie Antulio Echevarria, After Clausewitz. German Military Thinkers before the Great War (Lawrence 2000), und Sven Lange, Hans Delbrück und der »Strategiestreit«. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse (1879–1914) (Freiburg im Breisgau 1995), das dem Erbe Clausewitz’ im deutschen Militärdenken nachgeht. Die beste Weise, die Stellung der Schlachten im 19. Jahrhundert zu verstehen, ist die Lektüre von Jomini, Moltke, Schlieffen, Bonnal und Colin. Zu den Debatten in Frankreich ist das Buch von Benoît Durieux, Clausewitz en France. Deux siècles de réflexion sur la guerre (1807–2007) (Paris 2008) meisterhaft.

Verdun ist Thema folgender jüngerer Veröffentlichungen: Paul Jankowski, Verdun. Die Jahrhundertschlacht (Frankfurt am Main 2015), Antoine Prost und Gerd Krumeich, Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht (Essen 2016), und Olaf Jessen, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts (München 2014). Die besten neueren Bücher über die Schlacht an der Somme sind William Philpott, Bloody Victory. The Sacrifice on the Somme and the Making of the Twentieth Century (London 2009), Robin Prior und Trevor Wilson, The Somme (New Haven 2005), und Matthias Strohn (Hg.), The Battle of the Somme (New York 2016).

John F. C. Fullers The Decisive Battles of the Western World hat seit seinem Erscheinen 1952–1955 mehrere Auflagen erlebt. Jüngere Werke dieses Genres sind unter anderem Hervé Drévillon, Batailles. Scènes de guerre de la Table ronde aux tranchées (Paris 2007), und Stig Förster, Markus Pohlmann und Dierk Walter (Hg.), Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai (München 2001).

Querverweise

Den Krieg denken45

Die Zeit der Bürgersoldat*innen78

Technologie ist nichts ohne Strategie132

Guerilla und Aufstandsbekämpfung236

»Die Flamme Stalingrads ist erloschen«777

1Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1980, S. 422.

2Ebd., S. 453.

3Ebd., S. 420.

4Ebd., S. 420 f.

5Ebd., S. 421.

6E. S. Creasy, The Fifteen Decisive Battles of the World, from Marathon to Waterloo, London u. a. 1915 (1851), S. xxii.

7Ebd.

8E. S. Creasy, Die fünfzehn entscheidenden Schlachten der Welt von Marathon bis Waterloo, Stuttgart 1865, S. 19.

9Ferdinand Foch, Des Principes de la guerre, Paris 1911, S. 41.

10Helmuth von Moltke, Militärische Werke, Abteilung 4, Teil 3, Berlin 1912, S. 2.

11Jean Colin, Les grandes Batailles de l’histoire, Paris 1915.

12Graf Alfred v. Schlieffen, »Der Krieg in der Gegenwart«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1913, S. 15.

13Douglas Haig, »The Final Despatch, 21 March 1919«, in: Sir Douglas Haig’s Despatches (December 1915 – April 1919), hrsg. v. J. H. Boraston, London / Toronto 1920, S. 319.

14J. F. C. Fuller, The Decisive Battles of the Western World, Bd. 3, London 1956, S. 322.

15Phillips Payson O’Brien, How the War Was Won. Air-Sea Power and Allied Victory in World War II, Cambridge 2015, S. 1.

16Winston Churchill, Marlborough, Bd. 2, Chicago 2002, S. 381.

17Victor Davis Hanson, Carnage and Culture, New York 2002, S. 5.

Alan Forrest
Die Zeit der Bürgersoldat*innen

Mit den Revolutionskriegen war Frankreich die erste Nation in Europa, die eine Armee von Bürgersoldaten aufstellte. Zahlreiche Staaten sollten dieser Entscheidung für die Wehrpflicht folgen. Nicht immer gestanden sie ihren Soldaten auch die Rechte zu, die mit der Zugehörigkeit zur Bürgerschaft verbunden sind.

Als Frankreich 1792 Österreich und Preußen den Krieg erklärte, sahen die Zeitgenossen darin eine neue Art von Krieg, der von Ideen geleitet war und das gesamte Volk einbezog. Es handele sich um einen revolutionären Krieg, behaupteten sie, der sich seiner Natur nach von den Kriegen der Könige und Fürsten unterschied. Allerdings waren es die Politiker, die diese Sichtweise vertraten, nicht die Militärs. Die militärischen Taktiken hatten sich seit dem Ancien Régime in Wahrheit kaum verändert, und dasselbe gilt für die Bewaffnung der Soldaten. Und auch wenn die französische Staatsführung die Feindseligkeiten mit einer Sprache rechtfertigte, die man bis dahin noch nicht gehört hatte, müssen die Revolutionskriege, die das Land führte, als letzte Etappe einer langen Reihe von Kämpfen angesehen werden, die Europa im 18. Jahrhundert seine Form gab und die sich vom Spanischen Erbfolgekrieg bis zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erstreckte. Diese Kriege waren gewiss nicht revolutionär. Aber sie waren es doch in einem anderen Sinne: Zum ersten Mal in der modernen Geschichte verbanden sie den Militärdienst mit der Zugehörigkeit zur Bürgerschaft, indem sie die Wehrpflicht zur Aushebung ihrer Heere einsetzten. Die Ära des Bürgersoldaten hatte begonnen.

1789 zeigte die Nationalversammlung herzlich wenig Enthusiasmus für die Einführung der Wehrpflicht. Statt ihre jungen Männer zur Ableistung ihres Militärdienstes zu zwingen, war sie mehr darauf bedacht, dort mit Reformen anzusetzen, wo sie Missbrauch der königlichen Armee am Werk sah. Den Abgeordneten war es um die Fragen individueller Freiheit zu tun, jeder Rückgriff auf eine Form von Nötigung erschien ihnen als Negierung dieser Freiheit, die die Revolution versprochen hatte. Als schließlich 1798 ein System mit einjähriger Wehrpflicht in Kraft trat, waren bereits neun Jahre vergangen, und mit ihnen ein großer Teil des egalitären Idealismus, der die ganz junge Republik noch befeuert hatte. Wie alle früheren Maßnahmen – zum Beispiel der Appell an Freiwillige nach der ersten Kriegsbedrohung 1791; die Aushebung von 300 000 Mann, als im Frühling 1793 England und Spanien der Krieg erklärt wurde; oder auch die Levée en masse (Massenaushebung) wenig später im selben Jahr – war auch die Wehrpflicht nichts anderes als eine Maßnahme, die durch die Notwendigkeiten des Krieges diktiert wurde. Die Levée en masse kam dem revolutionären Ideal der »Nation unter Waffen« insofern näher, als (im Gegensatz zur späteren Praxis des napoleonischen Wehrdienstes) jeder Ersatz und jede Vertretung dabei untersagt waren und von jedem Mitglied der Gesellschaft verlangt wurde, einzig mit der Unterscheidung nach Alter und Geschlecht einen persönlichen Militärdienst für die Nation zu leisten.

Das Dekret erklärte ausdrücklich den Umfang der Pflichten jedes Einzelnen: »Die Jungen werden in den Kampf ziehen; die verheirateten Männer werden Waffen schmieden und den Proviant transportieren; die Frauen werden Zelte und Kleidung herstellen und in den Lazaretten dienen; die Kinder zerreißen das alte Leinen«; sogar für die Betagten war eine Aufgabe vorgesehen: »Die Alten werden sich auf die öffentlichen Plätze bringen lassen, um dort den Mut der Krieger, den Hass auf die Könige und die Einheit der Republik zu beschwören.«1 Der Rückgriff auf die Sprache der Revolution hatte zweifellos seine Wirkung, zumindest auf bestimmte junge Soldaten, die für Frankreich kämpften. Pierre Cohin zum Beispiel war bereits ein glühender Revolutionär, als er sich 1792 freiwillig für den aktiven Dienst in der Nordarmee meldete. Dieser Krieg, erklärte er seinem Vater, »ist nicht ein Krieg zwischen einem König und einem König, und ebenso wenig zwischen Nationen. Es ist ein Krieg der Freiheit gegen den Despotismus. Es gibt keinen Zweifel, dass wir triumphieren werden. Eine gerechte und freie Nation ist unbesiegbar.«2

Durch das Ausmaß der Revolutionskriege und der Napoleonischen Kriege erwiesen sich die traditionellen Methoden der Rekrutierung als unzureichend, sodass die Regierungen zunehmend versuchten, ihren eigenen Bürgern die eine oder andere Form von Militärdienst aufzuerlegen. Die Kosten für Söldner waren exorbitant gestiegen. Somit sahen sich die anderen europäischen Nationen bald unter Zugzwang, dem von Frankreich eingeschlagenen Weg zu folgen. Überall auf dem Kontinent wurden Armeen zwangsrekrutiert, indem man die größtmögliche Zahl an Männern einer bestimmten Altersklasse, insbesondere zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, einzog. Der Soldatenberuf war nicht mehr die nur den Armen und Landlosen aufgezwungene Bürde. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man das Wehrpflichtsystem in der einen oder anderen Form überall in Europa zumindest für Kriegszeiten übernommen, doch im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde die neue Zwangsrekrutierung insbesondere von den urbanen Mittelklassen noch schlecht aufgenommen und stieß in den Ländern, in denen sie durchgesetzt wurde, auf großen Widerstand. In bestimmten Regionen Frankreichs tauchte mehr als ein Drittel der Einberufenen unter, um sich dem Wehrdienst zu entziehen; im ganzen Reich, insbesondere in den Tälern Norditaliens, führte der Hass auf die Wehrpflicht zu Angriffen auf Gendarmen und zu bewaffneten Revolten gegen die Staatsgewalt.

Preußen ist vielleicht das beste Beispiel eines Staates, der die Wehrpflicht als Reaktion auf eine Niederlage einführte, in diesem Fall auf die Flucht der eigenen Armee von der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, in deren Anschluss Napoleon drakonische Friedensbedingungen diktiert hatte. Preußens Niederlage war so niederschmetternd, dass es die Öffentlichkeit erschüttert zurückließ; die verlorenen Gebiete wurden zu einer Quelle nationaler Erniedrigung, und die preußischen Militärstrategen zogen eine bittere Lehre daraus: Wenn sie den Franzosen erneut entgegentreten sollten, mussten sie deren Methoden kopieren und ein Wehrdienstsystem einführen. Für Generalleutnant Gerhard von Scharnhorst, der die Heeresreform durchführte, brachte die Wehrpflicht militärische wie zivile Vorzüge. Die Armee werde zur »Schule der Nation« und könne die Rekruten finden, die zum Kampf gegen Napoleon notwendig waren. Bald imitierten auch andere Scharnhorsts Beispiel. Schweden führte 1812 die Wehrpflicht ein, Norwegen 1814. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die meisten europäischen Großmächte – Osterreich-Ungarn 1867, Russland 1874 – die Notwendigkeit anerkannt.

Allerdings lehnte Preußen es ab, bei seiner großen Militärreform seine Untertanen automatisch auch mit den Bürgerrechten auszustatten. Diese Rechte mussten verdient werden: Sie wurden als Belohnung für abgeleistete Dienste und erfüllte Pflichten verliehen. Sie waren kein Status, den man von vornherein genoss, wie es in Frankreich der Fall war. Die Idee, nach der die Menschen Bürger ihres Landes mit allen Rechten und Pflichten waren, blieb weitgehend an die revolutionären Regime und an die Gleichheitsvorstellungen, aus denen sie sich speisten, gebunden.

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