Loe raamatut: «Fürstin des Lichts», lehekülg 4

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Kapitel 3

Der alte Mann saß in der rechten Ecke am Eingang des S-Bahnhofs, er fror unübersehbar erbärmlich. Als ich den Bettler sah, verlangsamten sich meine Schritte und ich konzentrierte mich. Aus seiner Seele schlug mir Verzweiflung in all ihren tragischen Facetten entgegen. Tief sitzender Hass grollte, Todesangst waberte erwartungsvoll dazwischen. Genug, wie grauenhaft! Mir wurde speiübel. Aus meiner Geldbörse zerrte ich das komplette Bargeld hervor und drückte es dem Bettler im Vorübergehen in seine Hände.

„Danke, mein Engel“, rief er mir Flüchtenden hinterher.

Schwer atmend landete ich in der erstbesten Boutique.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Die Verkäuferin drehte Däumchen, keine Kundschaft. Nach einem taxierenden Blick auf meine Kleidung strahlte sie mich an.

Irritiert empfing ich Signale blanker Gier. Wortlos vollzog ich die Kehrtwende und betrat als nächstes zwei Häuser weiter den vertrauten Kerzenladen.

Nachdem sich der Einkaufskorb mit diversen Kerzen und einer Packung nach Vanille duftender Teelichter gefüllt hatte, stellte ich mich zu der kleinen Schlange an der Kasse. Die Mutter vor mir schleppte eine chronische Erschöpfung mit sich herum. Kein Wunder, ihre zappelnde und quengelnde, höchstens zehn Jahre alte Tochter erwies sich als Aggressionsbündel mit Tendenz zur Shoppingsucht. Ein junges Mädchen, es bezahlte gerade sein Plüschkissen, litt nicht nur an Liebeskummer, in ihr brodelten ebenso Rachegelüste. Der Kassiererin ging es kaum besser. Wehmut, Sehnsucht und ein bitter enttäuschtes Herz, das Fass stand kurz vor dem Bersten. Sie tat mir aufrichtig leid. Solch ein liebenswertes Wesen im Innern und im krassen Gegensatz dazu ihr unattraktives Äußeres.

Da sich gleich nebenan eine Bankfiliale befand, wollte ich mir frisches Verschenkgeld besorgen. Niemand belagerte die Automatenreihe, also kam ich auf die seltene Idee, gleich noch Kontoauszüge zu holen. „Mal sehen, wie weit mein Vorsatz gediehen ist, die fünf Millionen Euro von meinem Konto sinnvoll unter die Leute zu bringen.“ Der Drucker fing zwar nicht an zu qualmen, ratterte aber gefühlt eine Viertelstunde vor sich hin.

Muss ich das wirklich noch niederschreiben? Der aktuelle Kontostand betrug glatte fünf Millionen. Das machte mich regelrecht unglücklich. „Du bist echt krank im Kopf“, kommentierte mein Alter Ego.

Beklommen steuerte ich auf das Café vis-à-vis zu. Eigentlich zu voll besetzt für meinen Geschmack, trieb mich der Durst dennoch hinein. Eine unvorstellbare Flut aus Gefühlen und Empfindungen jeder erdenklichen Couleur brandete mir entgegen, überrollte mich, dass meine Sinne kollabierten. Irgendwie kam ich hinaus und lief in Panik fort.

Die Lichtwesen hatten meine Fähigkeit, die Gefühle von Menschen zu lesen, so absurd verstärkt, dass es mich fast um den Verstand brachte.

Hinterher konnte ich mich kaum erinnern, wie ich nach Santa Christiana gelangt war. Schluchzend brach ich neben dem Altar zusammen, gnädig sangen mich die Sternelben in tiefen Schlaf.

Als Pater Raimund gegen 23 Uhr von einem Leichenschmaus zurückkam, wobei ihn dieses Wort anekelte, durchfuhr ihn wegen des Lichts in der Kirche ein mächtiger Schreck. Zunächst Einbrecher vermutend, schlich er sich näher an die Tür. Das magische Licht verschwand. Er tastete routiniert nach dem Lichtschalter. Gelbtrübes Licht erhellte den Altarraum. Soweit auf den ersten Blick erkennbar, fehlte nichts. „Moment, sollte eventuell die junge Frau …?“ Entsetzt schnappte der Priester nach Luft, bevor er mich entschlossen an der Schulter berührte. Benommen schlug ich die Augen auf.

„Gütiger Himmel, Lilia, was tun Sie denn um diese Uhrzeit hier?“

Wahrheitsgemäß gestand ich, eingeschlafen zu sein.

„Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.“

Widerspruch war zwecklos.

Eine halbe Stunde später lieferte mich Pater Raimund am Gartentor ab.

„Danke! Bis morgen.“

Er sandte leichte Verwirrung aus.

Im Gartenhaus brannte kein einziges Licht. Kein Abendessen stand auf dem Tisch, stattdessen befanden sich diverse Töpfe auf dem Herd.

Wo ist Elin?“

Sie wacht.“

Erst essen, dann reden.“

Leichter gesagt als umgesetzt. Wo befanden sich Besteck, Teller, Suppenkelle und ähnlich Notwendiges? Am Ende standen sämtliche Schubladen und Schranktüren offen. Fehlte noch der Wein. „Wo? Im Kühlschrank? Mist, kein Wein im Haus“, meckerte ich leise vor mich hin. „Sekunde mal, die Vorratskammer.“ Beim Anblick des gut sortierten Weinregals musste ich sofort wieder an den Bettler denken. „Im Luxus schwelgen, aber dann in deinen eigenen vier Wänden nicht auskennen“, stellte ich mich genervt in den Senkel. „Kannst du dir gleich für morgen vornehmen.“ „Was du heute kannst besorgen …“, lästerte mein Alter Ego. „Ruhe! Essen!“

Als der Kamin und einige der erworbenen Kerzen brannten, machte ich es mir mit bereits dem zweiten Glas Rotwein auf der Couch gemütlich. „Verratet ihr mir, warum Elin immer bei Dunkelheit fortgeht?“

Die Sternelben lieferten eine genauere Auskunft, als am Ende verdaubar war: „Ihre Aufgabe ist es, über die Stadt zu wachen, damit das Böse in der Finsternis kein allzu leichtes Spiel hat.“

Aber was genau tut sie?“

Elin kämpft gegen Dämonen.“

Der Schreck fuhr mir derart heftig in die Knochen, dass Rotwein auf den Teppich schwappte. „Allein?“

Keine Sorge, seit ungezählten Jahrhunderten tut sie nichts anderes.“

Während mein Adrenalin im Herztakt hochkochte, hörten sie sich an, als hieße das Thema des Abends kunstvolles Schaufechten. Zum ersten Mal machten sie mich wütend, was den Sternelben keineswegs entging.

Halb bestürzt, halb verständnislos ob meiner Aufregung nahmen sie einen zweiten Anlauf: „Das Licht und die Finsternis sind ebenso Gegenspieler wie Elben und Dämonen auf eurer Erde. Das ist der ewige Kampf, aufgezwungen von der finsteren Macht.“

Aber warum hören sie nicht einfach auf?“

Wegen der Menschen und wegen des Sternsilbers“, psalmodierten sie. „Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Der Dämonfürst tötete die Elbenfürstin und gelangte so in den Besitz ihres kostbarsten Schatzes, wie du in dem Buch gelesen hast. Nur wenn die Elben ihm die Menschen überließen, würde er das Sternsilber im Gegenzug eintauschen.“

Eine schlimme Vorahnung überfiel mich. „Wie hieß die Elbenfürstin?“

Ihr Name ist dein Name.“

Meine grauen Zellen verweigerten die Annahme des mysteriösen Brockens, fragten stattdessen weiter. „Warum wacht Elin gerade hier in Berlin, was ist mit dem Rest des Landes?“

Hier herrscht die größte Gefahr, denn die Macht des Dämonfürsten ist gewaltig, wo er weilt.“

Das verschmierte Glas in meiner Hand begann zu zittern. „Er ist hier?“

So ist es.“

Und wenn der Dämonfürst nun Elin tötet?“, rief ich entsetzt.

Das darf niemals geschehen!“ Unerwartet schnell zogen sich die Sternelben jetzt zurück.

Zwischen Wahrheit und Wahrheit liegen endlose Weiten. An diesem Abend überspannten sie den Bogen, die Folgen würden fürchterlich sein.

In der endlich einsetzenden Morgendämmerung zwitscherte ein Vogel unbekümmert sein Frühlingslied. Doch in meinem Kopf echote wieder und wieder der Sterngesang: „Ihr Name ist dein Name.“ Als versuchten Befreiungsschlag stieß ich die Terrassentüren weit auf. Elin erschien. Eine Kaskade der Gefühle rauschte durch meine Seele.

Ah, sie haben es dir erzählt.“ Spürbar mitgenommen, sichtbar durch ein leichtes Flackern ihres geschwächten Lichtes, setzte sie sich mir gegenüber.

Wann und wo schläfst du überhaupt, Elin?“

Das entspricht nicht unserer Art.“

Ich hob die Augenbrauen.

Geh schlafen, Lilia“, wehrte sie ab und ich fügte mich.

Bloß um im Bett hellwach über die unbedeutendste aller Winzigkeiten nachzugrübeln. Angeblich lebte ich in einer Stadt mit Dämonen. Wollte, konnte oder musste ich die Behauptung schlucken?

Der Schlaf brachte wirre Albträume von schwarzen Monstern.

Obwohl längstens vier Stunden im Bett gewesen, flüchtete ich hinunter in die Küche.

Dort warteten mein verspätetes Frühstück und Elins unergründlicher Lupenblick.

Allerdings war mir der Appetit vergangen, zu vieles lag mir im Magen. „Elin, wie kann ich dir helfen?“

Überraschend floss mir Zuneigung entgegen. „Die Zeit dafür wird kommen. Lerne, Lilia, das ist jetzt deine Aufgabe.“

Aber das hilft dir doch kein bisschen!“

Nun, wenn du die Magie bezwingen lernst, dann schon.“

Du meinst, dann musst du für mich nicht ständig das Kindermädchen spielen?“, neckte ich.

Sie reagierte zwar abwehrend, der Kern darin stimmte jedoch erkennbar. „Seit langen Jahren mied ich Menschenkontakte. So vergaß ich, wie verschieden unsere Seelen sind. Nachdem allerdings deine Ur-Seele erwacht ist, scheint sie scharfäugiger denn die meine.“

Das Kompliment tat gut. Also erzählte ich Elin von meinem Horrortrip unter Menschenseelen.

Ihre Reaktion fiel drastisch aus. „Hat das Licht dich gelehrt, deinen Geist zu verschließen?“

Äh, nein?!“

Genau dies vollführte die Elbe nun abrupt. Trotzdem meinte ich zu spüren, dass sie den Sternelben ordentlich den Marsch blies.

Wenige Augenblicke später ordnete Elin an: „Geh noch heute in die Kirche.“

Das wollte ich ohnehin. „Üben wir vorher noch Magie?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Nur, wenn du endlich frühstückst.“

Unsere magischen Übungen traten diesmal zu meinem Frust gänzlich auf der Stelle. Endlich gab ich genervt auf und löste den Vorsatz aus der vergangenen Nacht ein, Stück für Stück mein Heim zu erkunden. Richtig pingelig vom Keller bis ins Observatorium. Erwähnenswert ist an dieser Stelle einzig das verschlossene Minizimmer im ersten Stock. Nach meiner Erinnerung lag auf der Nordseite nur eine dunkle Abstellkammer. Die Tür knisterte vor Magie! Umgehend befragte ich die Elbe. Hinter der Tür befand sich ihr Zimmer!

Empört und beschämt schimpfte ich wie ein Rohrspatz: „Du kannst es dir aussuchen, entweder die Gästewohnung oder besser noch das Observatorium mit Sternenblick.“ Mit wild in der Luft schlackerndem Zeigefinger drohte ich hintendrein: „Etwas anderes kannst du dir aus dem Kopf schlagen.“

Die Elbe zeigte sich gerührt. Doch erst als ich mit Essensverweigerung drohte, gab sie sich trällernd geschlagen. Leichten Herzens ließ ich sie allein.

Sonnenschein und Vogelgezwitscher empfingen mich vor dem Haus, der erste Frühlingstag. „Ach, jetzt müsste der Brunnen plätschern. Und Frühlingsblumen müssen ebenfalls unbedingt her. Vielleicht finde ich morgen Zeit, ins Gartencenter zu fahren.“ Wozu stand schließlich ein Auto in der Garage? Kaum hatte ich den Brunnen passiert, sprang darin Wasser melodisch über kleine Kaskaden. „Danke, Elin!“

Auf dem Weg zur S-Bahnstation überlegte ich, wie sich das Innenleben der Fahrgäste in dem Zug am besten ignorieren ließe.

Verkrampft nahm ich im Waggon einen Stehplatz mit Fensterblick ein und versuchte energisch, meine Gedanken fest auf Santa Christiana zu richten. Dennoch drangen auf mich Lust und Frust, Neugier und Apathie, Hoffnungen und Kummer wie angesogen ein.

Zweimal stieg ich unterwegs bebend aus und holte zehn Minuten mühsam Luft, bis der nächste Zug kam. Zu guter Letzt hatte ich mein Ziel mit übel ramponierten Nerven erreicht.

Abgeschlossen, auch das noch!“ Was blieb anderes übrig, als am Pfarrhaus zu klingeln.

Anstatt eines ‚Hallo, wie geht es Ihnen‘, schimpfte der öffnende Priester: „Werfen Sie, salopp ausgedrückt, immer derart mit Geld um sich?“

Offensichtlich war meine Spende für die wertvolle Orgel auf dem Gemeindekonto eingegangen.

Schlagfertig gab ich zurück: „Es heißt schließlich Geben und Nehmen und nicht Nehmen und Nehmen.“

„Da ich nun ganz unverschämt zwei Mal genommen habe, wie sehen Ihre Forderungen an mich wohl aus?“, konterte er schelmisch.

Gespielt erschienen tiefe Furchen des Nachdenkens auf meiner Stirn. „Sie bekennen sich freiwillig schuldig, also mildernde Umstände“, spannte ich ihn auf die Folter. „Wie wäre es mit lebenslanger Freundschaft? Ja, ich denke, das wäre eine angemessene Strafe.“

„Das ehrt mich zwar, scheint mir aber ein zu geringer Preis.“

Eine vage Eingebung verleitete mich zu dem mit Nachdruck vorgetragenen Satz: „Unterschätzen Sie niemals echte Freundschaft, sie könnte Ihnen Ungeahntes abverlangen!“

Von meiner plötzlichen Ernsthaftigkeit überrumpelt, brachte Pater Raimund lediglich ein zustimmendes Nicken auf die Reihe. Ich lächelte sanft. Das ermutigte ihn wiederum.

„Und der zweite Preis?“

„Na, Sie nehmen es aber ganz genau. Also gut. Jederzeit Zugang zur Kirche?“

„Abgemacht. Sie erhalten den Zweitschlüssel.“ Mein neuer Freund verschwand und tauchte wenige Augenblicke später mit dem Schlüssel auf. „Allerdings dürfen Sie ihn auf gar keinen Fall verlieren, sonst komme ich in Teufels Küche.“

Lass den Schlüssel hier“, rieten die Lichtwesen.

Folgsam sagte ich zu dem Priester: „Ein sicheres Versteck an der Kirche wäre mir lieber.“

Gemeinsam gingen wir hinüber und wählten schließlich eine unauffällige Stelle, wo sich ein Ziegelstein aus dem porösen Mauerwerk gelöst hatte.

„Leisten Sie mir zur Belohnung nachher Gesellschaft bei einer Tasse Tee?“

Sein interner Ringkampf aus brennender Neugier und priesterlicher Demut brachte mich ungewollt zum Schmunzeln. „Sicher, dass es sich bei einer Tasse Tee mit mir um eine Belohnung handelt? Dann bis nachher.“ Damit öffnete ich die Kirchentür und ließ ihn perplex zurück.

Lilia, wie schön, dass du gekommen bist“, empfingen die Sphärenheiligen mich säuselnd.

Ups, das klingt fast nach einem schlechten Gewissen der Sternelben.“

Dir Qualen zu bereiten lag uns fern, bitte verzeih.“

Schon okay, auf jeden Fall waren die dramatischen Erfahrungen mit menschlichem Seelenleid lehrreich. Eure Hilfe nehme ich dennoch dankbar an.“ Diese günstige Gelegenheit musste beim Schopf gepackt werden. „Wo wir gerade beim Thema sind, könntet ihr mir beim Erlernen der Magie auch ein bisschen unter die Arme greifen?“

Die Magie wohnt dir inne, du musst sie lediglich erkennen lernen.“

Eine herbe Enttäuschung. „Ich möchte Elin doch furchtbar gerne helfen“, quengelte ich gequält.

Du sorgst dich um sie“, stellten sie mit Wohlwollen fest.

Ja, sehr.“

Die Sternelben nahmen das in mir stetig wachsende Gefühl einer unbestimmten Bedrohung auf. „Lerne, Lilia, das ist unser bester Rat an dich. Schon bald wirst du eine Aufgabe erhalten, die dir den Sinn vergegenwärtigt.“

Ungeniert ratterte ich auf ihr Stichwort hin die nächste Wunschliste herunter: „Bis dahin benötige ich ganz sicher mehr Geschicklichkeit und Schnelligkeit – und perfektes Englisch, um meine Allgemeinbildung aufzumöbeln, und …“

Halte ein!“ Doch die Lichtwesen erfreuten sich an meinem Bestreben, das Beste aus mir zu formen.

Leider fehlten darunter jene Wünsche, die sie als Top Ten für eine Halbelbe favorisierten.

Aus dem Buch „Inghean“

Das Menschenkind mag noch so lernwillig sein, niemals wird es den Fähigkeiten einer Elbe auch nur nahe kommen.

Aufgetankt mit lichtener Energie strebte ich dem avisierten Tee entgegen.

Die Haushälterin öffnete. „Willkommen, der Herr Pfarrer telefoniert, aber ich soll Sie schon mal reinbringen. Mögen Sie Aprikose-Nusskuchen?“ Ohne Punkt und Komma redete sie fröhlich weiter. Es sprudelte nur so aus ihrem guten Herzen hervor, welches garantiert schwerlich zu erschüttern war.

„Lilia, ich dachte schon, du kommst nicht mehr vorbei.“

Wie leicht ihm das Du jetzt über die Lippen kam! „Ich hatte eine Menge zu klären.“

Raimund fixierte mich. „Du tust es. Richtig? Du redest mit ihm.“

Sein Gefühlscocktail entlockte mir ein Lächeln. Halb ohnmächtig, halb ehrfürchtig, gewürzt mit einer klitzekleinen Prise Neid. Wir setzten uns an den gedeckten Tisch, bevor ich antwortete: „Nein, mit ihnen.“

Der Groschen fiel bei ihm mit der gedehnten Langsamkeit eines Schwerelosen. Die Wucht des Aufpralls kam für uns beide überraschend.

„Ihnen?“, japste er.

Totenstille, ich ließ ihn begreifen, saß reglos da, bis der Duft des Kuchens jegliche Zurückhaltung fahren und mich zulangen ließ.

„Ihnen?“, wiederholte er tonlos.

Was soll ich ihm sagen?“, erbat ich Hilfe.

Sehr behutsam die Wahrheit, Lilia.“

Erst nachdem mir die Sternelben mehrfach versichert hatten, dass Raimund weder durchdrehen noch sonstige Dummheiten anstellen würde, verließ ich das Pfarrhaus. Heftigster Zweifel nagte an mir. „Habe ich wirklich das Richtige getan?“

Er musste es erfahren.“

Warum?“

Weil der Priester einer der wichtigsten Menschen in deinem Leben sein wird.“

Die Wahrheit hat ihn hart getroffen“, bedauerte ich.

Er wird daran wachsen.“

Versprochen?“

Im Namen des Lichts!“

Elin war bereits fort, noch ein Kummer mehr. Das Abendessen ignorierend, ging ich rastlos im Haus umher. Meine Gedanken schweiften zurück an den Anfang dieser Geschichte. „Stell dir mal die Vorher-Nachher-Frage“, forderte ich mich beinhart heraus. „Vorher gab ich ein verhuschtes, zurückgezogenes Wesen, das für die Menschheit so unwichtig wie eine ferne Galaxie war.“ Jetzt befand ich mich seekrank auf einem fremden Schiff, unterwegs zwischen menschlichen Wirrungen und himmlischem Treiben. Ziel unbekannt. „Verdammt, der Preis lässt sich in Geld kaum mehr messen.“ Würde die Geschichte am Ende von Leben oder Tod erzählen? „Sei vernünftig, tot ist am Ende jeder.“ „Nicht der Dämonfürst“, erwiderte mein Alter Ego trocken. „Hör auf!“ Gleichgültigkeit. Wieso empfand ich plötzlich Gleichgültigkeit? „Weil du dich endlich in dein fremdbestimmtes Schicksal zu fügen beginnst.“ Na, dann konnte ich jetzt genauso gut essen.

Guten Morgen, Elbenkind.“

„Hmmh?“

Noch halb verschlafen, konnte mich Elin herrlich auf die Schippe nehmen. Mit in die Hüfte gestemmten Händen stand sie am Fußende des Bettes.

Meine gegähnte Antwort: „Erst Tee.“

Die Elbe erinnerte mich an die Party meines Nachbarn. „Heute Abend wirst du endlich mal eins deiner schönen Kleider anziehen.“ Darüber schien sie völlig aus dem Häuschen zu sein.

Wieso, was hast du gegen Hosen?“

Lilia, deine Schönheit ist elbengleich, das darfst du ruhig zeigen.“

Okay, dann kannst du mich ja für das große Ereignis ankleiden“, meinte ich spöttelnd.

Die Aufforderung sollte ich bereuen. Na ja, nicht ernsthaft.

Wir setzten den magischen Unterricht fort. Diesmal flogen sämtliche Gegenstände, ohne den Nebeneffekt heftiger Schweißausbrüche, an jeden gewünschten Ort innerhalb des Hauses. Der Wasserkocher füllte sich zum ersten Mal von selbst, der Tee zog – bis er ungenießbar war. Üben, üben, üben.

Danach forderte Elin mich mit einer völlig neuen Aufgabe heraus. „Schließ die Augen, stell dir den Supermarkt vor, konzentriere dich auf die Kühlschränke, fixiere dein Lieblingsjoghurt, rufe es.“

Mit zusammengekniffenen Augen, gefurchter Stirn und maximaler Konzentration verharrte ich minutenlang wie in Stein gemeißelt.

Die Sauerei war unbeschreiblich! Etwa ein halbes Dutzend Gläser, gefüllt mit je 500 Gramm Joghurt, zersplitterte auf dem Küchenboden. Immerhin, wir blieben unverletzt und schüttelten uns vor Lachen. Elin schlenkerte sauber.

Hast du Lust, gleich mit ins Gartencenter zu kommen?“

Ein Wimpernschlag mit Traurigkeit füllte Elins Augen.

Tut mir leid!“

Nicht doch, wie lieb von dir, zu fragen.“

So eine dämliche Idee, ich kam mir richtig gemein vor. Zerknirscht schob ich allein ab.

Drei Wagenladungen und mehrere Stunden später stand der halbe Platz vor dem Gartenhaus voll mit Pflanzen. Hungrig wie eine Löwin ging ich hinein. Elin sang gerade ein Elbenlied über ihre Liebe zu den Blumen.

Während das Essen zunächst meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, bemerkte ich irgendwann doch noch das elbische Schweigen. Den Löffel halb in der Luft belassend, fragte ich hastig: „Ist etwas geschehen?“

Nein. Wie kommst du darauf?“

Los, raus damit, dir brennt etwas auf der Seele.“

Dir bleibt rein gar nichts mehr verborgen.“

Und?“ Meine Augenbrauen flogen bis zum Haaransatz hinauf.

Dürfte ich eventuell helfen, die Blumen einzupflanzen?“, brach Elin doch noch ihr Schweigen. Das Maß ihrer mitschwingenden Sehnsucht passte auf keine Skala. Geradezu göttlich, wen wunderte es.

Dürfen? Ich bestehe darauf!“ Wundervoll, Elin ein echtes Geschenk bereiten zu können.

Kurze Zeit später betraten wir den angenehm von der Sonne erwärmten Platz.

Wenn du magst, lehre ich dich einiges Wissen über Pflanzen“, bot die Elbe an. „Zuvor musst du jedoch einen Schwur leisten.“

Ein dickes Fragezeichen erschien in meinem Kopf.

Schwöre beim Licht, dass du dir niemals wünschst, die Sprache der Pflanzen zu lernen. Denn du würdest an ihren Qualen sterben.“

Meine Augen glitten kurz über die Einkäufe und ich verstand. „Ich schwöre es! Die Blumen leiden in Plastikgefäßen, das war mir schon immer klar“, stellte ich fest, um nicht als totales Dummchen da zu stehen.

Elin nickte.

Na dann, ran an die Buddelarbeit.“ Erst in diesem Augenblick, echt typisch, dämmerte mir: Nie zuvor hatte ich Blumen in Beete gepflanzt.

Nebenbei erzählte Elin: „Pflanzen sind den Menschen in manchem ähnlich. Da gibt es schüchterne und robuste, empfindliche und dominante, Sonnenhungrige und Nachtgewächse. Jede versucht, nach ihrer Art und Bestimmung zu gedeihen. Pflanzen und Tiere brauchen einander, sie geben und nehmen im komplizierten Kreislauf des Lebens.“

Aber manchmal läuft auch einiges aus dem Ruder“, warf ich ein und dachte an Blattläuse, Raupen, Schnecken oder sonstige Gärtnerplagen.

Die Natur stellt das Gleichgewicht immer wieder her“, erläuterte Elin. „Nur wo Menschen große Schäden anrichten, versagen ihre Heilkräfte.“

Ja, wir Menschen kriegen alles kaputt, wie ich das verabscheue.“

Erstaunt sah Elin auf.

Na, ganz auf den Kopf gefallen war ich in meinem früheren Leben nicht“, brummte ich zu ihrer Erheiterung.

Bis zum frühen Abend gestalteten wir nach Elins präzisen Wünschen die Beete rund um mein Haus neu.

Wie wäre es jetzt mit Currysuppe, Baguette und Salat?“, schlug Elin vor.

Das klingt total verlockend.“

Und danach zügig unter die Dusche, damit wir dich noch ankleiden können“, bestimmte sie.

Sofort zog ich einen Flunsch. Höchstens nach Dämonen stand mir weniger der Kopf, als diese doofe Party des Nachbarn zu besuchen. „Ach du lieber Himmel, ich habe ja gar kein Geschenk!“

Ratlos blickte ich Elin an, die bloß schlenkerte.

Was ist da drin?“, wollte ich angesichts der schicken Verpackung wissen.

Edler Whisky.“

Igitt.“

Er sammelt Whisky.“

Den kann der Widerling getrost allein trinken. Trotzdem herzlichen Dank für die Rettung, Elin.“

Ohne Begeisterung trödelte ich nach oben. Die Elbe sandte mir noch ihre Botschaft hinterher, sie wolle in der Zwischenzeit einen Schutzzauber für alle Pflanzen über den Park legen.

Stell dich hier vor den Spiegel und schließ die Augen“, wies Elin mich an.

An meinem Körper verspürte ich den Kleiderwechsel, dann eine zarte Berührung im Gesicht, zuletzt Bewegung in meinen langen Haaren.

Erledigt!“

Vorsichtig lugte ich unter meinen frisch getuschten Wimpern hervor. Das dunkelblaue Samtkleid umschmeichelte meinen Körper, ein Hauch von Makeup unterstrich meine Augen. Die Haare hatte Elin raffiniert mit einer Silberspange aufgesteckt, wobei einzelne Locken wie zufällig herausfielen. Zauberhaft. „Reichlich übertrieben für den Anlass, oder?“

Das ist doch nicht für ihn, sondern für dich“, lächelte Elin. „Fehlt nur noch dies.“ Sie hielt einen schmalen Silberreif empor, an dem ein filigraner Stern aus blau glitzernden Edelsteinen hing. Für Schmuck besaß ich zwar keinen Sinn, doch er war wunderschön.

Das ist ein Amulett, Lilia. Es beschützt dich vor bösen Menschen. Sie können dir niemals zu nahe treten.“

Aber es gehört dir, das kann ich unmöglich annehmen“, wehrte ich ernsthaft ab.

Ich schenke es dir. Bitte, ich wäre beruhigt, wenn du das Amulett fortan immer trägst.“ Und damit legte sie den Reif um meinen Hals.

Tief empfundene Dankbarkeit strömte ihr entgegen.

Dem Widerling, sein Name war mir sowas von Wurst, quollen fast seine Augen aus dem Kopf, als ich vor seiner Tür stand.

„Unsere Prinzessin!“, schleimte er und trat zurück. „Bitte komm hinein in mein bescheidenes Haus.“

Schnell drückte ich ihm den Whisky in seine Hände, ließ ihn gaffend stehen und wanderte in sein Wohnzimmer von der Größe eines Ballsaales. Klobig protzige, pechschwarze Ledergarnituren dominierten, von den Wänden fuhren riesige Acrylgemälde ihre aggressiv grellen Farbkrallen aus. „Schaurig.“ Auf dem – natürlich schwarzen- Flügel klimperte ein Pianist mit gelangweilter Miene herum. Sofort war ich versucht, mir mit Rotwein, Cocktails oder sonst was Alkoholischem die Kante zu geben. Endlich registrierte ich die murmelnde Stille der zahlreichen Gäste. Sie stierten mich mehr oder weniger offen an. „Na toll.“

„Liebe Freunde, darf ich euch meine reizende Nachbarin Lilia vorstellen. Sie hat jüngst mein herrliches Gartenhaus erworben.“ Ganz offensichtlich legte der Widerling nach.

Doch bevor ich zumindest innerlich meiner Empörung über das aufgedrängte ‚Du‘ Luft machen konnte, geschah etwas Wundervolles. Wie eine aufplatzende Seifenblase, gefüllt mit reinem Licht, fühlte es sich an. Meine Seele flutend, verschwand die schwarze Seite meines Ichs. Hass, Neid, Schadenfreude oder Hohn, was immer darauf lauerte, mein Dasein zu vergiften, alles fortgespült. „Hallo, existiere ich noch?“, rief ich zaghaft in mich hinein. „Ja“, kam die gehauchte Antwort, „und es fühlt sich himmlisch gut an“.

Ekstatisch jubilierend ließen mich die Sternelben minutenlang auf imaginären Engelsflügeln schweben. Wie meine vollkommene Entrücktheit wohl auf die anderen Partygäste wirken mochte? Die verstörende Antwort darauf erfolgte postwendend. Der widerwärtige Ausguss eben jener frisch getilgten Empfindungen prallte wie Pestilenz gegen meine Seele. Er stammte von etlichen der anwesenden Frauen. Derweil floss unbekümmert ein Smalltalk belangloser Nettigkeiten über mich hinweg.

Verschließe deine Seele, Lilia.“

Kann ich jetzt nach Hause?“

Geduld!“

Mit eingefrorenem Lächeln betrachtete ich häufiger den schleichenden Zeiger der monströsen Wanduhr als die verlogenen Gesichter um mich herum. Kurz vor Mitternacht vernahm ich schließlich eine interessante Stimme. Sie gehörte zu dem eher unscheinbaren Mann in der hintersten Ecke. Anscheinend versuchte er, gelangweilt dreinblickenden Sitznachbarn seine Begeisterung für Fossilien zu vermitteln. Amüsiert ging ich näher heran.

„Glauben Sie mir, wenn Sie Ihren ersten versteinerten Seeigel oder gar Trilobiten am Strand finden, packt Sie die Leidenschaft.“

„Da kann ich Ihnen von ganzem Herzen zustimmen“, mischte ich mich in seinen Monolog ein.

Wie er mich mit einem Wechselbad der Gefühle ansah! Wollte ich ihn verspotten? Plötzlich strahlte er. „Sie wurden als Lilia vorgestellt, nicht wahr. Mein Name ist Frank, genauer gesagt Professor Frank Welten.“

„Freut mich, Professor.“

Mehr als bereitwillig räumten gleich vier Gäste kopfschüttelnd ihre Plätze. Entspannt begannen wir Zwei eine angeregte Plauderei über unsere Leidenschaft für versteinertes Strandgut.

So raste die Zeit auf drei Uhr morgens zu.

Unser Gastgeber torkelte mit einer feurigen Rothaarigen im Arm heran. „Ich fahre das Schätzchen mal eben nach Hause. Bleibt, solange ihr wollt.“

Ich intervenierte energisch: „Nehmen Sie ein Taxi, Sie können nicht mehr fahren!“

„Keine Sorge, Prinzesschen, wir sind schon erwachsen“, kam leicht lallend zurück.

Zweiter Versuch: „So seien Sie doch vernünftig.“

Aber das Pärchen verschwand bereits winkend zur Haustür.

Der Professor schüttelte unwillig seinen Kopf. „Stets übers Ziel hinaus, so war er schon immer.“

Nachdem mein Retter des Abends, obwohl nüchtern, in einem Taxi davonfuhr, betrat ich den Kiesweg zum Gartenhaus. Leichter Frost lag in der Luft. Der Sternenhimmel zeigte sich über meinem Kopf, soweit er das Stadtleuchten durchdringen konnte. Um den stillen Anblick zu genießen, blieb ich stehen. Da schoss eine Gänsehaut wie stechende Eiskristalle über meinen gesamten Körper. „Was …?“ Es kam langsam auf mich zugekrochen, mehr als nur Grauen, bestialisch, höllisch. Erstarrt registrierte ich die nie zuvor erlebte Empfindung.

Die Sternelben brausten panisch: „Lilia, ins Haus, sofort!“

Rennend öffnete ich mit Magie die Haustür, krachend fiel sie hinter mir zu. „Licht an!“ Mit einem heftigen Handschlenker erstrahlte die gesamte Beleuchtung. Ich flüchtete mich in die Küche. „Was ist das?“

Ein Dämon streift umher, Elin ist auf dem Weg, warte.“ Die Sphärenfrauschaft hüllte mich in ihr Licht. Aber sie verheimlichten mir, dass es meine erstrahlte Seele war, die den herumstreunenden Dämon anzog. Vor allem aber verschwiegen sie, dass ihr Licht lediglich meiner Beruhigung diente. Gegen einen Dämon war es nutzlos schwach an diesem Ort.

Mein Hirn wiederholte in Endlosschleife: „Ein Dämon? Ein Dämon! Ein Dämon? ...“

Bestimmt eine halbe Ewigkeit saß ich zitternd am Küchentisch und starrte zu den Fenstern. Plötzlich erleuchtete ein gleißend weißer Blitz den Park, kurz darauf erschien die Elbe.

Bist, bist du okay? Ist der – ist er tot?“, brachte ich mit klappernden Zähnen mühsam hervor.

Sie nickte und verschwand erneut.

Antworten wollte ich selbstredend keine. Zwischen den Schüben eines Schluckaufs, sicherlich die körperliche Reaktion auf den Zustand meines Gehirns, gab ich mir nun absichtlich mit einer halben Flasche Rotwein die Kante.

Aus dem Buch „Inghean“

Es wird von Nacht zu Nacht schwieriger, die Dämonen von dem Heim des Menschenkindes fern zu halten. Meine Sternschwestern haben die Gefahr unterschätzt.