Renovatio Europae.

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FORTSCHRITT, SOCIAL
ENGINEERING UND DIE FRAGE NACH DER IDENTITÄT EUROPAS – EINE BESTANDSAUFNAHME

Zdzisław Krasnodębski

1. Einleitung

Als ich in den 1990er Jahren meine Habilitationsschrift mit dem Titel »Der Niedergang der Fortschrittsidee« veröffentlichte, welche in Polen als eines der ersten »post-modernen« Bücher betrachtet wurde, war ich nach den Erfahrungen des Kriegsrechts und des offensichtlichen Scheiterns der Sowjetunion optimistisch genug zu hoffen, daß zusammen mit dem Kommunismus auch der Gedanke, der »Fortschritt« sei die Antwort auf alle Gesellschaftsfragen, verschwinden würde. Doch die Reaktionen meiner progressiven Freunde, welche ganz in den Ideen der 1968er Jahre und der verschiedensten Emanzipationsbewegungen aufgingen, belehrten mich bald eines Besseren.

Die Geschichte kehrt wieder, und eines der wohl bezeichnendsten Beispiele hierfür ist der kürzlich veröffentlichte, breit beworbene Aufruf des französischen Präsidenten mit dem Titel »Für einen Neubeginn in Europa«. Was auf den ersten Blick wie eine unerwartete Schützenhilfe für das Projekt des vorliegenden Bandes wirken könnte, dem es ja ebenfalls um eine »Erneuerung Europas« geht, vertritt dabei allerdings, wie zu erwarten, eine ganz andere Stoßrichtung.

Hierbei stellt sich bereits beim Titel die Frage, von welchem »Europa« hier überhaupt die Rede sein soll. Es ist keine Überraschung, daß jede politische Körperschaft, und so auch die EU, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Definitionen entwickelt. Damit meine ich nicht nur, daß selbst das EU-Englisch vom britischen oder amerikanischen Englisch sehr verschieden ist, sondern auch die Tatsache, daß sich hinter der gegenwärtigen Verwendung einer ganzen Reihe von altbekannten Begriffen eine neue Realität verbirgt. Im »Neusprech« der Gegenwart, um einen Begriff George Orwells aufzugreifen, besteht eine gewisse Tendenz, »Europa« mit der »EU« gleichzusetzen und umgekehrt. Wer von »glühenden Europäern« spricht, meint heutzutage kaum noch einen Menschen, der die große kulturelle Vielfalt unseres Kontinents verehrt und sich etwa mit dem Reichtum unserer Literatur oder Musik auseinandersetzt, indem er beispielsweise Beethoven mit Debussy oder Mickiewicz mit Baudelaire vergleicht; ein »glühender« oder »guter« Europäer ist heutzutage ein strammer und weitgehend unkritischer Verfechter der gegenwärtigen EU – ein verhältnismäßig neues Phänomen, hinter dem wohl die Entwicklung steckt, daß von dem alten Wahlspruch der »Einheit in Vielfalt« zunehmend, und trotz vorgeblendeter »Diversity«-Beschwörungen, nur noch der Appell an die Einheit der Meinung übriggeblieben ist. Im folgenden wollen wir anhand des Aufrufs von Präsident Macron jene Tendenz etwas näher betrachten.

2. Von der Christenheit zu Europa

Macron schreibt in eindringlicher Weise: »Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr1 Welches Europa meint er hiermit? Die Europäische Union? Oder – wenig wahrscheinlich – die historisch gewachsene abendländische Kultur? Und um welche Gefahr handelt es sich hierbei wohl? Sie muß wohl sehr groß sein, wenn sie angeblich bedeutender ist als die Gefahr, welche jahrzehntelang in Form des Kalten Kriegs nicht nur der europäischen, sondern sogar der Erdbevölkerung mit der weitgehenden atomaren Auslöschung drohte. Und ob diese Gefahr tatsächlich aus polnischer Perspektive wirklich so bedeutend ist wie die Jahre 1956, 1968 oder 1981? Wer ist der Feind?

Danach aber wird Macron klarer, denn wir lesen: »Der Brexit ist dafür ein Symbol. Ein Symbol für die Krise in Europa, das nicht angemessen auf die Schutzbedürfnisse der Völker angesichts der Umwälzungen in der heutigen Welt reagiert hat.« Es würde hier zu weit führen, auf Eric Voegelins Theorie der Symbole zu verweisen, um die Frage zu besprechen, inwieweit und wofür der Brexit nun tatsächlich ein Symbol darstellt. Freilich können wir Macron nur zustimmen, wenn er vom Scheitern der EU (in seiner Wortwahl »Europas«) spricht, den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Eine EU, welche den Bürger schützt, wäre in der Tat eine gute Idee – aber vor wem? Sicherlich geht es Macron kaum um den Schutz des Abendlands, seiner Identität und seiner Traditionen vor den Gefahren der Moderne, oder?

Immerhin wird eines deutlich: Macrons Europabegriff ist nicht geographischer Art (schließlich ist Rußland doch in einem nicht unbeträchtlichen Maß Teil des europäischen Kontinents), sondern bezeichnet vielmehr eine bestimmte Form politischer Identität. Nun sind, wie die Soziologie lehrt, politische Begriffe wie »Europa« meist das Resultat innerer und äußerer Konflikte, dienen als Symbole für Loyalität und Feindseligkeit und haben Tendenz, von einzelnen politischen Gruppen benutzt und instrumentalisiert zu werden, so daß die Identifikation der Nutzer jener Begriffe sowie der Situation, in welcher dieser Prozeß sich vollzieht, ein interessantes Studienfeld darstellen könnte.

Bezeichnend für unsere Situation und den Geist der Erklärung Emmanuel Macrons ist dabei die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen der Europa-Begriff überhaupt begann, Teil der politischen Terminologie in den Debatten unseres Kontinents zu werden. Die Idee einer kulturellen und auch politischen Zusammengehörigkeit des Abendlandes geht zwar sehr weit in die Vergangenheit zurück (in Osteuropa bis in das 10. Jahrhundert, im Westen bis zu den Karolingern) und gründete auf jenen Werten, die heute als »konservativ« gelten, allen voran dem geteilten christlichen Glauben, der als »Christenheit« geradezu das Synonym jener abendländischen Identität darstellte. Doch im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Begriff der »Christenheit« infolge von Reformation und Säkularisierung zunehmend in das terminologische Fegefeuer archaischer Begriffe verbannt, und der Terminus »Europa« trat an seine Stelle.

Hierbei ist es interessanterweise im frühen 18. Jahrhundert, daß wir den Begriff der Christenheit zum letzten Mal als politischen Terminus wiederfinden. Denn nachdem noch im 17. Jahrhundert die Türkenkriege und die Rettung des Abendlandes durch Jan Sobieski dazu beigetragen hatten, die abendländische Identität, die »res Christiana«, durch den Kampf mit dem Islam kurzfristig religiös aufzuladen, sollte die Präambel des Vertrags von Utrecht aus dem Jahr 1713 zum letztenmal das »christliche Interesse« als Motivation für die damalige Neuordnung des Kontinents beschwören. Die betroffenen Parteien sprechen von ihrem » désir de procurer (autant qu’il est possible à la prudence humaine de le faire) une tranquillité perpétuelle à la chrétienté« und erklären: »Portés par la considération de l’intérest de leurs sujets, [ils] sont enfin demeurés d’accord de terminer cette guerre, si cruelle par le grand nombre de combats, si funeste par la quantité du sang chrétien qu’on y a versée.« Es dürfte dabei als eine Ironie der Geschichte zu betrachten sein, daß es damals wesentlich die Briten waren, welche sich gegen den französischen Anspruch einer universalen katholischen Weltmonarchie stellten und im Namen Europas für eine dauerhafte plurale Neuordnung des Kontinents plädierten…

3. Das Ende des Nationalstaats?

Heute freilich gilt das Konzept des Nationalstaats weitgehend als veraltet, während »Europa« (also eigentlich die EU) als die historisch prädeterminierte nächste Stufe im historischen Entwicklungsplan gesehen wird, welche ultimativ in einer globalisierten und multikulturellen Welt gipfeln wird, wenn auch alle Bürger noch nicht »reif« für eine solche Entwicklung sind und daher vorübergehend von der EU »geschützt« werden müssen. So lesen wir bei Macron: »Angesichts der globalen Umwälzungen sagen uns die Bürgerinnen und Bürger nur allzuoft: ›Wo ist Europa? Was unternimmt die EU?‹«

Nun scheint bereits jener angebliche Appell der Bürger an »Europa« (bzw. die EU) Frucht einer gewissen Projektion zu sein, denn zumindest in Polen scheint es eher unwahrscheinlich, daß ausschließlich die EU als fähig betrachtet wird, vor jenen Umwälzungen zu schützen (von denen viele, wie etwa die Migrationskrise und die Islamisierung, das Land ja auch gar nicht betreffen): Hier würde man eher sagen: »Was tut unsere polnische Regierung, diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten?« Freilich sieht die Lage in Deutschland, ja selbst in Frankreich anders aus, würde der Appell an den Nationalstaat hier doch wahrscheinlich sogar als »nationalistisch« ausgelegt werden.

Diese und viele andere ideologische Verschiebungen des politischen Diskurses lassen sich wohl am eindringlichsten am »Haus der europäischen Geschichte« in Brüssel ablesen. Hier erscheint die EU ganz offensichtlich als »telos« der gesamten abendländischen Geschichte, ganz im Einklang mit der in Deutschland entwickelten und überallhin exportierten Interpretation von Geschichte als Objekt der »Vergangenheitsbewältigung« (und gleichzeitig auch Vergangenheitsüberwältigung): Die gesamte europäische Geschichte wird (übrigens sehr summarisch) als eine einzige Folge von Greueltaten betrachtet, in welcher nur hier und da, etwa in Form der Französischen Revolution, das Licht der Vernunft als »Vorbote des Guten« durchscheint; die »richtige« Geschichte Europas aber beginnt eigentlich erst mit dem Zweiten Weltkrieg und beruht nicht nur auf dem üblichen »Nie wieder Krieg«, sondern auch auf der Verpflichtung der Selbstauflösung der Nationen als gerechter Strafe für die Verbrechen der Vergangenheit.

Aus polnischer Perspektive betrachtet, ist eine solche Darstellung der Geschichte kontrovers und zweifelhaft, da sie mit der in Polen und vielen anderen Ländern Mitteleuropas immer noch praktizierten Sicht der Vergangenheit kontrastiert: Geschichte ist hier immer noch eine Lehrmeisterin konservativer Werte- und Moralvorstellungen, ein Aufruf zur Imitation der großen Vorgänger, eine Verpflichtung zur loyalen Fortsetzung vergangener Traditionen und ein Schatz materieller und immaterieller Güter, die es zu bewahren und schützen gilt. Wie ich häufig bei Diskussionen mit meinen Kollegen selbst von der EVP feststellen mußte, mit denen ich das »Haus der europäischen Geschichte« besichtigte, scheint gerade eine solche Sichtweise der Geschichte im Westen Europas kaum noch verständlich: Selbst der Stolz auf den Heroismus des Widerstands gegen den Totalitarismus (etwa durch die polnische Heimatarmee, die sich nicht nur verzweifelt gegen die Nationalsozialisten, sondern auch gegen das kommunistische Regime gewehrt hat, oder die französische Résistance eines Jean Moulin) gilt nunmehr als zu »nationalistisch«.

 

Doch nicht nur das Christentum und der Nationalstaat werden heute weitgehend als positiv konnotierte, identitätsstiftende Faktoren abgelehnt, wie ich kürzlich erfahren mußte: Als ich in einem Bericht zur Lage der Erziehung davon sprach, daß die europäische Identität nicht nur auf christlichem Glauben, sondern auch griechischer Philosophie und römischem Recht beruhe, war es nicht nur der Hinweis auf das Christentum, der aus dem Text gestrichen werden mußte – das hatte ich erwartet –, sondern auch die Anspielung auf die klassische Antike. Selbst ein Verweis auf den Begriff der »Tugend«, die ich als ein wesentliches Ziel der Erziehung bezeichnete, wurde als »reaktionär« abgelehnt – auch für sie scheint kein Platz zu sein in einem offiziellen Dokument der Europäischen Union. Dabei ist es eigentlich unwesentlich, in welchem Maße jener Begriff des Fortschritts und der »Bewältigung« der Vergangenheit tatsächlich auch »offiziell« als Leitfaden der europäischen Institutionen erscheint: Zentral ist hier vielmehr das, was man mit Michael J. Sundal ihre »öffentliche Philosophie« (»public philosophy«) nennen könnte, welche sich eben nicht (nur) in der Ideologie, sondern auch den institutionellen Praktiken der Institutionen widerspiegelt. Und deren politische Ausrichtung ist mehr als eindeutig.

4. Der moralische Imperialismus des modernen Europa

Macron behauptet in seinem Aufruf: »Europa als Ganzes spielt eine Vorreiterrolle, denn es hat von jeher die Maßstäbe für Fortschritt gesetzt.« Für wen? Für die gesamte Welt? Und wann genau? Wie soll das mit der herkömmlichen Kritik am angeblich omnipräsenten Eurozentrismus einhergehen, welcher zudem ironischerweise gerade den Konservativen zur Last gelegt wird? Und welcher Fortschritt ist hier gemeint – scheinbar wohl auch der moralische und politische? Dies ist freilich eine sehr bedenkliche Haltung, welche ein wenig an das Interview erinnert, das Bruno Le Maire vor einigen Monaten dem Handelsblatt gab, und in dem es hieß, »daß Europa eine Art Empire werden muß, wie China es ist. Und wie die USA es sind2 Nun ist mit diesem »Empire« nicht etwa der Wunsch gemeint, Europa möge sich in seiner Verfassung an jenen mittelalterlichen Föderalstaaten orientieren, welche unter christlichen Vorzeichen eine größtmögliche innere Vielfalt mit einem effektiven Schutz der äußeren Grenzen verbanden, und wie sie auch heute noch von Denkern wie Jan Zielonka oder, in diesem Band, David Engels als Vorbild angesehen werden; vielmehr geht es wohl um ein moralisch expansives »Empire«, welches seine eigenen Wertvorstellungen unter dem Deckmantel »universaler Werte« überallhin verbreiten will.

Nun ist bekannt, daß jedes Imperium zwar immer schon eine moralische Mission verfolgt, aber gerade heute erleben wir eine nie dagewesene Moralisierung der Politik, nicht nur (wenn auch vor allem) in Deutschland, sondern auch in der EU. Typisch ist hierfür die traditionelle Donnerstagssitzung des EU-Parlaments in Straßburg: Einen halben Tag lang verbringen die Parlamentarier ihre Zeit damit, in langen Listen alle möglichen Verstöße gegen die Menschenrechte überall auf der Welt moralisch zu »verurteilen«, wobei zunehmend auch Mitteleuropa in den Fokus der Diskussionen gerät (die Situation in westeuropäischen Staaten wie Spanien oder Frankreich wird kurioserweise allerdings dezent ausgeblendet). Die Botschaft ist eindeutig: Das Parlament glaubt, durch seine »Erklärungen« und »Verurteilungen« die Welt zu einem besseren Ort zu machen (wenn sich auch nach einiger Zeit eine gewisse Ernüchterung einstellt, wenn man beobachtet, daß die Liste der Verstöße eigentlich von Sitzung zu Sitzung nur wenig Veränderungen aufweist), und die moralische Botschaft ist klar: Nur wenn die gesamte Welt von der EU, oder doch zumindest wie die EU, regiert wird, kann das »Böse« als ausgerottet gelten und das »Gute« triumphieren – ein wahrer Messianismus politisch korrekten Denkens, wie wir ihn ja auch in den Reden von Frans Timmermans wiederfinden, vor allem, wenn dieser über die Lage in Polen spricht.

Typisch in dieser Hinsicht ist ein kleines, aber bezeichnendes Detail: Auf meinen Reisen ins außereuropäische Ausland, vor allem in solche Staaten, die von der EU in der einen oder anderen Weise unterstützt werden, geschieht meistens, daß die Gastgeber unsere Delegationen mit einigen wohlgesetzten Worten begrüßen, in denen sie die EU für jene Werte loben, welche ihr, so nehmen sie an, am wichtigsten sind. Hierbei kommt ausnahmslos nicht nur der »Klimaschutz« zur Sprache, sondern auch immer die sogenannte »Homo-Ehe«. In diesem Zusammenhang kann man kaum anders, als eine gewisse Diskrepanz festzustellen: Denn der begrüßenswerte und eigentlich ungemein konservative Wunsch nach dem Schutz der Natur kontrastiert merklich mit jener Form des radikalen Konstruktivismus im gesellschaftlichen Bereich, wie ihn die EU vertritt, und welcher den doch scheinbar so schützenswerten Vorgaben der Natur offensichtlich stark widerspricht. Man fühlt sich unweigerlich an den berühmten Ausspruch von Massimo d‘Azeglio erinnert: »Abbiamo fatto l‘Italia ora dobbiamo fare gli Italiani« (»Italien haben wir geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen«), oder, anders gesagt: Wir haben Europa zu einem politisch korrekten Kontinent umgestaltet, nun müssen wir nur noch die dazugehörigen Bürger konstruieren.

Und in der Tat wird kaum ein offizielles Dokument der EU verabschiedet, welches nicht in der einen oder anderen Weise auf die Frage nach alternativen »Gender«- und Familienmodellen rekurriert und, wo die Entwicklung noch nicht »so weit ist«, auf die Umsetzung jener Ideologie abzielt, wie etwa an der Peripherie der modernen EU, wo einige rückständige Barbaren (wie die Bewohner meines Heimatlandes und ihre Regierung) an einem angeblich überwundenen gesellschaftlichen Modell festhalten und in der einen oder anderen Weise »zur raison gebracht werden« müssen – eine umso seltsamere Entwicklung, als es eigentlich die Christdemokraten sind, welche die stärkste politische Kraft des Europäischen Parlaments ausmachen.

5. Wer regiert die EU?

Es stellt sich in der öffentlichen Debatte verstärkt die Frage »cui bono«: Wer profitiert von jener ideologischen Revolutionierung der Europäischen Union, wer stellt die Kräfte, welche dieses System stützen und von ihm profitieren? Die Antwort ist einfach: Wir sind in der westlichen Welt mit nichts weniger als einem modernen Klassenkampf konfrontiert. Während wir auf der einen Seite jene Menschen haben, die in ihrer jeweiligen Heimat, ihrer Kultur, ihren Bräuchen und ihrer Identität verwurzelt sind und somit in der Kontinuität eines jahrhundertelang zurückgehenden Menschenbildes stehen, haben wir auf der anderen Seite eine neue, globale Elite, für welche jede Form von »Grenze« – sei sie national, kulturell, gesellschaftlich, religiös oder sexuell – ein Hindernis darstellt. Bereits Zygmund Bauman schrieb im Jahr 2000: »In the fluid stage of modernity, the settled majority is ruled by the nomadic and extraterritorial elite«, und es reicht, sich die Lebensläufe jener Bürokraten und Entscheider anzuschauen, welche heute für die EU, morgen für den IWF und übermorgen die UNO arbeiten und sich regelmäßig in Davos oder den Bilderberg-Versammlungen treffen, um zu verstehen, was mit dieser Feststellung gemeint war. Wenn Macron daher von den drei Ambitionen der EU spricht – »Freiheit, Schutz und Fortschritt«, so ist in erster Linie wohl die Freiheit, der Schutz und der Fortschritt jener kleinen Herrschaftselite gemeint, welche in der Tat angesichts der Spannungen mit den Vereinigten Staaten und der inneren Infragestellung dieses Modells durch die sogenannten »Populisten« zunehmend jenes Schutzes bedürftig sind, um weiterhin in Freiheit ihre Interessen zu verfolgen und ihre Macht zu vermehren.

Die Existenz jener soziologischen Klasse wird umso deutlicher, beobachtet man die politische Kultur der verschiedenen EU-Institutionen: Während das Parlament weitgehend »national« aufgebaut ist und trotz seiner unweigerlichen Internationalisierung doch engste Beziehungen zu den verschiedensten Heimatländern und Wahlkreisen seiner Mitglieder aufrechterhält, pflegt die Kommission eine ganz andere politische Kultur, welche mittlerweile kaum noch einen Bezug zu ihrem kulturellen Substrat hat (seien es Brüssel, die Heimatländer oder die abendländische Zivilisation) und nicht ohne Grund eng verbunden ist mit der meist multikulturellen Vita der meisten Mitarbeiter, welche oft genug binationale Elternteile haben und daher in der Identität als »EU-Bürger« eine Möglichkeit finden, sich mit ihrem jeweiligen kulturellen Erbe nicht allzu genau auseinandersetzen zu müssen. Dies färbt mittlerweile auch auf die Selbstdarstellung und Argumentationslogik vieler nationaler Politiker ab, welche – allen voran Deutschland – niemals erklären: »Wir als Deutsche wollen…«, sondern immer: »Wir als Europäer denken…« und somit dem Gegenüber implizit sein eigenes Europäertum streitig machen.

Hierbei wird der spezifische, durch Internationalismus, Multikulturalismus, Elitismus und Globalismus geprägte Lebensstil jener neuen Führungsschicht mittlerweile selbst in Staaten wie Ungarn und Polen auch von lokalen Eliten übernommen, die sich eine Gesellschaft nach ihrem Vorbild schaffen möchten – auch dies eine nicht erstaunliche Entwicklung, hat doch noch jedes Imperium sich bemüht, die lokalen Eliten an den dominanten Lebensstil heranzuführen und diesen auch in die Peripherie zu importieren; man denke hier nur an die in England ausgebildeten indischen Aristokraten, welche sich nach ihrer Rückkehr auf den Subkontinent in ihrer eigenen Heimat nicht mehr zurechtfanden.

Und wenn mir ein solcher Vergleich sonst natürlich fern liegt, kann ich nicht umhin, auch an die Herrschaftsstrukturen des damaligen Ostblocks zu denken, dessen Zentrum zwar in Moskau lag, aber eine Strahlkraft bis weit an die Peripherie besaß und die lokalen Eliten bis in die kleinsten Gemeinden prägte. In dieser Hinsicht ist es vielleicht nicht überflüssig, auf die gegenwärtige inner-ukrainische Debatte zu verweisen, in welcher es eigentlich nur darum geht, nach dem Fall der Sowjetunion, des »Sowjetski Sojus«, nunmehr Teil des neuen, des »Europejski Sojus« zu werden, eine Form der Domination also mit einer neuen, die als materiell erheblich vorteilhafter gesehen wird, zu tauschen – eine Debatte, die in vielen Zügen an die inner-polnischen Diskussionen der 1990er Jahre erinnert.