Loe raamatut: «Was ist schwule Kultur?»

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Was ist schwule Kultur?


David M. Halperin

Was ist schwule Kultur?

Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae

Männerschwarm Verlag

Berlin 2021

Originaltitel: What Is Gay Culture?

Erstveröffentlichung als Teil 6 des

Buches How to Be Gay,

Harvard University Press 2012

© 2012 beim Präsidenten und den

Fellows des Harvard College

© Männerschwarm Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH, Berlin 2021

Umschlaggestaltung: Robert Schulze

Druck: CPI, Leck

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-86300-329-6

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29 – 10969 Berlin

www.salzgeber-buchverlage.de

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Judy Garland versus Identitätskunst

Kultur versus Subkultur

Für immer queer

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wer über Kultur schreiben will, muss über eine Kultur schreiben.

Kultur existiert nicht abstrakt. Kultur existiert nur in bestimmten historischen und sozialen Formen.

In How to Be Gay bin ich angetreten, über schwule Kultur zu schreiben. Ich habe nicht versucht, sie als Ganzes zu thematisieren. Ich gab mich damit zufrieden, einige ihrer charakteristischen Aspekte herauszustellen. Mein Hauptanliegen bestand darin, die Unterschiede zwischen schwuler Kultur und der Kultur zu beschreiben, die sie umgibt, mit anderen Worten: der heterosexuellen Kultur (auch wenn diese Kultur es vorzieht, sich nicht als heterosexuell zu identifizieren). Selbst für dieses begrenzte Anliegen musste ich über eine schwule Kultur schreiben. Es wäre sinnlos gewesen, mit Verallgemeinerungen zu arbeiten, mit Klischees, mit Stereotypen. Ich habe keine Angst vor Klischees und Stereotypen; tatsächlich habe ich einige von ihnen sogar übernommen. Aber es ist wichtig offenzulegen, woher diese Stereotype stammen. Um das herauszufinden, muss man konkrete Phänomene betrachten, es kommt auf die Details an. Der einzige Weg, eine Kultur zu verstehen, besteht darin, einzelne ihrer Bestandteile sehr nah und ausführlich zu untersuchen: Texte, Bilder, Ausdrucksweisen, Praktiken. Dort sind aussagekräftige Zeugnisse zu finden, und nur ausgehend von solchen Zeugnissen ist es möglich, sich versuchsweise und spekulativ größeren Verallgemeinerungen zu nähern.

Da ich Amerikaner bin, in den USA aufgewachsen bin und dort unterrichtet habe, da ich auf Englisch schreibe, habe ich viele meiner Beispiele schwuler Kultur der schwulen amerikanischen Kultur entnommen. Nicht alle Beispiele, aber viele. Die Übersetzung meiner Arbeit in die deutsche Sprache bringt daher einige Schwierigkeiten mit sich.

Ein Großteil der 550-seitigen Originalausgabe ist der genauen Analyse einer einzigen Szene eines Hollywoodfilms gewidmet: des Films Mildred Pierce aus dem Jahr 1945, für den Joan Crawford mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Die schwule Rezeption dieses Films interessierte mich aus drei Gründen. Zum einen ist die Verehrung des schwulen Publikums für Joan Crawford und diesen Film im Besonderen umfangreich dokumentiert. Ich bin nicht der Einzige, dem das aufgefallen ist, und ich habe es mir nicht ausgedacht. Zweitens ist der Film recht alt und die Verehrung der Schwulen zwar noch nicht obsolet, jedoch ein Phänomen vergangener Zeiten. Aus Gründen der Objektivität hat es gewisse Vorteile für einen Forscher, das Werk einer fremden und nicht der eigenen Kultur zu untersuchen. (Ich sollte das wissen: Der Großteil meiner Studien bezog sich auf das antike Griechenland.) Indem ich über diese Diven-Verehrung schrieb, habe ich nicht über meine eigene schwule Kultur geschrieben (ich bin sehr alt, aber noch nicht so alt); ebenso wenig habe ich meine persönlichen Gefühle für Joan Crawford auf andere schwule Männer projiziert – im Gegenteil, ich habe herauszufinden versucht, ob ich, der einer späteren Generation angehört, meine eigenen Wahrnehmungsweisen so kalibrieren konnte, um jene queeren Frequenzen zu empfangen, auf denen dieser Film anscheinend die Schwulen einer früheren Zeit erreicht hat. Drittens bestand meine Methode, die Besonderheit der schwulen Kultur herauszuarbeiten, darin, mir anzuschauen, wie schwule Männer auf bestimmte Werke der heterosexuellen Mainstreamkultur reagierten – also nicht die Werke einer schwulen Kultur zu analysieren, die von schwulen Männern explizit zu schwulen Themen geschaffen wurden, sondern nach Formen schwuler Aneignung und Wiederverwendungen von Werken der heterosexuellen Kultur zu suchen, mir anzuschauen, wie sich die Reaktion schwuler Männer auf diese Werke von der des heterosexuellen Publikums unterschied. Ich glaubte, wenn es mir gelang, diese Unterscheide genau zu identifizieren, mit einiger Präzision die Besonderheiten der schwulen Kultur benennen zu können. Dementsprechend versuchte ich zu zeigen, wie schwule Männer die kulturellen Codes, die diesen heterosexuellen Werken bereits anhafteten, aufhoben und sie für schwule Zwecke neu codierten. Und dann versuchte ich zu erklären, weshalb schwule Männer so etwas tun.

Für das deutsche Publikum dieses Buches besteht das Problem, dass Mildred Pierce in Deutschland weder sehr bekannt noch leicht zugänglich ist, und dasselbe gilt für viele andere Kunstwerke, die ich in meinem Buch diskutiere, wie zum Beispiel Broadway Musicals oder Popsongs. (Marlene Dietrich wird nur beiläufig erwähnt.) Einige der Schlüsselbegriffe und Kategorien sind nicht in der deutschen Kultur beheimatet, wie zum Beispiel Camp, trade oder queer (in der doppelten Bedeutung von schwul und abnorm oder abweichend). Französische und spanische Übersetzungen haben versucht, mit diesen Problemen so gut wie möglich fertigzuwerden: für eine detaillierte Beschreibung dieser Übertragungsprobleme verweise ich auf das Vorwort zur französischen Ausgabe, L’art d’être gai, übersetzt von Marie Ymonet (Paris 2015:11-26). Bei der italienischen Ausgabe handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Für die deutsche Ausgabe wurde entschieden, nur die abschließende Zusammenfassung zu veröffentlichen, die eine eigenständige, in sich abgeschlossene Argumentation darstellt, jedoch auf der ausführlichen vorangegangenen Analyse aufbaut. Leser*innen, die tiefer in die Details eindringen wollen, bleiben auf das englischsprachige Original verwiesen.

Was hat Sexualität mit Kultur zu tun? Das ist die grundlegende Frage, der ich nachgehen wollte. Wie sind die kulturellen Vorlieben schwuler Männer zu erklären? Und warum mögen schwule Männer bestimmte kulturelle Formen, Objekte oder Ikonen, die heterosexuelle Menschen nicht annähernd so sehr oder auf dieselbe Weise mögen? Diese Frage bezieht sich nicht allein auf die Vergangenheit. Es ist noch immer wichtig zu fragen, warum Schwule auch jetzt, heutzutage, einige spezifische Verhaltensmuster im Umgang mit Kultur zeigen, die nicht identisch mit denen der Heterosexuellen sind.

Ich stelle diese Fragen nicht, weil ich der zeitgenössischen, explizit mit schwulen Themen befassten Kultur feindlich gegenüberstünde, einer Kultur, die von Schwulen handelt oder Erfahrungen des schwulen Lebens direkt anspricht.

Das Gegenteil ist der Fall: Ich bin ein großer Fan zeitgenössischen schwulen Schreibens. Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, Romane oder Filme über schwule Männer und schwules Leben lesen bzw. anschauen zu können. Doch ich merkte, wie schwer es war, die künstlerischen Errungenschaften der gegenwärtigen schwulen Kultur meinen zwanzigjährigen Student*innen zu vermitteln. Diese Student*innen, von denen viele schwul waren, waren nicht uninteressiert an zeitgenössischen Romanen, Gedichten, Theaterstücken und Filmen von und über schwule Männer, aber ihnen lag weit mehr an nicht-schwulen kulturellen Formen, die dennoch für sie eine schwule Bedeutung hatten: zum Beispiel Fernsehserien über verrückte Frauen und deren zickigen Umgang mit ihren männlichen Liebhabern. Ich wollte verstehen, wie sich die Tatsache erklären ließ, dass die Entstehung einer lebendigen, unverblümten, expliziten, unzensierten und kompromisslosen schwulen Kultur den Reiz, den nicht-schwule Werke auf schwule Männer ausüben, nicht zerstören konnte. Und ich wollte wissen, was eine Erklärung dieses Sachverhalts zum Verständnis des schwulen Lebens und der schwulen Identität heutzutage beizutragen hat.

In dem gekürzten Buch, das Sie lesen werden, argumentiere ich, dass die Zunahme schwuler Rechte nicht gleichbedeutend ist mit dem Ende der heterosexuellen Kultur. Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass die Formen schwuler Kultur, die ich beschreibe, in absehbarer Zeit verschwinden werden. Unter der Voraussetzung des Fortbestands einer dominierenden heterosexuellen Kultur (nicht notwendigerweise einer dominierenden heterosexuellen Sexualität, sondern von Heterosexualität als Kultur) ist der Fortbestand der schwulen Kultur meiner Ansicht nach eine gute Sache. Aber ich kann verstehen, dass dieser Fortbestand für diejenigen ein Ärgernis ist, die glauben, dass wir an der Schwelle zur totalen Integration schwuler Menschen in die heterosexuelle Gesellschaft stehen, denn der Fortbestand der schwulen Kultur ist ein Zeichen dafür, dass Sexualität für die soziale Konstitution moderner Subjektivität noch immer eine große Rolle spielt. Und dafür, dass Schwule nicht verschwinden werden.

Zugleich glaube ich nicht, dass es eine, und nur eine schwule Kultur gibt, dass alle schwulen Männer ihr angehören oder folgen sollten, und dass es nur eine einzige Art gibt, ein schwules Leben zu führen. Ich glaube, dass die Ehe eine heterosexuelle Lebensform ist, die sich mit schwulen Lebensweisen nicht vereinbaren lässt, und ich kann mir nicht vorstellen, selbst zu heiraten. Aber ich erwarte nicht, dass alle so leben wie ich: Ich versuche nicht dafür einzutreten, dass Schwule nicht heiraten sollten, und kritisiere keine Schwulen, die heiraten möchten. Aber ich habe auch die Nase voll davon, dass andere Schwule mir sagen, dass ich heiraten sollte und dass es mir besser ginge, wenn ich so lebte wie sie.

Woran dieses Buch Kritik übt, ist nicht die Homo-Ehe, sondern das Eintreten für eine Ethik der Ehe als – in beliebiger Reihenfolge – (1) der richtigen Art zu leben; (2) Form von Tugendhaftigkeit; (3) Grund, sich Unverheirateten überlegen zu fühlen; (4) Symbol schwuler Normalität; (5) Zeichen dafür, dass Schwule genauso sind wie Heterosexuelle; (6) Beweis für soziale Assimilation und Integration von Schwulen; (7) den Beweis, dass Schwule keine eigene Kultur besitzen; (8) eine Proklamation von Monogamie; (9) Mittel, andere Formen des Eintretens für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit und gegen Diskriminierung, Homophobie etc. zurückzuweisen oder gering zu achten. Kurzum, ich bin gegen die Homo-Ehe als Beweis dafür, dass die schwule Kultur tot ist, veraltet, sinnlos, rückwärtsgewandt und politisch verwerflich. Ich bin gegen die Homo-Ehe als symbolischen Weg, den Tod der schwulen Kultur zum Ausdruck zu bringen oder gar als Versuch, diesen Tod herbeizuführen.

Schwule Kultur, so wie ich sie zu verstehen gelernt habe, ist die instinktive Antwort und der radikale Widerstand gegen Formen sozialer Ungleichheit, die die meisten von uns lieber ignorieren. Unsere Gesellschaft ist natürlich nach Hierarchien der Klassenzugehörigkeit organisiert, verstärkt durch Hierarchien der Geschmacksurteile. Schwule Kultur versucht, einige dieser Hierarchien zu unterlaufen. Doch diese Hierarchien sind nicht das einzige Organisationsprinzip; daneben gelten mächtige, implizite, weitgehend unausgesprochene, aber dennoch sehr effektive Hierarchien sozialer und ästhetischer Werte: Abstufungen von Ernsthaftigkeit und Unernsthaftigkeit, Authentizität und Unauthentizität, Natürlichkeit und Unnatürlichkeit, Wesen und Erscheinung. Diese Hierarchien entsprechen wiederum Hierarchien von Geschlecht, Männlichkeit und Weiblichkeit.

Die meisten fortschrittlichen Gesellschaften weisen explizit jede automatische Verknüpfung von Männlichkeit mit Ernsthaftigkeit oder Weiblichkeit mit Leichtfertigkeit zurück. Wenn man sie fragt, ob sie Männer für ernsthafter halten als Frauen, werden die meisten Menschen Nein sagen, zumindest in den Teilen der Gesellschaft, die sich selbst für aufgeklärt (d.h. ernsthaft) halten. Aber auch wenn diese Hierarchien von Rang und Geschlecht lächerlich wirken, wenn man sie als Behauptung oder Idee formuliert, sind sie dennoch mächtig, wenn sie ihre Wirkung im Verhalten, in unreflektierten Einstellungen, unartikulierten Annahmen und unausgesprochenen Gefühlen entfalten. Hier geraten sie oft gar nicht ins Bewusstsein, weshalb viele von uns glauben, wir hätten sie abgelegt oder überwunden.

Bei meinem Studium der schwulen Kultur habe ich herausgefunden, dass ein Großteil davon als Strategie der Konfrontation, des Widerstands oder Ausweichens gegenüber Formen sozialer Hierarchien verstanden werden kann, die die meisten von uns ignorieren, denen wir nicht ins Gesicht sehen, die wir für verschwunden halten oder deren Macht wir nicht länger ernstnehmen. Das Ergebnis meiner Analyse war deshalb ein stärkeres Bewusstsein der Art und Weise, wie Rang und Hierarchie weiterhin ein großes Feld sozialer und ästhetischer Werte strukturieren, die wiederum Hierarchien von Geschlecht und Sexualität stärken und wiederbeleben, von denen viele von uns glauben, dass sie im Niedergang befindlich seien.

Meine Überlegungen zeigen im Gegenteil, dass Fragen von Männlichkeit und Weiblichkeit, besonders Weiblichkeit, weiterhin die soziale Welt strukturieren und eine große Menge kultureller Werte beeinflussen. Schwule Kultur hat sich als erhellendes Forschungsgebiet erwiesen, weil ihre Gestalt und ihr Ausdrucksgehalt zeigen, wie umfassend und tiefgreifend Geschlecht und Bedeutungen von Geschlecht das Feld der Kultur durchdringen und jedes seiner Elemente prägen, praktisch jedes soziale und ästhetische Urteil beeinflussen. In diesem Kontext ist schwule Kultur sehr aufschlussreich: Sie repräsentiert eine sehr scharfe, präzise, intuitive und letztendlich politische Antwort auf Formen der Ungleichheit, von denen wir voreilig angenommen haben, sie seien aus unserer sozialen Welt verschwunden.

Allein aus diesem Grund, wenn schon aus keinem anderen, verdient es die schwule Kultur, dass wir sie in Ehren halten. Sie hat uns viel zu bieten – uns allen.

Judy Garland versus Identitätskunst1

Im Juni 2008 veröffentlichte Time Out New York (TONY) im Vorfeld der New Yorker Gay Pride Parade einen Themenschwerpunkt zu der Frage «Was ist schwule Kultur?»2 Die Mitarbeiter des Magazins gaben zu, von der Frage überfordert zu sein, und um ihre Unfähigkeit zu kompensieren, sich der selbstgestellten Herausforderung gewachsen zu zeigen, inszenierten sie ein klassisches Verteidigungsmanöver, das Demut mit Trotz verbindet: «Uns ist bewusst, dass wir nicht alle Antworten kennen», gaben sie zu, «aber wir wissen, dass es im Grunde die Fragen sind, auf die es ankommt» (S. 16). Auch wenn ich einige unfreundliche Bemerkungen über dieses Projekt machen werde, verstehe ich ihr Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit nur zu gut, und auch die Peinlichkeit, die Erwartungen nicht erfüllen zu können, die sie mit großem Aufwand geweckt hatten. Im Unterschied zu ihnen kann ich mir jedoch nicht erlauben, eine patzige Haltung einzunehmen.

Es ist furchtbar, eine Idee zu haben, die größer ist als man selbst. Schon viele Male habe ich bedauert, je damit begonnen zu haben, den Zusammenhang von männlicher Homosexualität und Erscheinungsformen der Kultur verstehen oder die Logik erklären zu wollen, aus der heraus bestimmte Werke der Mainstream-Kultur so große Bedeutung für die Kultur der männlichen Homosexuellen erlangen. Ich bin kein Experte für Popkultur und verfüge über keine professionelle Stilkenntnis, deshalb fehlten mir wichtige Voraussetzungen für dieses Projekt. Ich habe daran festgehalten, obwohl ich wusste, dass ich nie in der Lage sein würde, alle Fragen zu beantworten, oder auch nur einen nennenswerten Teil davon, und zwar genau aus dem Grund, dass die Fragen wichtiger sind als jede Antwort, die ich hervorbringen konnte. Aber dennoch war ich entschlossen, wenigstens einige Antworten zu finden.

Seit ich mich mit diesen so schwer zu beantwortenden Fragen beschäftigte, die ich mir selbst gestellt hatte, wuchs meine Bewunderung für jene Autoren, die vor mir zu diesem Thema gearbeitet und bedeutende Antworten gefunden hatten, überzeugende Interpretationen von männlicher Homosexualität als kultureller Praxis. Meine eigenen Bemühungen sollen die ihren ergänzen, aber nicht ersetzen. Viele Denker und Forscher früherer Zeiten, von Jean-Paul Sartre bis Susan Sontag, von Esther Newton bis Neil Bartlett, von D. A. Miller bis Richard Dyer, haben über diese Themen nachgedacht, und ich habe versucht, Nutzen aus ihren Erkenntnissen zu ziehen und diesen Erkenntnissen Anerkennung zu zollen. Doch ich habe nicht versucht, ihre Ideen zusammenzufassen, miteinander zu verbinden, sie zu systematisieren oder zu einer Art summa aufzuaddieren.

Als ich mich auf dieses Abenteuer einließ, ging mein Ehrgeiz noch weiter. Ich wollte die schwule Kultur insgesamt erklären und hatte vor, alles in eine einzige, umfassende Theorie zu integrieren. Doch schließlich wurde mir klar, dass selbst, wenn es mir gelingen sollte, alle Aspekte zu erfassen, meine Methoden zu erläutern und zu rechtfertigen, alle möglichen Einwände gegen mein Projekt vorherzusehen und zu entkräften und eine einzige, zusammenhängende, kumulative Argumentation aufzubauen, sich niemand auf ein derart elaboriertes, schwergewichtiges Unternehmen einlassen und die umfangreiche Studie, die dabei herauskäme, bis zum Ende durchlesen würde.

Also änderte ich meine Vorgehensweise, warf gedanklich und sprachlich einigen Ballast ab, veröffentlichte bestimmte Teile der Argumentation separat3 und verzichtete auf einige Einfälle, die ich in der verhältnismäßig begrenzten Analyse nicht erhärten konnte, die ich anstelle des ursprünglichen Projekts in Angriff nahm – auch wenn ich versucht habe, hier und da durch Vorschläge und Andeutungen auf diese Ideen zurückzukommen, und auch wenn ich damit en passant Behauptungen aufstellte, von denen ich wusste, dass ich sie nicht verteidigen konnte.

In diesem Zusammenhang gewinnt der Themenschwerpunkt in Time Out New York besonderes Interesse, nicht nur, weil er die eigene Unfähigkeit, dem selbstgewählten Thema gerecht zu werden, frei heraus eingesteht, sondern weil in ihm so deutlich und symptomatisch die umfassende Verwirrung darüber zum Ausdruck kommt, was «schwule Kultur» möglicherweise bedeuten, worauf sie sich beziehen oder woraus sie bestehen könnte. Tatsächlich gibt die «Lesbischwule Redakteurin» von TONY, Beth Greenfield, selbst zu, dass schwule Kultur «ein Konzept darstellt, das sich nur schwer eindeutig definieren lässt» (obwohl es «sicherlich aufregend ist, darüber nachzudenken»). Die Beispiele schwuler Kultur, die sie anführt, verraten dementsprechend ein gewisses Hin und Her zwischen verschiedenen Konzepten oder Definitionen.

Als sich die queeren Mitarbeiter von Time Out New York zusammensetzten und darüber berieten, was in einen Themenschwerpunkt über «schwule Kultur» hineingehört, erkannten wir schnell, dass das keine leichte Aufgabe sein würde. Wollten wir ihn in einem klassischen, universellen Sinn angehen, wie er in einer Vorliebe für Judy Garland, tuntigen Drag-Shows und Träume in den erwachenden Morgen zum Ausdruck kommt? Wollten wir über neue queere Independent-Filme reden, und warum sie oft mit kleinem Budget gedreht werden und wenig beeindruckend sind? Oder über die heißesten, frischesten Talente der Szene und wie es ihnen gelingt, die Medien aufzumischen, von Musik über die großen Theaterhäuser bis zur Underground-Literatur und Trans*-Performances? (S. 16)

Hier werden viele Dinge in wenigen Zeilen zusammengepresst, deshalb ist es kein Wunder, wenn es zu einigen sonderbaren Vermischungen kommt. Zum Beispiel wird nicht klar, inwiefern Judy Garland ein Beispiel für schwule Kultur in demselben «universellen Sinn» wie Drag-Shows abgibt. Drag ist ein internationales queeres Phänomen, das tatsächlich fast überall anzutreffen ist, wogegen die Wirkung, die Judy Garland auf schwule Männer ausübt, tendenziell auf die englischsprachige Welt begrenzt ist, genauer gesagt auf einige streng umrissene Bereiche davon.

Ganz ähnlich liegt der Fall bei Träume in den erwachenden Morgen, Leslie Feinbergs kraftvollem Transgender-Roman aus der Arbeiterklasse, der 1993 veröffentlicht wurde, fast 25 Jahre nach den Stonewall-Unruhen; es ist schwer zu verstehen, dass er auf dieselbe Art als «klassisch» gelten soll wie Judy Garland. Das Problem liegt nicht in der Bedeutung oder den Verdiensten der beiden Künstler*innen. Feinbergs Roman ist ein Klassiker, und er ist von großer Bedeutung für Leser*innen auf aller Welt. Aber er ist zum Teil deshalb ein Klassiker, weil er so klar und explizit die Erfahrung queerer Identität artikuliert, die vorher nur selten in so klarer, bewegender Sprache beschrieben wurde. (Vielleicht wollte Beth Greenfield auch nur den klassischen cri de cœur des lesbischen/transgender Elends, Radclyffe Halls Roman Der Quell der Einsamkeit aus dem Jahr 1928, durch eine politisch weniger anstößige, zeitgemäßere Version ersetzen.) Judy Garland wurde dagegen in den Jahren vor Stonewall eine schwule Kultfigur, weil sie, weit davon entfernt, neue Worte zur Beschreibung des queeren Lebensgefühls zu finden, den unaussprechlichen Sehnsüchten schwuler Männer Ausdruck verlieh, ohne sie je beim Namen zu nennen. Dadurch fungierte sie als wirkungsvolles Instrument schwuler Identifikation. Sie war eine Gestalt, mit der schwule Männer sich identifizieren konnten, und keine Verfechterin der queeren Identität wie Leslie Feinberg.

***

Für John Clum, der in den 1950ern aufwuchs, herrschten in Sachen schwuler Kultur noch klare Verhältnisse. Er schreibt: «Für viele von uns existierte so etwas wie ‹schwule Kultur›, die Tuntigkeit als Form der Auseinandersetzung und Musicals als Gegenstände der Verehrung verstand.»4 Aber das ist lange her. Die queeren Mitarbeiter von TONY weisen darauf hin, dass ein großer Teil der Unklarheit darüber, was schwule Kultur heutzutage ausmacht, auf etwas basiert, das sie «die allgegenwärtige Kluft zwischen den Generationen» nennen, die «in unserer Community besonders breit zu sein scheint.» Ihrer Auffassung nach trennt diese Kluft «Leute über dreißig» – die man mit einiger Wahrscheinlichkeit «bei einer Aufführung des neuesten Theaterstücks von Paul Rudnick oder am Abend in einer belebten Piano-Bar» antreffen wird – von «Queers in den Zwanzigern und jünger, die ein geringeres Bedürfnis haben, einer anderen Community anzugehören als der Gesamtgesellschaft. Sie hatten ihr Coming-out schließlich schon vor ihrem zwanzigsten Geburtstag und haben das Gefühl, mehr oder weniger akzeptiert zu werden, wohin sie auch gehen.» (S. 16)

Es ist immer schwer zu sagen, ob Behauptungen wie diese, an die wir uns längst gewöhnt haben – dass die schwule Kultur sich überlebt hat und der Vergangenheit angehört, dass sie für die jüngere Generation ohne Bedeutung ist in einer Welt, in der Lesben und Schwule heiraten und (zumindest in Island) zum Staatsoberhaupt gewählt werden können – ob solche Behauptungen also auf Tatsachen beruhen oder lediglich verblüffte Reaktionen auf unverhofft gute Nachrichten sind, ob sie eine Sehnsucht zum Ausdruck bringen oder den Wunsch, die schwule Kultur solle endlich verschwinden. Immerhin haben wir viele ähnliche Behauptungen zu hören bekommen. Man sagt uns, junge Schwule fügten sich leicht in die Jugendkultur ein; sie wollten sich kein Etikett aufkleben lassen, verspürten kein Bedürfnis nach einer separaten, abgesonderten Sphäre und identifizierten sich nicht mit der schwulen Kultur.5

Und das ist gut so, sollte ich hinzufügen, denn die sozialen Kosten, die man zahlen muss, wenn man seine Unterschiede zu den ‹normalen› Menschen hervorkehrt, sind enorm – wenn einem nichts anderes übrigbleibt, als sich in die heterosexuelle Gesellschaft zu integrieren, weil nennenswerte schwule Alternativen zur Heterowelt nicht mehr existieren, seitdem die städtischen Infrastrukturen des schwulen Lebens zerstört wurden. Und wenn man von seinen Hetero-Freunden als einer von ihnen akzeptiert werden möchte, obwohl man queer ist, dann ist es weise zu leugnen, dass man sich wünscht, «einer anderen Community anzugehören als der Gesamtgesellschaft.» Was lässt sich aus einer solchen Verleugnung schließlich anderes herauslesen, als dass die heterosexuelle Gesellschaft queeren Jugendlichen gegenüber weit weniger gastfreundlich auftritt, als man uns glauben machen möchte, besonders gegenüber solchen queeren Jugendlichen, die ihre Unterschiede zu heterosexuellen Jugendlichen betonen?

Hören wir den Zeugen John Clum, um nur das nächstliegende Beispiel aufzugreifen. Clum berichtete Ende der 1990er, dass «schwule Fraternity-Jungs» aus einem schwullesbischen E-Mail-Verteiler an der Duke University «sagten, es sei kein Problem, in einer Fraternity offen schwul aufzutreten, solange man nicht gegen die Regeln des geschlechtstypischen Verhaltens verstieß. Keine Weicheier und keine Tunten, bitte.»6 Als scharfe Reaktion auf diesen Trend veröffentlichte der schwule Rechtswissenschaftler Kenji Yoshino eine wortgewandte Kritik daran, sich «bedeckt» zu halten, wie er die Haltung stigmatisierter Gruppen bezeichnet, die sich in Übereinstimmung mit ihrer Verschiedenheit befinden, aber die Bedeutung und Sichtbarkeit dieser Verschiedenheit herunterspielen, um von der Gesamtgesellschaft akzeptiert zu werden. Schwule müssen sich heute nicht mehr verstecken, aber sie bringen es nur dann zu etwas in dieser Welt, wenn sie darauf achten, ihre vom Standard abweichenden Identitäten den ‹Normalen› nicht zu aufdringlich und lebhaft zu Bewusstsein zu bringen. Yoshino will unsere Aufmerksamkeit für «die dunkle Seite der Anpassung» wecken. Er argumentiert, dass Frauen und Minderheiten, die ihre Unterschiede defensiv herunterspielen, damit der Forderung nachgeben, sich «bedeckt zu halten», einer Forderung, die lediglich die bestehenden Realitäten von Rassismus, Sexismus und Homophobie widerspiegelt. «Die Forderung, sich bedeckt zu halten (covering) ist ein heimlicher Angriff auf unsere Bürgerrechte», sagt er.7

Manchmal bleiben solche Angriffe nicht heimlich. Es ist in Ordnung, sich darüber zu freuen, dass «Queers um die zwanzig und jünger […] spüren, dass sie mehr oder weniger akzeptiert werden, wohin sie auch gehen», zumindest in New York, und ich will diese gute Nachricht ganz bestimmt nicht schlechtreden. Aber ich würde sie lieber nicht dem brillanten afro-amerikanischen Performance-Künstler Kevin Aviance erzählen, auch wenn er nicht mehr zwanzig war, als ihn 2006 vor einer Schwulenkneipe im East Village ein halbes Dutzend Kerle angegriffen haben, die dabei antischwule Beleidigungen riefen, und ihm den Kiefer gebrochen haben.

Tasuta katkend on lõppenud.