Die Ökonomie der Hexerei

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Die Ökonomie der Hexerei
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

David Signer

Die Ökonomie der Hexerei

oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

EDITION TRICKSTER IM PETER HAMMER VERLAG

Inhalt

EINLEITUNG

Worum es geht

Seltsame Zugänge

Was steckt dahinter? Die Frage der Hexerei

EXPEDITIONEN MIT ZAUBERERN

Eine erste, persönliche Annäherung

Die Geisterpriesterin

Der Féticheur

Verwirrung als Erkenntnismittel

Übertretungen des Bischofs – Stärke

Übertretungen des Agronomiestudenten – Sex

Übertretungen des Schweizers – Sparen

Übertretungen des Ego – Distanz

In Coulibalys WeltDer Féticheur aus Mali

Der Mann, der mit bloßen Worten ein Huhn töten konnte

Coulibaly sagt wahr

Potenz und Grenzen

Eine Zeichnung, die dich reich macht

Im Netz. Die Textur des Analphabeten

Immer wieder: Kauris, Geister, Opfer und Gris-Gris

Das Geheimnis des Fetischs

Bei der Polizei und am Wasser

Die Reise nach Tiengolo

In den Dörfern Bélédougous: Zwillinge, Schlangen und der blinde Peul

Größenwahn und Liebe

In den Brei schreiben

Träume in Mopti

Warum muss man bis zu den Dogon reisen, um zu erfahren, wie viele Kinder man hat?

Rückkehr an die blaue Lagune

Rechnungen begleichen

Baba, die Familie und das WortDie Griots aus Burkina Faso

Jäger, Schmiede und Griots

Als ob die Zeit stehen bliebe

Die Reise nach Koumbara (Baba, Bobo, Bwaba, Bubu)

Auf dem Dorf: Begrüßung, Schenkung, Segnung (oder Verhexung)

Ist der Vater immer noch nicht zufrieden?

Big Brother is watching you

Clémentines GeisterTrance und Besessenheit in Abidjan

Ein aufmüpfiger Fahrer und eine rachsüchtige Schlange

Vielschichtiger Lebenslauf

Eine Beziehung etablieren

Die Stimme der Geister

Abermals: Wie sie Féticheuse wurde

Liebesübersetzer, Bluttrommel, Gris-Gris-Kraft

Eine afrikanische Kassandra

Eine Waschung mit Rum und Hölzern

Das Opfer: Hühnerblut, Rum, Kaolin und Hirse

Die jährliche Opferzeremonie für die Geister

Die Geister um Erlaubnis für Filmaufnahmen fragen

Die Heilzeremonie in Bonoua

Die Lackmusprobe der Trance

Die Ankündigung einer zweiten Initiation

Eine geisterhafte Besucherin von weit her

Die neu geweihte Féticheuse zeigt sich

Die jährliche Opferzeremonie auf dem Dorf

Wahn-, Warn- und WahrträumeVorahnungen und Wunder in Guinea und Senegal

Kribi und verkohltes Küken gegen Aids

Ein neuer Fetisch

Ein erster Eindruck von Guinea

Falsche Frauen und zwei weise Marabouts

Die Malinké-Wahrsager: Tote Frau, erfreulicher Brief

Wenn die Féticheure ihr Netz auswerfen

Die Vorahnung des ausgehobenen Loches

Hatte Coulibaly von Siguiri und dem Alten auch bloß geträumt?

Sand in die Augen gestreut

Ein Fetisch, der (nicht) spricht

Wasser und Feuer

Coulibaly auf der Fährte eines unheimlichen Großvaters

Der Elefantenfetisch gibt etwas von sich

Geht der Tod der Großmutter auch auf das Konto des Großvaters?

Aufstieg auf unbestimmte Zeit verschoben

Die Traumungeheuer sind in Wirklichkeit die Hexer

Der Tod des Onkels

Magischer Geleitschutz

Regen rufen und Kopf abbeißen

Odysseus, Eulenspiegel und Baron von Münchhausen in Afrika

Die Rivalen pulverisiert

„Es soll dir nicht besser ergehen als mir“

Ist Geld etwas Reales? (Die Geldverdoppler-Marabouts)

Geld als (uneinnehmbares) Luftschloss

Das Dosenwunder von Ferkessédougou

Initiation in die Kunst des Heilens und Krankmachens

 

Ich soll lernen, Hexen und die Zukunft zu sehen

Eine Vorahnung von Bösem

Die Welt der Kauris

Der Heiler und das Unheil

Eine Konsultation in Abwesenheit des Betroffenen

Lesen im Sand

Ein Versuch, die Welt zu ordnen

Das zufällige Reale strukturieren

Wie die Zeichen heilen

Coulibaly und Prof. Gueye im Vergleich

Tropischer Hyperhumanismus

Die persönliche Parksäule

Des Menschen Hörigkeit

Nanette oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt

Die hinterhältige Stiefmutter

Humanismus als Humus für Hexerei

Steckt hinter dem Herzinfarkt die neidische Tante?

Hänsel und Gretel bei den Mauren

Das Rätsel des Sechsten Sinns

„SIE LASSEN DICH NICHT WACHSEN“

Die Ökonomie der Hexerei

Der tödliche Neid

Die Hölle, das sind die andern – aber ohne sie wäre man nichts

Den Bruder oder gar den Vater überholen

Die Entwertung der greifbaren Realität

Hexerei versus Entwicklung („Arbeiten bringt nichts“)

Der afrikanische Autoritarismus

Der freigebige Chef

Magischer Schutz vor Hexerei

Opfer und Gewalt

Allgegenwart der Opferlogik

Neid, Sündenbock, Opfer

Die unsichtbare Gewalt

Die Hexerei als Teil der Kultur

Die Unantastbarkeit des Gegebenen

Bitte – Drohung – Hexerei (Eingeforderte Gaben)

Kredit und Schulden

Korruption und Nepotismus

Vermeidung von offenen Konflikten

Selbstlosigkeit

Liebe und Sexualität

Geiz ist schlimmer als Verschwendung

Eine zirkuläre und hierarchische Zeitauffassung

Die Hexerei als Fluchtpunkt

Literatur

Einleitung

Die afrikanischen Heiler waren für mich geradezu der Inbegriff des Geheimnisvollen und Fremden, und damit dürfte ich in unserer Kultur kaum alleine dastehen.

Schon als Kind faszinierten mich Geschichten über Zauberer, Medizinmänner, Schamanen, Geisterbeschwörer und Wundertätige. Als Jugendlicher sah ich „Der Exorzist“, mit der Passage, wo nach all den fehl geschlagenen Versuchen, das besessene Mädchen zu beruhigen, ein Priester geholt wird, von dem man munkelt, er hätte viele Jahre im Busch verbracht, wo er von den Afrikanern in ihre geheimen Riten eingeweiht worden sei. Später hielt ich mich ein Jahr in Ostafrika auf, kam jedoch nie wirklich in die Nähe eines nganga oder witchdoctor, wie sie dort genannt werden.

Als ich 1994 dann zum ersten Mal in der Elfenbeinküste zu einer Féticheuse gebracht wurde, ging für mich damit ein langer Traum in Erfüllung, und erst recht, als ich später Coulibaly, einen Heiler aus Mali, auch persönlich kennen lernte. Endlich konnte ich in diesen so lange verschlossenen Raum eintreten und mich in dieses Andere versenken. Während dreier Jahre hatte ich Gelegenheit, mich mit der Gedankenwelt, dem Leben, den Methoden und der Umgebung der Heiler und Heilerinnen in Westafrika vertraut zu machen. Und obwohl mir diese Welt heute in gewisser Weise vertrauter ist als beispielsweise die Schweizer Bankenwelt (die Struktur des Sandorakels ist mir klarer als jene der Börse), ist sie in anderer Hinsicht auch immer rätselhafter geworden.

Denn im Prinzip hat ein afrikanischer Heiler denkbar wenig mit einem Arzt in unserem Sinne zu tun. Wenn man sich bloß auf die traditionellen Pflanzenmedizinen konzentriert, die verschrieben werden, dann hat man von der Welt, die den Patienten und den Heiler verbindet, wenig wahrgenommen und verstanden. (Und deshalb spreche ich im Folgenden auch nicht vom Heiler, sondern vom Féticheur, um diese Andersheit sogleich zu signalisieren.) Für uns ist ein Arzt ja eine Art Feinmechaniker, der den Körper gewissermaßen als eine weiche Maschine auffasst, die irgendwo eine Störung aufweist, die aufgefunden und repariert werden muss. Sucht in Afrika jemand aufgrund von Problemen einen Spezialisten auf, so wird dieser (abgesehen von den bloßen Herbristen) die Konsultation nicht etwa durch eine Befragung und Untersuchung des Patienten beginnen, sondern im Allgemeinen gleich zum Orakel übergehen, auf dessen Offenbarungen er dann sowohl die Diagnose wie die Therapie stützen wird. Das kann in Form von Kaurischnecken geschehen, die geworfen werden, wobei ihre Konstellation interpretiert wird. Vielleicht zeichnet der Féticheur auch Muster in den Sand, die dann verbunden und „gelesen“ werden. Handelt es sich um einen islamischen Marabout, kennt er vielleicht Techniken, die Steinchen seiner Gebetskette abzuzählen, um die resultierenden Zahlen sodann in Aussagen zu übersetzen. Oder handelt es sich um eine Geisterpriesterin, wird sie von diesen besessen und gibt dann in Trance deren Aussagen wieder. Aber immer handelt es sich um Methoden der Wahrheitsfindung, die wir kaum als rational, empirisch oder überprüfbar betrachten.

Meist weist die afrikanische Diagnose jedoch auf Ursachen hin, die unseren Tests und Instrumenten entgehen würden. Ursachen, die aus der „anderen Welt“ kommen, jener der Hexerei und der Geister. Auch die Behandlung ist entsprechend vor allem auf jene ausgerichtet. Natürlich spielen Medikamente eine Rolle; aber auch diesen wird erst Wirksamkeit zugeschrieben in Verbindung mit einer vorgängigen rituell-magischen Behandlung (die Pflanzen müssen zum Beispiel „besprochen“ werden). Wichtiger sind die verschriebenen Opfer (in Mali zum Beispiel oft ein bestimmtes Huhn und eine bestimmte Anzahl bestimmter Kolanüsse) sowie die Maßnahmen zur künftigen Abwehr des Bösen (zum Beispiel die gris-gris, in Leder eingenähte Schutzobjekte).

Wie man sieht, ist der afrikanische Féticheur zugleich weniger und mehr als unser Arzt. Er ist ebenso Psychologe, Familientherapeut, Seelsorger, Priester, Schiedsrichter, Zeremonienmeister, eine Art Performance-Künstler und last but not least eine Art Ökonom, Spezialist für Fragen der Lastenverteilung, Lastenumverteilung, Kosten, Schulden, Rückzahlung, Ausgleich. Dieser ökonomische Aspekt seiner Analysen und Behandlungen hängt zusammen mit Vorstellungen von Hexerei, die wiederum viel mit dem Problem des Neides zu tun haben. Ein großer Teil der Störungen, die zum Aufsuchen eines Heilers führen, wird mit den Phänomenen des zu schnellen Wachstums, der raschen Bereicherung, des überraschen Erfolgs und des überraschenden Sturzes in Verbindung gebracht, mit Fragen des Gebens und Verteilens beziehungsweise der Weigerung, genug abzugeben und den Folgen der daraus erwachsenden Missgunst. Opfer sind unter diesem Blickwinkel Geschenke des Wiedergutmachens, eine archaische Besteuerung, ein Wiedereinkauf ins Soziale.

Und damit ist man bereits im Herzen des afrikanischen Psycho- und Sozialsystems.

Worum es geht

Im Oktober 1994 führte ich in Man, einer Stadt im Westen der Elfenbeinküste, ein sehr interessantes Gespräch mit einem jungen Mann namens Jean-Claude.

„Hexerei“, sagte er mir, „ist das größte Hindernis für Entwicklung in Afrika.“

Ich fragte: „Meinst du Hexerei oder den Glauben an die Hexerei?“

„Hexerei. Hexerei ist eine Realität. Immer wenn jemand aufsteigt, Erfolg hat, überdurchschnittlich ist, riskiert er, verhext zu werden. Der Neid ist so allgegenwärtig. Das führt zu Angst, Entmutigung, Lähmung jeder Initiative. Hexer essen am liebsten Erfolgreiche, Diplomierte, Studenten, junge hoffnungsvolle Talente. Und am liebsten einen aus der eigenen Familie. Sie verteilen ihn in ihrer Gruppe, und das nächste Mal ist ein anderer dran, jemanden aus seiner Verwandtschaft zu offerieren. So geht das immer weiter. Hast du einmal mitgegessen, stehst du in ihrer Schuld. Opferst du dann nicht jemanden von den Deinen, geht’s dir selbst an den Kragen. In meiner Familie zum Beispiel ist es ein Bruder meines Vaters, der alle Erfolge verhindert. Seine eigenen Söhne reüssieren, aber alle anderen stranden. Ich selbst war ein guter Schüler; bis zur Abschlussprüfung, da versagte ich. Ich weiß selbst nicht warum. Deshalb konnte ich nicht weitermachen mit der Schule. Mir bleibt nur noch, auf einen Erfolg in der Lotterie zu hoffen!“

Jean-Claude ist ein Yacouba. Doch ich habe in den folgenden Jahren ähnliche Beschreibungen in den verschiedensten Regionen und bei unterschiedlichsten Leuten der ganzen Elfenbeinküste, aber auch in andern Ländern Westafrikas gehört.

Wie man aus meiner Frage heraushört, verstand ich Jean-Claudes Gedankengang, dass „Hexerei“ entwicklungshemmend sei, weil es den Ehrgeiz einschüchtert. Aber ich tendierte zu jener Zeit noch dazu, Hexerei als einen Aberglauben zu betrachten. Wäre Hexerei bloß eine Angelegenheit des Glaubens, wäre es für den Einzelnen prinzipiell möglich, das Problem zu überwinden. Heute stehe ich Jean-Claudes (oder der „emischen“) Sicht näher: Hexerei ist eine Realität, auch wenn ich vielleicht einschränken würde: eine soziale Realität. Das heißt: Auch wenn wir den Glauben an Versammlungen, wo die hoffnungsvollsten Familienmitglieder verzehrt werden, nicht teilen, so ist doch die Feststellung der zerstörerischen Kraft des Neides in der afrikanischen Gesellschaft nicht zu leugnen. Diese Kraft ist aber etwas anderes als eine Angelegenheit des individuellen (Irr-)Glaubens. Sie betrifft die Ebene der sozialen Tatsachen und Strukturen, der Soziologie. Dass es nicht einfach um (Individual-)Psychologisches geht, zeigt schon der Sachverhalt, dass jemand wie Jean-Claude das Problem haarscharf erfasst und ihm trotzdem nicht entkommt.

 

Offizielle Hexereianklagen können heute nicht mehr erhoben werden, Ordale sind in den meisten afrikanischen Staaten verboten. Der Hexereidiskurs ist inoffiziell geworden, dadurch aber auch entgrenzter, diffuser und allgemeiner. Seine Domänen sind heute, neben dem Psychischen (den Vermutungen und Ängsten) das Gerücht, das Geschwätz und die Behandlungszimmer der traditionellen Heiler. Aber die Weltsicht, die in der Hexerei zum Ausdruck kommt (die impliziert, dass individueller Erfolg und sozialer Aufstieg gefährlich sind, weil sie – potenziell tödliche – Neider anziehen), ist immer noch allgegenwärtig, auch wenn das Wort „Hexerei“ dabei gar nicht verwendet wird. Ich möchte das an einem weiteren kleinen Fallbeispiel veranschaulichen:

Abou ist ein junger Mann aus der Gegend von Odienné, der in Bouaké eine cabine téléphonique bedient. Eines Tages sagte er mir:

„Es ist besser nicht zu arbeiten, als zu arbeiten.“

„Warum?“, fragte ich.

„Weil es auf dasselbe rauskommt. Jeden Tag kommen zehn Leute, um mich anzupumpen. Weitere zehn kommen, um auf Kredit zu telefonieren. Ils me fatiguent jusqu’à ce que j’accepte. Es ist so viel Bargeld in der Schublade, ich kann nicht sagen, ich hätte nichts. Und ich kann auch nicht abhauen. Sie können mich den ganzen Tag bearbeiten, bis sie kriegen, was sie wollen. Und Ende des Monats habe ich zwar gegessen, aber ich stehe ohne einen Sou da, genau so wie die, die mich angepumpt haben und selber nicht arbeiten. Ich möchte nach London gehen. Du siehst mich seit zwei Jahren jeden Tag hier arbeiten, aber ich bin keinen Zentimeter vorwärtsgekommen. Ich muss weg.“

Wie zur Illustration dieser Situation hat Abou zwei Sprüche auf die Wand hinter sich geschrieben:

„L’enfer c’est les autres“ („Die Hölle, das sind die andern“) und „L’homme n’est rien sans l’homme„ („Der Mensch ist nichts ohne den Menschen“).

Man kann das afrikanische Dilemma wohl kaum prägnanter ausdrücken. Abou hat eigentlich alle Voraussetzungen und alles getan, um weiterzukommen. Er zeigt Initiative. Neben seinem Job in der Kabine unterhält er einen Kleinhandel mit allem Möglichem. Er ist intelligent, sprachgewandt und recht gebildet. Er ist aufgeklärter Muslim. Er hat die Provinz verlassen, um in die Großstadt zu kommen, wo er nicht mehr den engen Beschränkungen und Verpflichtungen der Familie untersteht. Trotzdem hat er nicht alle Verbindungen gekappt. Er wohnt bei seinem Onkel und geht von Zeit zu Zeit ins Dorf auf Besuch. Er ist umgänglich, gesprächig, allseits beliebt. Er ist weder verschwenderisch noch geizig. Er ist ledig und hat noch keine Kinder zu unterhalten. Er trinkt nicht und raucht nicht. Mit andern Worten: In einem friedlichen, recht prosperierenden Land wie der Elfenbeinküste müsste ein Mann wie er eigentlich weiterkommen. Warum kommt er auf keinen grünen Zweig? Er sagt es selber: Es liegt an der Art der herrschenden Sozialbeziehungen, und zwar vor allem, insofern sie Ökonomisches betreffen, konkret: an der Pflicht zu teilen und der Unmöglichkeit zu sparen.

Um die Unterschiede zum europäischen System noch schärfer herauszuarbeiten, muss man sich fragen, was denn passieren würde, verweigerte Abou Kredite und Geschenke. „On va trop me fatiguer“, sagt er selbst. „Man wird mich ermüden, fertig machen.“ Das ist buchstäblich zu nehmen. All die selbst ernannten petits-frères würden den lieben langen Tag in seiner Kabine sitzen und ihn mit ihrem Gejammer an den Rand des Nervenzusammenbruchs treiben. Er kann ja nicht weg, er ist ihnen ausgeliefert! „On va gâter mon nom“, sagt er auch. „Man wird meinen Namen in den Schmutz ziehen.“ Das hieße, die Kunden blieben aus. Es gibt genug andere Kabinen in der Umgebung.

Aber vor allem kann einen jemand, den man erzürnt hat, verhexen.

„Die Hexen sind überall, du kannst ihnen nicht entfliehen. In Windeseile fliegen sie von hier nach Paris.“

„Was kann man dagegen tun?“

„Vor allem musst du freundlich sein mit allen. Wenn dich jemand um einen Gefallen bittet, solltest du ihn nicht ausschlagen. Du musst immer daran denken, dass es dir besser geht als vielen anderen. Vor allem in der Familie. Die Leute, die Angst vor Hexen haben, sind vor allem Junge, die in die Stadt gekommen sind und sich seit Jahren nicht mehr im Dorf haben blicken lassen. Jetzt schämen sie sich. Man muss für die ärmeren Verwandten sorgen, sonst tun sie dir etwas an. Ich schütze mich auch mit einem Koranvers, den mir mein Onkel gegeben hat. Manchmal schreibe ich auch Koranverse auf die Tafel, wasche sie ab und trinke das Wasser. Es ist schwierig, hier vorwärts zu kommen. Ich kenne einen Ort, wo neunzig Prozent der Jungen ausgewandert sind. Immer will jemand etwas von dir, und wenn du es ausschlägst, machen sie dir das Leben zur Hölle. In Afrika arm geboren zu werden, heißt arm zu sterben. Der Faule ist schlauer als der Fleißige, denn beide bringen es gleich wenig weit, bloß dass der eine ein leichteres Leben hat als der andere.“

Das Schicksal Abous erinnert an jene moderne Legende, die in verschiedenen afrikanischen Ländern kursiert und von einem Mann erzählt, der Gott begegnete. Der Allmächtige versprach, ihm zu geben, was immer er begehrte – und seinem Bruder das Doppelte. Der Mann dachte an eine Frau, ein Haus, ein Auto, aber die Vorstellung, dass sein Bruder zwei davon hätte, war ihm unerträglich. Schließlich bat er Gott: „Stich mir ein Auge aus.“

Um diese Thematik des Neids kreist – nebst anderem – die vorliegende Studie. Sie beruht auf Feldforschungen, die ich im September/Oktober 1994 in der Elfenbeinküste begann, im März/April 1996 ebenda fortführte und vom August 1997 bis Sommer 2000 in einem größeren Rahmen, der auch Mali, Burkina Faso, Guinea und Senegal umfasste, weiterverfolgte.

Hexerei ist ein fait social total. Die sozialen, ökonomischen und zum Teil auch die politischen Aspekte lassen sich tagtäglich und überall beobachten. Die religiöse Seite nicht, denn sie hat ihre genau zugewiesenen Orte, Personen und eine abgestufte Geheimhaltungspraxis. Einen großen Teil meiner Forschungszeit verbrachte ich mit den dafür zuständigen Spezialisten: Féticheur, Heiler, Priesterin, Tradi-Practicien, Komian, Marabout oder wie immer man diese Fachleute für Hexerei, Antihexerei und Geister, aber auch für Krankheiten, Heilpflanzen und Behandlungen nennen will. Die zwei Menschen, denen ich in dieser Hinsicht am meisten zu verdanken habe, sind Tiegnouma Coulibaly und Clémentine Roger.

Tiegnouma Coulibaly ist ein Bambara aus Mali, der in Abengourou im Osten der Elfenbeinküste wohnt und praktiziert. Ich glaube sagen zu können, dass wir im Laufe der Jahre, in denen wir uns kennen, zu Freunden geworden sind. Ich habe ihm Einblicke in meine Welt gegeben, aber vor allem er mir in seine und in jene von andern Féticheurs, die wir in der Elfenbeinküste, in Mali und Guinea zusammen besucht haben.

Clémentine Roger ist eine Abouré in Abidjan. Durch sie habe ich zum einen viel über die traditionellen Auffassungen der Akan über diese Dinge erfahren (insbesondere auch durch die Kontakte, die sich durch sie zu ihrem Herkunftsort Bonoua ergaben, wo ich andere Féticheusen aus ihrer Verwandtschaft kennen lernte), zum andern aber auch über die besondere Perspektive einer Frau, die, wie sie, praktizierende Féticheuse ist, zugleich jedoch gebildete Angehörige eines großstädtischen Mittelstands, und größtenteils eine ebensolche Kundschaft betreut. Auch mit ihr verbindet mich zu viel, als dass ich einfach von einer Informantin (und wäre es eine „Hauptinformantin“) sprechen könnte. Einen großen Teil meiner Forschung verbrachte ich reisend, mit Coulibaly, aber auch mit andern Heilern und mit Griots (auf die ich noch zurückkommen werde). Einen Höhepunkt in dieser Hinsicht stellte eine Reise dar, die ich mit Coulibaly in sein Heimatdorf Tiengolo im Westen Malis unternahm. Neben der Bekanntschaft mit seinem Vater, ebenfalls ein bekannter Heiler, ergaben sich Kontakte mit zahlreichen andern Féticheurs und Marabouts in den umliegenden Dörfern.

Diese Art der teilnehmenden Beobachtung – mit einem Heiler an seinen Herkunftsort zu reisen – erwies sich als äußerst fruchtbar in mehrerer Hinsicht. Erstens ist das Reisen eine zwanglose Möglichkeit, viel Zeit miteinander zu verbringen, Raum für Gespräche zu haben und Alltagsverhalten mitzuerleben. Zweitens erleichtert die Begleitung eines Heilers den Zugang zu andern Heilern (die in diesem Fall entweder mit ihm verwandt oder seine ehemaligen Lehrmeiste sind), und zudem können die beobachteten Heilmethoden nachher diskutiert werden – aufgrund der Konkurrenzsituation oft auch durchaus kritisch. Drittens stellt die Rückkehr eines Arrivierten (wie es Coulibaly gemessen an seiner Herkunft zweifellos ist) in sein Heimatdorf quasi die Verhexungssituation par excellence dar. Auf einem solchen Rückkehrer lastet die Verpflichtung, seinen gewonnenen Reichtum zu verteilen. Tut er das nicht, gilt er als Egoist, zieht Neid auf sich und also möglicherweise auch Verhexung. Viertens erlebte ich diesen sozialen Druck, der auf dem Arrivierten lastet, gewissermaßen am eigenen Leib, indem ich für diese Erwartungen als Coulibalys „Überdruckventil“ fungierte und geben musste, wenn jener nicht mehr konnte. Das eigene Involviertwerden in diese Erwartungen und die Aggressionen bei Nichterfüllung verschafften mir wohl auch manche vertieften Einsichten in die Psychodynamik von „Verhexung und Gegenmaßnahmen“. Fünftens ermöglichte die Bekanntschaft mit seiner ganzen Familie und weiteren Verwandtschaft auch eine psychologisch differenziertere Betrachtung seiner Lebensgeschichte, einer Lebensgeschichte, die von einer leidensvollen Kindheit und Jugend gezeichnet ist und die in mancher Hinsicht als typisch für viele Heilerbiografien – zumindest dieser Region – gelten kann.

Ich wiederholte diese Methode später mit dem Griot Baba Diarrasouba, einem Bwaba, mit dem ich, nachdem ich auch ihn schon länger kannte, von seinem jetzigen Wohnort Ferkessédougou im Norden der Elfenbeinküste eine Reise in sein Dorf Koumbara im Westen von Burkina Faso unternahm, die sich wiederum als äußerst aufschlussreich erwies. Auch sein Vater ist ein bekannter Heiler, der mir Kontakte zu verschiedenen andern Heilern der Umgebung ermöglichte. Darüber hinaus ist Baba Diarrasouba als Griot für das Erzählen von Familiengeschichten, Anekdoten, politischen Ränkespielen und Gerüchten prädestiniert und verfügt über ein immenses Netz von Kontakten durch alle Schichten und Landesteile, was ihn zu einem wunderbaren Reise und Gesprächspartner macht. Aber auch bei ihm stellte sich der ganze Komplex von Rückkehr, Verteilen-Müssen, Imponieren-Wollen (aber mit dem Vater und dem größeren Bruder nicht konkurrieren zu dürfen), Angst vor dem Vorwurf, unsozial zu sein usw., als äußerst konfliktreich dar.

Bei Erstkontakten mit Heilern und Heilerinnen realisierte ich rasch, dass es am einfachsten und ergiebigsten war, sich anstatt als Forscher (was meist bloß zu Missverständnissen führte) direkt als Klient einzuführen, um die praktizierten Methoden sogleich „von innen“ zu erleben. Das wird dadurch erleichtert, dass von einem Kunden gar nicht erwartet wird, dass er ein konkretes Problem präsentiert, sondern es am Heiler (der immer auch Wahrsager ist) liegt, den Grund des Kommens herauszufinden. Und erfindet auch immer etwas.

Ein „Aha-Erlebnis“ stellte für mich das Recherchieren eines Falles von Hexereiverdacht in Grand-Béréby dar. Nach einer Art Schneeballprinzip suchte ich immer neue Involvierte auf, die mich dann wiederum auf andere Beteiligte verwiesen. Das Interessante an dieser Geschichte (sie findet sich im Kapitel „Es soll dir nicht besser ergehen als mir“) ist, dass sie völlig ohne Institutionalisierung vor sich ging. Der Hexereiverdacht gegen die besagte Frau wurde eines Abends – nachdem der zugrunde liegende Konflikt sich seit einigen Wochen zugespitzt hatte – in einem Restaurant vor mehreren Gästen ausgesprochen und breitete sich in den nächsten Tagen im ganzen Ort aus, allerdings ohne dass irgendeine „offizielle“ Instanz involviert gewesen wäre. Die (gruppen-)psychologischen Faktoren des Hexereiverdachts ließen sich hier also insofern besonders gut studieren, als es eine kontinuierliche Entwicklung gab von einem „normalen“ Konflikt zu einem Konflikt, der in Begriffen der Hexerei formuliert und ausagiert wurde. Das war für mich lehrreich, weil in der klassischen ethnologischen Literatur eine Tendenz besteht, „Hexerei“ zu isolieren und zu institutionalisieren. Demgegenüber begriff ich anhand dieser an sich banalen Auseinandersetzung, dass – zumindest heute – die Relevanz der Hexerei in Afrika darin besteht, dass sie nicht so sehr einen klar abgegrenzten Sachverhalt markiert (Verdacht, Anklage, Strafe etc.), sondern eher einen kulturellen Stil, eine Struktur oder einen Aspekt bezeichnet, der praktisch alles prägt, was das Sozialleben ausmacht, auch wenn das Wort „Hexerei“ gar nicht ausgesprochen wird.

Der Hauptteil des vorliegenden Buches, die „Expeditionen mit Zauberern“, ist empirischem Rohmaterial gewidmet. Zuerst gebe ich einen Bericht wieder, den ich anlässlich meiner ersten persönlichen Begegnung mit Féticheuren verfasste. Ich hatte Letztere als Klient aufgesucht (das kann man, wie gesagt, auch ohne spezifisches Problem, etwa so, wie man hier zu einem Wahrsager geht; es ist dann an ihm, das Problem zu finden.) Das gibt einem gute Einblicke, hat aber den „Nachteil“, dass man persönlich involviert wird (etwa so, wie wenn sich ein Afrikaner, der den europäischen Psychoboom untersucht, einer Urschrei-Therapie unterzieht. Die schöne Dialektik von Eigenem und Fremdem kann dann ziemlich tumultös werden). Auch „Verwirrung als Erkenntnismittel“ handelt von Verstrickungen, um die man in einer längeren Feldforschung nicht herumkommt. Der Text ist ein Versuch, die eigene Verdunkelung für Aufklärungszwecke fruchtbar zu machen, sich ins äußere und innere Chaos zu begeben, um zu einer neuen Ordnung zu gelangen.

„In Coulibalys Welt“ porträtiert den Bambara-Féticheur Tiegnouma Coulibaly. Das Kapitel beschreibt vor allem auch die Reise in sein Heimatdorf in Mali, die ich mit ihm unternahm und die mir einige der familiären Probleme vor Augen führte, mit denen jemand konfrontiert ist, der einen Aufstieg geschafft hat, und nun einer Art verwandtschaftlicher Erpressung ausgesetzt ist: Entweder du gibst, oder du wirst verhext.

Das Kapitel „Baba, die Familie und das Wort“ behandelt eine ähnliche Problematik. Auch mit dem Bwaba-Griot Baba Diarrasouba unternahm ich eine lange Reise in sein Dorf, zu seinem Vater. Wie schon mit Coulibaly besuchten wir auch hier zahlreiche Heiler, und Baba, als Griot ein professioneller Vermittler, war für mich dabei ein unschätzbarer „Passepartout“. Aber auch für ihn war das Wiedersehen mit all den frères und sœurs nicht nur eitel Freude. Wehe, jemand hatte das Gefühl, beim großen Geschenkeverteilen übergangen worden zu sein! In der Nacht gehen die Hexen um, vor allem auf dem Dorf (sagen die Städter). Wir jedenfalls verbrachten keine einzige Nacht in Koumbara ...

Das Kapitel „Clémentines Geister“ zeichnet das Bild einer Féticheuse in der Millionenstadt Abidjan. Als Abouré-Frau gehört Clémentine Roger zur Akan-Kultur aus den Wäldern des südlichen Ghana. Damit vertritt sie auch in ihren Behandlungen einen andern Stil als die Leute aus dem Umfeld Coulibalys und Babas, die aus der Savanne im Norden kommen. Clémentine ist eine gebildete, städtische Kleinbürgerin mit Brille (tagsüber). In der Nacht, wenn sie konsultiert, ersetzt sie den Rock durch einen gelb-weißen pagne (das sind die Farben, die ihre Geister mögen). Ihre Brille legt sie ab, denn ihr Blick ist sowieso auf eine innere Ferne gerichtet, wenn sie sich das Gesicht mit Kaolin eingeschmiert hat, die Kalebasse mit dem Wasser vor ihrem Gesicht schwenkt und langsam in Trance fällt, bis der Flussgeist mit einer ganz unirdischen Stimme sich durch sie zu äußern beginnt. In solchen Séancen wird anschaulich, was die Afrikaner und Afrikanerinnen meinen, wenn sie so häufig davon sprechen, dass es neben der Tagwelt noch eine andere Ebene, eine surréalité gebe, die unsichtbar, aber an ihren Spuren auch am Morgen noch erkennbar sei, wie ein nächtlicher Föhnsturm. Für den, der Augen hat zu sehen.

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