Loe raamatut: «Die jüdischen Salons im alten Berlin»
Deborah Hertz
Die jüdischen Salons im alten Berlin
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
ISBN 978-3-86393-508-5
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Deborah Hertz
Die jüdischen Salons
im alten Berlin
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung: Warum Salons?
2 Gesellschaftsstruktur
3 Die männlichen Intellektuellen
4 Freizeitbeschäftigungen, Kulturangebote und die Entstehung der Salons
5 Die Männer der Salons
6 Die Frauen der Salons
7 Taufe und Mischehe
8 Der Niedergang der Salons
Abbildungen
Nachweise
Bibliographisches Nachwort
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Es ist mir eine Freude, dem deutschen Leser dieses Buch vorzustellen.
Für die deutsche Ausgabe habe ich es eigens überarbeitet und, um der besseren Lesbarkeit willen, vor allem auf den ausführlichen Anmerkungsapparat verzichtet. Mein Dank geht an Gisela Brinker-Gabler, Suzanne Zantorp und Carola Stern für ihre großzügige Unterstützung. Für im Text noch vorhandene Irrtümer trage ich die alleinige Verantwortung.
Ganz besonders zu Dank verpflichtet bin ich Martin – für alles.
Princeton, New Jersey, im August 1990 D. H.
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Als ich vor Jahren, noch während meines Studiums, G. P. Goochs Essay über die Berliner Salonières (in seinem Buch Germany during the French Revolution) las, öffneten sich mir die Jüdischen Salons von Berlin um 1800 als intellektuelle Heimstätte. Schon vertraut war ich mit Hannah Arendts Biographie über Rahel Varnhagen, und so kam mir die Idee zu diesem Buch.
Im Jahre 1972 war es noch ein etwas heikles Unterfangen, sich mit Frauenstudien und der Erforschung der weiblichen Geschichte zu beschäftigen. Doch mein damaliger Lehrer, Otto Pflanze, ermutigte mich dazu. Allmählich entfaltete dieses Unternehmen eine verführerische Kraft. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß die Rekonstruktion des Berliner Salonlebens eine ideale Projektionsfläche für drei, mich besonders beschäftigende historische Fragestellungen bot: Die Berliner Salons waren eine intellektuelle Institution mit einem zwar besonderen, aber sozialgeschichtlich noch nicht eindeutig bestimmten Profil; ihre Protagonisten waren Angehörige der jüdischen Randgruppe im Zeitalter der Emanzipation; gleichzeitig handelte es sich um intellektuelle Institutionen von Frauen. Mich überkam der – vielleicht etwas prätentiöse – Gedanke, daß die Salons gerade meiner bedurften.
In den dreizehn Jahren, die seither vergingen, habe ich die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen genossen. Otto Pflanze stand mir stets ermutigend und berichtigend zur Seite. Die „Germanistic Society of America“, die „Fulbright Commission“, die „National Foundation for Jewish Culture“ und die „Memorial Foundation for Jewish Culture“ ermöglichten mir zwischen 1975 und 1977 den Aufenthalt an der Freien Universität Berlin. Das Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, die Manuskriptsammlung der Schiller-Universität in Jena und das Evangelische Zentralarchiv Berlin-West öffneten mir großzügigerweise ihre Sammlungen. Ab 1977 genoß ich in vielfältiger Weise die Unterstützung des New Yorker Leo Baeck Instituts und seiner Mitarbeiter. Dank des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes konnte ich 1979 statistische Auswertungen am Evangelischen Zentralarchiv in Berlin vornehmen. Meine Kollegen an den historischen Instituten der University of Minnesota, der Pittsburg State University in Kansas und der State University of New York in Binghampton halfen mir mit Rat, Tat und ihren hohen Erwartungen.
Ab 1980, seitdem ich in Binghampton lehre, gewährte mir diese Universität alle nur denkbare materielle, bibliographische und technische Unterstützung. Charles Grench von der Yale University Press sorgte dafür, daß aus dem Manuskript ein Buch wurde. Viele Freunde und Kollegen sprachen mit mir darüber und lasen geduldig Kapitel für Kapitel. Eine unerschöpfliche intellektuelle Quelle waren mir meine Geschlechtsgenossinnen der „German Women’s History Study Group“ in New York. Doch vor allem war es meine Familie, insbesondere Martin, die mich durchhalten ließen.
Monrose, Pennsylvania, im September 1986
D. H.
1 Einleitung: Warum Salons?
Amalie Beer
Die Rahelzeit
Als ich in einem Bildarchiv mit der Auswahl der Illustrationen für dieses Buch beschäftigt war, hörte ich beiläufig, wie ein Angestellter seinem Kollegen mein Thema beschrieb: „Sie arbeitet über die Rahelzeit.“ Für mich war diese Etikettierung eine wahre Erleuchtung: Mir wurde auf einmal bewußt, daß die Deutschen ihre Geschichte häufig an Personen festmachen. Man denke nur daran, daß die Namen von Friedrich dem Großen, Otto von Bismarck oder Wilhelm II. in der Geschichtsschreibung für die jeweilige Ära stehen. Vollends ungewöhnlich ist es jedoch, in einer Frau und Jüdin, die weder über politische Macht noch über außerordentliche intellektuelle Meriten verfügte, die Schlüsselfigur einer Epoche zu sehen. Daß die für die deutsche Geistesgeschichte so zentralen Jahre zwischen 1780 und 1806 nun ausgerechnet mit dem Namen einer Jüdin in Zusammenhang gebracht werden, sagt einiges über die Besonderheit dieser Epoche aus. Zu dieser Zeit war es offenbar möglich, berühmt zu werden, auch wenn man weder Mann noch Christ war, weder Titel oder Bürgerrechte oder gesellschaftlichen Status besaß und nicht einmal seine Gedanken in schriftlicher Form an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Herauszufinden, warum Rahel und einigen ihrer jüdischen Freundinnen das gelang, ist das Ziel dieses Buches.
Rahel Varnhagens Popularität innerhalb des exklusiven Kreises frühromantischer Intellektueller begann in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Da war sie noch Mademoiselle Levin, eine wohlhabende Jüdin Mitte zwanzig, die das Dachgeschoß ihres Elternhauses im Zentrum von Berlin bewohnte. Seit ihrer Jugend suchte sie die Bekanntschaft mit prominenten Nichtjuden, die sie schon als Kind von Ferne musterte, wenn sie im Haus ihrer Freundin Brendel spielte, deren Vater, Moses Mendelssohn, Europas berühmtester und gefragtester jüdischer Intellektueller war. Rahels Vater, ein Juwelenhändler mit Beziehungen zum Hof, pflegte Schauspieler und Adlige zum Abendessen in sein Haus einzuladen und ihnen bei solchen Gelegenheiten auch Geld zu verleihen. Noch aber fühlte sich die junge Rahel als Schlehmil, als ein Niemand, wenn Leute wie Alexander und Wilhelm von Humboldt und deren Freunde am Familientisch beisammensaßen.
Doch mit der Zeit bahnte sich auch Mademoiselle Levin ihren Weg in den Humboldt-Kreis. Sie entschloß sich, ihre Bindungen zur jüdischen Gemeinde abzubrechen, und sie weigerte sich, die von ihrer Familie in die engere Wahl gezogenen jüdischen Geschäftsmänner zu heiraten. Statt dessen versuchte sie, ihr Deutsch und Französisch zu verbessern, las und engagierte sogar einen Hofmeister, um Mathematik zu lernen. Sozial ungebunden zu sein und moderne Sprachen sowie Umgangsformen zu beherrschen, war für die eben Zwanzigjährige um so vorteilhafter, als sie während eines sommerlichen Badeurlaubs in Böhmen ausländische Diplomaten und deklassierte adlige Damen kennengelernt hatte. Auf ihre neuen Freunde wirkte Rahel exotisch, charmant und empfindsam. An Winterabenden in der Stadt, nach dem Theater, empfing sie häufig Gäste, die wiederum Freunde vom Hof mitbrachten. Aus diesem Freundeskreis erwuchs allmählich Rahel Levins Salon.
Auch Rahels Freundinnen aus der Kinderzeit kamen in der Berliner Gesellschaft zu Ansehen, wenn auch auf anderen Wegen. Brendel Mendelssohn, die mit neunzehn Jahren einen von ihrem Vater auserwählten jüdischen Geschäftsmann geheiratet hatte, verstand es dennoch, sich ein eigenständiges gesellschaftliches Leben aufzubauen. Sie änderte ihren Namen in Dorothea, verkehrte mit der literarischen Welt und gründete eine Lesegesellschaft, die sich jeden Donnerstagabend bei ihr zu Hause einfand. 1798, im Alter von 34 Jahren, begegnete sie im Haus eines jüdischen Freundes Friedrich Schlegel, der gerade im Begriffe war, sich als Literaturkritiker einen Namen zu machen. Dorothea verliebte sich in ihn, verließ ihren Mann und verbrachte mit Schlegel den Rest ihres nicht ganz einfachen Lebens. Henriette de Lemos, eine weitere ehemalige Spielgefährtin im Haus der Mendelssohns, war die Tochter eines in Berlin lebenden reichen portugiesischen Arztes. Mit zwölf Jahren wurde sie mit Markus Herz, einem jüdischen Arzt, verlobt. Von 1780 an lud das Ehepaar Herz in seinen großen Doppelsalon ein, der als Institution aus den von Markus Herz gehaltenen naturwissenschaftlichen Abendvorlesungen hervorgegangen war. Während er in dem einen Raum physikalische Experimente vorführte, leitete Henriette in dem anderen Diskussionen über die neuesten romantischen Gedichte, Theaterstücke und Romane.
Unter Europas Intellektuellen galten Rahel Levin, Dorothea Mendelssohn und Henriette Herz als die berühmtesten jüdischen Frauen ihrer Zeit, bekannt für ihren kultivierten Geschmack und ihre engen Freundschaften mit prominenten Nichtjuden. Einer Reihe anderer Berliner Jüdinnen gelang ebenfalls der gesellschaftliche und kulturelle Durchbruch. Amalie Beer, die häufig nach Italien reiste, fühlte sich in Berlin am wohlsten, wenn sich von morgens bis abends Gäste in ihrem palastartigen Haus aufhielten. Philippine Cohens Gäste pflegten die Nachmittage im Garten der Gastgeberin zu verbringen, wobei sie Charakterskizzen voneinander entwarfen, die sie sich gegenseitig vorlasen. Die Geschwister Marianne und Sara Meyer wurden früh an jüdische Geschäftsmänner verheiratet, konvertierten jedoch später, um sich in zweiter Ehe mit Adligen zu vermählen. Sara Levy, eine Tochter aus der einflußreichen Familie Itzig, blieb mit einem angesehenen jüdischen Bankier verheiratet und lud Diplomaten und französische Intellektuelle in ihr Haus im besten Viertel der Stadt. Rebecca Solomon, die mit neunzehn Jahren in die berühmte Friedländer-Familie einheiratete und sich vier Jahre später scheiden ließ, schrieb Romane und lange Briefe und sah sich derweil nach einem neuen Gatten adliger Herkunft um.
Der gesellschaftliche Erfolg dieser jüdischen Frauen prägte die kulturelle Lebendigkeit der Rahelzeit. In dem Vierteljahr hundert zwischen 1780 und 1806 erfuhren die Berliner Salons im In- und Ausland große Beachtung. Berlin-Besucher aus ganz Europa waren insbesondere von der raschen Assimilation der jüdischen Salonières angetan, welche ihr gesellschaftliches Ansehen zu einer Zeit erlangten, als die meisten Juden Mittel- und Osteuropas noch arme Händler und Hausierer waren, auf dem Lande und in Dörfern wohnten, Jiddisch sprachen und ihrer traditionellen Lebensweise anhingen. Hier jedoch, in den Gesellschaftsräumen reicher und kultivierter Berliner Jüdinnen, schien der durch aufgeklärte Intellektuelle soeben antizipierte Traum von der jüdischen Emanzipation seiner Verwirklichung nahe zu sein. Im Zuge der Revolution in Frankreich errang die dortige jüdische Gemeinde erstmals ihre volle politische Gleichberechtigung. Aber es war in Deutschland und insbesondere in Berlin, wo die jüdische Gemeinde ein derart hohes gesellschaftliches Ansehen erlangte, daß die Crème der nichtjüdischen Gesellschaft in jüdischen Häusern ein und aus ging oder sogar dort einheiratete. Die Beobachter des Berliner Gesellschaftslebens waren jedoch nicht nur von der Tatsache beeindruckt, daß ausgerechnet Frauen die jüdische Emanzipation vorantrieben, sondern zugleich davon, daß die neuen Gäste sich ebensosehr aus Bürgerlichen wie Adligen zusammensetzten. Man pries dies als eine außerordentliche Errungenschaft eines Landes, das ansonsten von einer starren sozialen Hierarchie geprägt war. Als Madame de Staël, die berühmte französische Salonière, 1804 Berlin besuchte, empfand sie es dort bei weitem leichter als anderswo in Deutschland, Fürsten gemeinsam mit einfachen Schriftstellern einzuladen.
Die heitere Öffentlichkeit der jüdischen Salons beruhte auf der Ablehnung traditioneller Schranken, welche den Edelmann vom Bürger, den Christen vom Juden, den Mann von der Frau trennten. So verkörperten die Salons genau das zu dieser Zeit heftig diskutierte universale Bildungsideal. Bildung schloß Erziehung, Verfeinerung der Umgangsformen und charakterliche Entwicklung ein. Bildung war das Vehikel, womit Menschen von bürgerlicher Herkunft geistigen Adel erlangen konnten; das Instrument, womit Juden den Christen ähnlicher werden konnten. Doch sollte dieser neuen, in den Salons kultivierten Öffentlichkeit ein nur kurzes Leben beschieden sein. Obgleich einige Salons noch nach 1806, dem Jahr des Einmarsches Napoleons in Preußen, fortbestanden, vermochten jüdische Frauen ihre exponierte Stellung innerhalb der Salonkultur nicht mehr länger zu behaupten, und auch die Bedeutung der Salons als Institution war im Schwinden begriffen. Im nachfolgenden Jahrzehnt stand Berlin entweder unter direkter oder indirekter Fremdherrschaft. Mit dem Anwachsen der Opposition gegen die französische Besatzung stellte die patriotisch gewordene städtische Intelligenz auch die Werte in Frage, die für die Entstehung der Salons entscheidend gewesen waren: die Nachahmung der französischen Adelskultur, die sexuelle Libertinage, die Freundschaften zwischen Bürgerlichen und Adligen und die öffentlichen Darstellungen jüdischen Reichtums und jüdischer Kultur. Voller Trauer erinnerte sich Rahel Levin später jener verlorenen Zeit: „Wo ist unsere Zeit! Wo wir alle zusammen waren. Sie ist Anno 6 untergegangen. Untergegangen wie ein Schiff: mit den schönsten Lebensgütern, den schönsten Genuß enthaltend.“
Die Historiker
Die epochale wie lokale Besonderheit der Berliner Salons wird im historischen Überblick deutlich. Die Chronisten des 19. Jahrhunderts hoben Berlin als die einzige deutsche Stadt hervor, in der während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts Salons entstanden waren. Gewiß räumten die Historiker ein, daß intellektuelle Gesellschaftszirkel auch schon anderswo in Deutschland, vor allem in den Universitätsstädten Göttingen und Jena, von Frauen geleitet wurden, doch sah man die Berliner Salondamen als kulturell kreativer und ihre Salons im Verhältnis zu anderen literarischen Zirkeln als in sozialer Hinsicht weitaus vielfältiger an. So wurde die außergewöhnliche Heterogenität der Berliner Salonbesucher hervorgehoben. Angehörige aller gesellschaftlichen Kreise sollen sich in den Salons zusammengefunden haben, und diese soziale und religiöse Integration schien in der deutschen Geschichte ohne Beispiel zu sein. Auch wurde festgestellt, daß ein solches Salonmodell ohne Nachfolge blieb, daß die Berliner Salons ihre Blütezeit folglich nie mehr einzuholen vermochten und somit historisch einzigartig blieben. Einzigartig waren sie auch im Hinblick auf die Stellung der Frauen, weil sich ihnen hier die seltene Gelegenheit bot, öffentlichen Einfluß auszuüben. Ingeborg Drewitz erklärte die Berliner Salons zum ersten Höhepunkt deutscher Frauenemanzipation, und für G. P. Gooch waren sie sogar der einzige Höhepunkt, weil den Frauen in der deutschen Geschichte fortan nie wieder gestattet wurde, die öffentliche Meinung mitzugestalten. Doch nicht alle Historiker lobten die Errungenschaften der Salonières uneingeschränkt. Manche kritisierten, daß diese nur keine eigenständige Literatur hervorgebracht haben, sondern lediglich die Musen der Männer gewesen sind.
Die jüdische Identität der Salonières stellte die Geschichtsschreibung ebenfalls vor Probleme. Obwohl sich der Erfolg der Jüdinnen in ihrer Rolle als Salongastgeberinnen rapide verschlechterte, hielt dieser kulturelle Einfluß weit ins 19. Jahrhundert hinein an und wirkte auch noch darüber hinaus. Der Übertritt zum Christentum, das Eingehen von Mischehen und die Teilnahme an Avantgarde-Kulturen blieben bis zum Holocaust Bestandteile jüdisch-deutscher Tradition. Als eine der ersten Generationen, die sich auf diese Weise assimilierten, wurden die Berliner Salonières je nach Standpunkt des Betrachters entweder gelobt oder getadelt. Diejenigen, welche sie priesen, waren hauptsächlich nichtjüdische Literaturkritiker aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sie, wie zum Beispiel Karl August Varnhagen von Ense – Rahel Levins späterer Ehemann –, dafür bewunderten, daß sie die Intellektuellen ihrer Zeit anzuziehen vermochten. Meist handelte es sich im übrigen um Menschen, die von der jüdischen Assimilation derart begeistert waren, daß sie die jüdische Herkunft der Salonières zu erwähnen vergaßen – zweifellos aus Furcht, deren Ansehen bei solchen Lesern zu mindern, die längst nicht so „philosemitisch“ wie sie waren.
Andererseits haben gerade jüdische Historiker, die einem jüdischen Nationalismus anhingen, die Salonières eher herabgesetzt als gewürdigt, selbst dann, wenn sie ihnen Bedeutung für die jüdische Geschichte nicht vollends bestreiten konnten. So wurde die Auffassung vertreten, daß die Salons einen geschlossenen jüdischen Sektor bildeten, der erstmals wirkliche Bindungen mit der deutschen Gesellschaft einging: Bindungen, die Juden und Christen einander weitaus näher brachten als in irgend einem anderen europäischen Land des 18. Jahrhunderts. Was viele jüdische Historiker jedoch irritierte, war ausgerechnet die erfolgreich vollzogene Assimilation der Frauen. Die über die Salons erfolgte Integration wurde als „dekadent“ und „schädlich“ beurteilt, und Heinrich Graetz mißbilligte die Haltung der Salonières so sehr, daß er meinte, die Frauen hätten mit ihrer Konvertierung dem Judentum in der Tat einen Dienst erwiesen. Vorgeworfen wurde ihnen nicht nur, daß sie konvertierten, vielmehr wurden sie auch für die vermeintlichen Auswirkungen ihrer Konvertierungen auf Juden außerhalb der Salongesellschaft verantwortlich gemacht. Mehrere jüdische Historiker beschuldigten die kleine Gruppe von Salonières, eine „Welle“ von Religionsübertritten in Berlin ausgelöst zu haben, und deren vermeintliche Realität wurde als „Manie“, als eine „Flut“ oder gar als eine „Epidemie“ beschrieben, welche die jüdische Gemeinde Berlins an den Rand ihrer Auflösung gebracht hätte. Um das Ausmaß der Konversionen zu dramatisieren, wurden Zeitgenossen zitiert, die beklagten, daß in Berlin nur wenige jüdische Familien von dieser Epidemie verschont geblieben wären, welche zwanzig Jahre zuvor, um 1780, ausgebrochen sei.
Der Stolz der jüdischen Historiker auf die gesellschaftlichen Errungenschaften der Salonières im Kampf um Emanzipation wurde somit durch ihre Bestürzung über die Neigung der Frauen, aus dem Judentum auszutreten, beeinträchtigt. Das Experiment wurde deswegen als gefährlich angesehen, weil es assimilatorische Kräfte freigesetzt habe, die im 19. und 20. Jahrhundert mit unverminderter Intensität anhielten. Und selbst für einen neueren jüdischen Historiker, Walter Laqueur, taugen die Salonières nur wenig als Modell, weil „in ihren exaltierten Konversationen und Briefen eine beträchtliche Affektiertheit, eine künstliche Begeisterung und eine nicht immer wahrhafte Sensibilität zum Ausdruck kamen“. Laqueur kommt zu dem Schluß, daß der „Libertinismus“ der Salonières „den Zeitgenossen und der nachfolgenden Generation zwar zügellos vorkam..., heute jedoch als naiv und langweilig erscheint“.
Die Ablehnung der Salonières durch die jüdischen Historiker wurde auch weitgehend von nichtjüdischen deutschsprachigen Historikern geteilt, die jedoch die negativen Auswirkungen des Salonlebens vorwiegend auf die christliche Gemeinschaft bezogen. So fand Heinrich von Treitschke barsche Worte für den Einfluß der jüdischen literarischen Intelligenz im allgemeinen und für Rahel Levin im besonderen: „Die schnellfertigen jüdischen Talente..., welche in der Tagespresse das Wort führten, trugen ihre jüdische Sonderart hochmüthig zur Schau und verlangten gleichwohl als Wortführer der deutschen öffentlichen Meinung geachtet zu werden. Dies vaterlandlose Judenthum, das sich als Nation innerhalb der Nation gebärdetet, wirkte auf das noch unfertige nationale Selbstgefühl der Deutschen ebenso zerstörend und zersetzend, wie vormals auf die versinkenden Völker des römischen Kaiserreichs.“
Und Rahel: „Aus ihrem Wesen redete der ruhelose Weltschmerz eines edlen, aber tief unbefriedigten Frauenherzens. Mit dialektischer Kühnheit übersprang sie alle Schranken, welche Natur und Geschichte der Menschheit gesetzt haben; Vaterland und Kirche, Ehe und Eigenthum, alles erlag ihrer zersetzenden Kritik.“ In einem paranoiden Ton verdammten die Nazi-Historiker die Salonières: „Gelehrte, Künstler und Schriftsteller mußten bei den Juden verkehren, wenn sie Anschluß an das geistige Leben der Nation haben wollten“; und „so gelangten die jüdischen Berliner Salons denn auch bald zu jener späteren Entwicklungsstufe, auf der sie praktisch schon eine nahezu unumschränkte Herrschaft auf kulturellem Gebiet und einen im steten Wachsen begriffenen Einfluß auf politischem Gebiet ausüben können“.
Voller Eifer lobten oder tadelten die Historiker die Salons und ihre Trägerinnen, doch fehlte ihnen die notwendige Ernsthaftigkeit zur Erklärung des Phänomens, warum diese Salons an ihrem Ort und zu ihrer Zeit entstanden und wieder verschwunden waren. Im 19. Jahrhundert war der Salon ein beliebtes Thema für weitschweifige und oberflächliche Abhandlungen, deren Autoren zum Wiederholen bekannter Anekdoten neigten und sich kaum um das Ausfindigmachen neuer Quellen bemühten. Erklärungen, die besagen, daß sich die Salons den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit verdankten, oder daß sie lediglich „das Produkt der zufälligen Konstellation in einer gesellschaftlichen Übergangsepoche waren“, sind zu vage, um weiterhelfen zu können. Der Zufall spielt durchaus eine Rolle in der Geschichte, doch als einzige Erklärung für das Aufkommen und Verschwinden einer so komplexen Institution wie die des Salons reicht er nicht aus.
Sämtliche plausiblen Erklärungen für die Frage, warum das Salonleben in den letzten Jahren des 1806 zu Ende gehenden preußischen Ancien regimes aufblühte, beruhen auf der Annahme, daß die Salons den Bedürfnissen des städtischen Adels, der jüdischen Gemeinde oder der Intelligenz entgegenkamen. Historiker haben entsprechend besonderes Augenmerk auf die in Berlin lebenden preußischen Adligen gerichtet, von denen man annahm, daß sie in den jüdischen Häusern Luxus, Eleganz, kosmopolitischen Lebensstil und intellektuelle Anregung suchten, die sie an keinen anderen Orten der Stadt finden konnten. In einer Untersuchung heißt es, daß Adlige und Bürgerliche zwangsläufig den Verkehr miteinander suchten, daran aber gehindert wurden, weil die feudale Standesordnung Adligen untersagte, Personen niederer Herkunft zu besuchen oder zu empfangen. Reiche Juden standen jedoch so weit außerhalb der christlichen Gesellschaft, daß es für Adlige eine eher exotische als deklassierende Erfahrung war, mit ihnen zu verkehren. Folglich fanden Adlige auf dem neutralen Territorium der wohlhabenden jüdischen Häuser gleichermaßen intellektuellen Anreiz und Beziehungen zu Bürgerlichen.
Daß die Sonderrolle der Juden außerhalb der herrschenden Standesordnung nicht der einzige Grund für den Salonbesuch war, wird von anderen Forschern in einem zweiten Erklärungsversuch dargelegt.
Ein Nazi-Historiker fand dabei eine besonders simple Deutung: Der Reichtum der „Kulturjuden“, wie er sie nennt, verursachte erst ihren kulturellen Erfolg, der geradezu „verschwörerisch“ dahingehend eingesetzt wurde, Besucher in die Salons zu ziehen, um von dieser „neuen kulturellen Bastion dann endlich auch mit voller Wirksamkeit in das politische und staatliche Leben zumindest auf dem Weg der geistigen Beeinflussung vordringen“ zu können. Seriöser ist eine andere Interpretation, die sich auf die „jüdische Marginalität“ als Ursache für die Aufnahme progressiver Ideen konzentriert. Aus dieser Sicht hatte die Randexistenz der Juden ihren Ursprung im Ausschluß von allen anderen gesellschaftlichen Einbindungen. Die Kluft zwischen der verbalen Beteuerung, daß Juden „gleich“ sein sollten, und ihrer tatsächlichen Unterdrückung ließ diese erst recht zu Außenseitern werden, während der jüdische Kampf um politische Emanzipation andererseits zur Freisetzung besonderer Fähigkeiten führte. Da die Salons von Jüdinnen getragen wurden, konzentrierten sich Historiker naturgemäß auch auf die besonderen Eigenschaften der in Berlin lebenden jüdischen Frauen. Doch damit machten sie es sich zumeist allzu leicht. Die Berliner Jüdinnen sollen „kultivierter“ und „gebildeter“ als ihre christlichen Zeitgenossinnen hier und anderswo gewesen sein, doch fehlt jeglicher Hinweis auf die möglichen Ursachen.
Ein dritter Erklärungsversuch hebt die besonderen Bedürfnisse der Intelligenz hervor. Die aufgeklärten Intellektuellen sollen von einer Leidenschaft für Ideen als solche erfüllt gewesen sein, und mit ihren Besuchen in jüdischen Häusern konnten sie ihr emanzipiertes Denken öffentlich kundtun. Andere Historiker weisen auf die materiellen Nöte der Intellektuellen hin. Nachdem die Höfe sich von ihrer Mäzenatenrolle zurückgezogen und bevor das Verlagswesen seine Blüte entfaltet hatte, habe in den europäischen Städten ein „Vakuum“ an intellektuellen Institutionen bestanden. Indem Verleger, Mäzene und Leser sich am Salonleben beteiligten, förderten sie die Autoren und trugen zur Entstehung und Verbreitung ihrer Werke bei. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war der Zustand der Berliner intellektuellen Institutionen beklagenswert, fehlten der Stadt doch ebenso eine Universität wie ein Parlament, eine großzügige höfische Patronage wie ein bedeutendes Verlagswesen. Demnach tauchten die Salons deshalb auf, weil sie als Institution für die Berliner Intelligenz erforderlich waren.
Auf den ersten Blick scheinen diese drei Erklärungen sich zu ergänzen. Intellektuelle waren darauf angewiesen, Leser, Mäzene und Verleger zu finden, während die städtischen Adligen die kultivierte Unterhaltung mit den Deklassierten suchten. Intellektuelle und Adlige gingen deshalb in die Häuser reicher Juden, deren Frauen gesellschaftlich neutral und intellektuell avanciert zugleich waren. Doch Zweifel an der Stimmigkeit dieses Erklärungsmodells sind angebracht. Denn wie so oft in der deutschen Geschichte wurden auch hier die Gründe, warum Adlige und Intellektuelle jüdische Salons aufsuchten, idealisiert.
Sollten beide Gruppierungen sich wirklich nur deshalb zum Besuch jüdischer Salons herabgelassen haben, um sich dort angeregt zu unterhalten oder um ihre Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen, wo doch solch ein Verhalten unter ihren Vorgängern in Deutschland und nach wie vor auch anderswo in Europa höchst selten anzutreffen war? Zugegeben, Berlin war ein wichtiges Zentrum für die Entstehung und Verbreitung der Aufklärungsideen, doch ihre Blütezeit erlebten die Salons am Ende der Aufklärungsepoche. Und diese fiel in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit dem Beginn der Frühromantik zusammen. Viele romantische Intellektuelle, selbst die unter ihnen, die Salonbesucher waren, nahmen gegenüber dem Judentum späterhin eine problematische, wenn nicht offen antisemitische Haltung ein. Die Avanciertheit des Denkens war mithin nicht der ausschlaggebende Grund für den Salonbesuch – gab es vielleicht handfestere Motive? Da Besuche in jüdischen Häusern dem Ansehen der Nichtjuden in den Augen mancher geschadet haben sollen, stellt sich die Frage, ob diese Gäste sich womöglich finanzielle Vorteile davon versprachen. Je länger ich darüber nachdachte, warum in Berlin Salons aufgetaucht waren, desto schwerer fiel es mir, mit den geläufigen Erklärungsmodellen für diese faszinierende Epoche zurechtzukommen. Die jüdischen Salonières standen dort einer in sozialer wie religiöser Hinsicht buntgemischten Gesellschaft beiderlei Geschlechts vor, die in Deutschland einzigartig war und blieb. Alle Untersuchungen zur Geschichte der Salons gehen davon aus, daß jene Frauen ein dreifaches Kunststück zustande brachten. Indem sie sich von ihren traditionellen, patriarchalischen Familienverhältnissen emanzipierten, trugen sie in einer ebenso entscheidenden wie kreativen Zeit zur Entstehung einer gehobenen Geisteskultur bei und knüpften im gleichen Zuge neue Verbindungen zwischen den Klassen, Religionen und Geschlechtern. Dieses mehrfache Kunststück ist deshalb so bemerkenswert, weil die Existenz der Salons auf drei Gebieten der allgemeinen historischen Entwicklung widerspricht: Zum einen sind die Salons eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Sozialgeschichte. Die Gesellschaftsstruktur war hier bis ins 20. Jahrhundert hinein weitaus rigider und geschlossener als im übrigen Europa. Wenn es in Deutschland jemals zu klassenüberschreitenden Verbindungen gekommen sein soll, warum ausgerechnet zu einem solch frühen Zeitpunkt, wo die sozialen Gruppierungen noch starr innerhalb der ihnen zugewiesenen Standesgrenzen verharrten? Zum zweiten blieben die Berliner Salons auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Geschichte eine Ausnahmeerscheinung. Die Juden erhielten in Deutschland erst 1871 die vollen Staatsbürgerrechte, und bis ins 20. Jahrhundert hinein gelang es nicht einmal den reichsten Juden, mit Nichtjuden gleichen Besitzstandes einen selbstverständlichen Umgang zu pflegen. So boten die Berliner Salons die Erfüllung des Traums von der Assimilation im kleinen. Wie soll man aber den Zeitpunkt ihres Erscheinens auf der historischen Bühne erklären? Warum entstehen sie gleich zu Beginn der sich so langsam entwickelnden jüdischen Emanzipationsbewegung? Und drittens stellten die Salons zudem eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der jüdischen Frau dar. Über die gesamte neuzeitliche Epoche hinweg blieben die jüdischen Frauen in Ost- wie in Westeuropa gewöhnlich ihrem Glauben und ihrer Familie treu und wurden keineswegs, wie man von den Berliner Salonières behauptete, zu „Glaubensdeserteuren“.