Loe raamatut: «Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2)»
Detlev Sakautzky
MARITIME ERZÄHLUNGEN
Wahrheit und Dichtung
Band 2
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
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Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Nachkriegszeit
Gereinigt vom Schmutz der gemäßigten Zone
Die Waffe der Dornhaie
Das Gift der Feuerqualle
Ruder und Propeller frei
Klotzen statt Kotzen
Wassereinbruch
Robert raucht nicht mehr
Tödlich verunglückt
Unverzollt
Sputnik ist weg
Liebe Grüße von Marie
Farblos und Bizarr
Frederik und Friederike
Müller antwortet nicht
Hindernis am Meeresgrund
Worterklärungen
NACHKRIEGSZEIT
Am spätem Abend, es war sehr dunkel, hielt ein LKW mit Flüchtlingen und Vertriebenen auf dem Dorfplatz des kleinen Ortes mit dem Namen Gutshof. Es regnete. Das Verdeck wurde durch den Fahrer geöffnet, im Schein von Taschenlampen kamen Frauen und Kinder zum Vorschein. Sie waren lange unterwegs gewesen und kamen aus einem zentralen Aufnahmelager für Flüchtlinge. Es waren Familien aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland. Einige der Dorfbewohner hatten sich um den LKW versammelt, unter ihnen der Bürgermeister, Herr Müller, ein älterer hagerer Bauer. Er hatte Einweisungszettel in der Hand, auf denen die Namen der Flüchtlinge und die Aufnahmequartiere geschrieben standen. Der Bürgermeister war durch die Militärverwaltung angewiesen worden, die ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen im Dorf aufzunehmen. Die Verteilung der Flüchtlinge erfolgte unter Berücksichtigung der Größe der Flüchtlingsfamilie und den Unterbringungsmöglichkeiten der ansässigen Bauern. Die Frauen und Kinder kletterten langsam und vorsichtig von der Ladefläche des LKWs. Der Fahrer reichte das Gepäck, die Kisten, Koffer, Taschen und Säcke herunter, das die Flüchtlinge persönlich in Empfang nahmen und ablegten. Die Bauern machten sich bekannt mit den Flüchtlingen, die der Bürgermeister ihnen zugewiesen hatte, und brachten sie in die vorgesehene und vorbereitete Unterkunft.
*
Frau Solltau und ihre beiden Kinder, Hans fünf Jahre und Robert zwei Jahre alt, wurden Herrn Pfeifer, einem Großbauern, zugewiesen. Sein Knecht hatte eine große Schubkarre mitgebracht. Er war groß und kräftig. Schnell hatte er die Gepäckstücke auf die Karre gelegt. Zwei große Pappkoffer, einen Sack mit Bettwäsche, eine verpackte Nähmaschine von der Firma Singer, drei mit Kleidung gefüllte Pappkartons und ein Rucksack waren die ganze Habe, die sie aus Ostpreußen mitbrachten. Der Knecht brachte die kleine Familie zum Wohnhaus des Bauern, das sich in einem umschlossenen Hof in der Nähe des Dorfplatzes befand. Auf der einen Seite des Hofes sahen die Ankömmlinge Stallungen und einen großen Misthaufen, auf der anderen Seite Feldeggen, Pflüge, einen Kultivator und einen Leiterwagen. Der Hof war durch eine Mauer und durch ein großes Tor gesichert. Der Zugang zum Wohnhaus erfolgte über eine Steintreppe, auf der die Bäuerin, eine sehr dicke, unfreundlich blickende Frau, mit ihrer Tochter auf die kleine Familie wartete. Die Bäuerin führte sie in ein kleines Zimmer unter dem Dachboden, das auf Jahre ihre Heimstatt werden sollte. Zwei Holzbetten, mit gefüllten Strohsäcken, ein kleiner Kleiderschrank, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein kleiner, runder Eisenofen mit einer Kochfläche und eine Holzkiste für die Lagerung von Brennmaterial waren das bescheidene Mobiliar, das der Bauer zur Verfügung stellte. Eine Glühlampe erleuchtete den kleinen bescheidenen Raum. In der Nähe der Zimmertür standen auf einem Gestell eine mit Wasser gefüllte Waschschüssel und ein Blecheimer für die Notdurft. Der Knecht brachte das Gepäck ins Zimmer.
„Darf ich Ihnen noch behilflich sein?“, fragte der Knecht fürsorglich.
Frau Solltau verneinte und bedankte sich für seine angebotene Hilfe. Bevor er ging, schenkte er Hans und Robert zwei große rotbäckige Äpfel. Hans bedankte sich artig. Frau Solltau begann ihre Habseligkeiten auszupacken und in den kleinen Schrank einzuräumen. Dann richtete sie die Betten her. Die mitgebrachten weißen Laken wurden über die Strohsäcke gelegt, die Kopfkissen und Zudecken mit karierten Bezügen versehen, die sie aus Ostpreußen mitgebracht hatte.
Etwas später brachte die Bäuerin eine dünne Kartoffelsuppe und eine Blechkanne mit schwarzem, ungesüßtem Malzkaffee.
„Danke für die Fürsorge“, sagte Frau Solltau freundlich.
„Morgen müssen sie selber kochen. Vor der Tür stehen ein halber Sack mit Kartoffeln und ein halber Laib Brot“, sagte die Bäuerin herrisch. Eine menschliche Anteilnahme war der Frau nicht anzusehen.
Hans und Robert waren hungrig. Auf der Fahrt hatten sie kein Essen bekommen. Sie saßen auf den beiden Holzstühlen am kleinen Tisch und warteten, bis die Mutter die tiefen Teller halb vollfüllte. Die Suppe war so dünn, dass ein Löffel für die Einnahme der Suppe sich erübrigte. Hans trank sie mehr, als er löffelte. Robert wurde durch die Mutter beim Löffeln unterstützt. Für Frau Soltau blieb ein kärglicher Rest. Die kleine Familie war von den Anstrengungen des Tages und der langen Fahrt erschöpft. Hans und Robert schliefen sofort ein, nachdem die Mutter beide in ihr gemeinsames Bett gelegt hatte. Nachts wurde Frau Solltau durch fremde, laute Geräusche geweckt. Vor dem Hoftor standen russische Soldaten, die nach Wurst und Speck riefen. Sie rissen am verschlossenen großen Eisengittertor und drohten mit ihren Gewehren. Der Bauer lief zum Hoftor und brachte Würste. Für die Russen waren es zu wenige, die der Bauer ihnen brachte. Nach wiederholten Drohungen lief der Bauer zurück ins Haus und holte noch weitere Würste.
„Der Geizkragen, uns hat er nur eine Wassersuppe gegeben“, sagte Frau Solltau leise zu den Kindern, die vom Lärm am Hoftor wach geworden waren und vor Angst nicht mehr einschlafen konnten.
*
Am folgenden Tag meldete sich Frau Solltau mit den Kindern beim Bürgermeister. Andere Flüchtlinge waren schon hier gewesen. Sie erhielt für ihre kleine Familie Lebensmittelkarten, Milchkarten, Brotkarten, Bezugsscheine und Kohlenkarten. Die ausgewiesenen Waren konnte sie in einem Dorfladen des Nachbardorfes gegen Bezahlung erwerben, sobald das Geschäft beliefert worden war. Die festgelegten bescheidenen Rationen reichten nicht aus zum Überleben, das wusste Frau Solltau. Die Kinder kannten den Hunger. In den Flüchtlingslagern wurde gehungert. Ältere Menschen und Kinder starben in großer Anzahl geschwächt durch Hunger und Typhus. Hans und Robert waren abgemagert, die Wangen in den Gesichtern waren eingefallen, die Körper waren mager, die Beine dünn, sie wirkten äußerlich kraftlos. Frau Solltau ging von Hof zu Hof und bot den Bauern ihre Arbeitskraft für Nahrungsmittel an. Sie arbeitete, sobald sie gebraucht wurde. Die beiden Kinder waren häufig sich selbst überlassen.
„Hans, du musst auf Robert aufpassen. Er ist noch klein und braucht deine Hilfe. Du bist groß genug. Ich gehe arbeiten, damit wir etwas zu essen haben“, sagte Frau Solltau und drückte ihren „Großen“ fest an ihren ausgemergelten Körper. Hans versprach auf Robert aufzupassen. Frau Solltau streckte bei der täglichen Zubereitung der Mahlzeiten die vorhandenen Nahrungsmittel. Die Kartoffelschalen des Großbauern und buschige Brennnesseln, die an den Straßengräben wuchsen, ergänzten die bescheidenen Mahlzeiten.
Nach der Getreide-, Kartoffel- und Zuckerrübenernte wurden die Felder durch die Bauern zum Stoppeln freigegeben. Es wurden Ähren aufgesammelt, die auf den Feldern liegen geblieben waren.
Die Körner wurden mit den Händen aus den Ähren herausgedrückt, mit einer Kaffeemühle grob gemahlen und weich gekocht. Aus gestoppelten Zuckerrüben wurde Sirup gekocht. Die gestoppelten Kartoffeln, häufig sehr klein, wurden mit den Schalen gegessen. Das Fallobst der Straßenbäume wurde gesammelt, gewaschen und in Scheiben geschnitten. Diese wurden auf Fäden gezogen und getrocknet. Die Blüten der Lindenbäume wurden gepflückt, getrocknet und auf dem Kleiderschrank ausgebreitet und gelagert. Frau Solltau und die Kinder hungerten, aber verhungerten nicht. Den anderen Familien ging es ähnlich. Hunde und Katzen wurden durch die Bauern weggesperrt. Es kam vor, dass die Flüchtlinge die Katzen der Bauern fingen, schlachteten und danach verzehrten.
Das zugeteilte Brennmaterial war knapp. Frau Solltau sammelte mit Hans vertrocknete Äste im Wald, zerhackte diese an der Fundstelle zu Stücken und trug diese im Sack auf dem Rücken nach Hause. Hans sammelte Bucheckern und Haselnüsse, die er unter den Buchen und Haselnusssträuchern fand. Die öligen Kerne schmeckten und stillten für eine kurze Zeit den Hunger. Gut schmeckten auch die Walderdbeeren und Blaubeeren, die an Sträuchern am Waldrand wuchsen. Oft aß Hans unreifes Obst, das er von den herunterhängenden Ästen der Bäume am Straßengraben abgepflückt hatte. Bauchschmerzen und Durchfall machten ihm dann zu schaffen.
Die Kleidung der Dörfler war abgenutzt, hatte Löcher und Risse. Kleidung gab es im Dorfladen nicht zu kaufen. Diese wurde in geringen Mengen auf Bezugsscheinen zugeteilt. Die Bauern tauschten sich Kleidung für Lebensmittel, die sie immer hatten, ein. Frau Solltau ging zu den Bauern im Dorf und bot ihnen das Ausbessern ihrer Kleidung an. Sie hatte Näherin gelernt und nähte bis zur Flucht aus Ostpreußen Uniformen für die Wehrmacht. Die Singernähmaschine machte es möglich. Die Bauern und Landarbeiter des Dorfes nahmen das Angebot an und bezahlten ihre Dienstleistung mit Lebensmitteln. Hans brachte die ausgebesserte Kleidung zu den Bauern zurück und erhielt die von der Mutter geforderten Lebensmittel. Die Bauern bezahlten mit Milch, Eiern, Speck und Kartoffeln in kleinen Mengen. So nähte sie Flicken auf die zerschlissene und zerrissene Kleidung, kürzte und verlängerte die Ärmel der Jacken, Hosen und Hemden, besserte die Hemden aus, nähte Knöpfe an, stopfte Strümpfe und Handschuhe. Die Uniformteile der heimkehrenden Soldaten schneiderte sie zur Arbeitskleidung um. Das erforderliche Nähgarn und die Flicken erhielt sie von den Bauern. Die zusätzlichen Nahrungsmittel ermöglichten der Familie, in diesen für alle schwierigen Zeiten, zu überleben. Auf Bezugsscheinen erhielt Frau Solltau für die Kinder Holzschuhe. Die Sohlen der Schuhe waren aus Holz, der obere Teil aus Stoff gefertigt. Später gab es auf Bezugsschein Schuhe und Stiefel aus Schweinsleder und Igelit in einer zugeteilten Menge.
*
Anfang September wurde Hans eingeschult. Er erhielt von den einzuschulenden Kindern die größte Zuckertüte. Die Spitze der Tüte hatte Frau Solltau mit Packpapier gefüllt. Falläpfel, eine Umhängetasche mit einer Papptafel, Schieferstifte und einen von der Mutter gefertigten Wischlappen mit gehäkeltem Befestigungsband fand Hans in der Tüte. Sein Gesicht strahlte. Hans freute sich auf den täglichen Schulbesuch. Er wollte lesen und schreiben lernen. Die Schule war im Nachbarort. Die Kinder der ersten bis vierten Klasse wurden in einem Raum unterrichtet. Der Lehrer war ein älterer, freundlicher Mann. Die Schüler saßen auf Bänken. Jede Bankreihe hatte vier Plätze. Davor war eine Tischplatte mit leicht schräger Tischfläche und Öffnungen zum Einsetzen von Tintenfässern. Unter der Tischfläche war Platz für die Schulutensilien der Schüler.
Hier lernte Hans den ersten Buchstaben, das große A schreiben und lesen. Jeden Tag aß Hans in der großen Pause eine Scheibe trockenes Brot und einen halben Apfel. Beides hatte die Mutter in eine Wehrmachtsdose gelegt. Die Kinder der Bauern aßen dick mit Wurst belegte Frühstücksbrote. Die Spucke lief Hans im Mund zusammen.
„Lässt du mich einmal abbeißen?“, fragte Hans den „Wurstesser“, der Mops genannt wurde und neben ihm auf der Bank saß. Er verneinte schadenfroh. Hans hatte nur einen verächtlichen Blick für den Mops und drohte ihm mit der Hölle. In den Pausen standen die Flüchtlingskinder abseits von den Einheimischen und tauschten persönliche Sachen gegen ein Stück Brot. Hans hatte keine Mittel zum Tauschen. Er ging gerne in die Schule, trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die es während des Schulalltages gab. Nachdem er das ABC beherrschte, las er alles, was irgendwie lesbar war. Indianerbücher und Soldatenhefte wurden gerne gelesen und untereinander getauscht. Die Mutter kontrollierte jeden Tag seine mündlichen und schriftlichen Hausaufgaben. Die schon gebrauchte Fibel hatte er mehrmals gelesen. Hans hatte das Lesen schnell gelernt, seine gute Aussprache und Betonung wurde durch den Lehrer wiederholt gelobt. Seine Mitschüler sahen das anders.
„Hans, du buckelst bei Herrn Hedwig“, sagte Franz, sein Banknachbar, neidisch und wütend. Er trat Hans mit der Schuhsohle ins Knie. Hans wehrte sich und schlug zurück. Der Lehrer für die Pausenaufsicht trennte beide. Er erzählte abends der Mutter den Vorfall.
„Die vorgegebenen Aufgaben zu erfüllen, hat nichts mit Buckeln zu tun“, sagte die Mutter und unterstützte sein Verhalten.
„Du kannst ihm ja helfen, bis er gut lesen kann“, sagte die Mutter. „Vielleicht erhält er keine Hilfe durch seine Eltern“, vermutete sie und bereitete das bescheidene Abendessen, Kartoffeln in „Malzkaffee“ gebraten, vor.
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Frau Solltau hatte wiederholt Suchanfragen aufgegeben. Die Eltern waren mit zwei Pferden und einem mit Haushaltssachen bepackten Leiterwagen aus Ostpreußen, in Richtung Westen, geflüchtet.
Auf der Flucht
Vor der Flucht aus Ostpreußen vereinbarte Frau Solltau mit den Eltern eine Kontaktadresse. Von Tante Paula, die in Berlin wohnte, die Kontakte vermitteln sollte, hatte sie bis jetzt noch keine Nachricht erhalten. Heute jedoch war ein Brief von Tante Emma angekommen. Sie teilte mit, dass die Eltern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Grevesmühlen in Mecklenburg wohnten.
Hans freute sich. Sein Opa lebte. Jeden Tag war er in Neukirch, einem kleinen Ort in der Elchniederung, mit ihm zusammen gewesen. Im Stall oder auf dem Feld, er war immer dabei. Ohne Opa ging nichts, mit Opa ging alles. Sofort schrieb Hans den Großeltern einen Brief. Opa wird sich sehr freuen, dachte Hans, und legte einen kleinen Zettel in den Briefumschlag der Mutter.
„Lass uns zu Opa fahren“, bettelte Hans und schüttelte die Hände der Mutter.
„Der Winter steht vor der Tür. Wir besuchen Opa und Oma nächstes Jahr in den Sommerferien“, versprach die Mutter leise und streichelte Hans über den Kopf.
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Die zugeteilte Kohle hatte Hans mit der Mutter in einem vom Bauern geliehenen Sack in die Wohnung geschleppt und in die Holzkiste geschüttet. Das Brennmaterial reichte nur für eine kurze Zeit. Frau Solltau ging immer wieder in den Wald und sammelte mit anderen Flüchtlingen abgebrochene Äste und sonstiges herumliegendes trockenes Holz. Dieses zerhackte sie mit einem kleinen Beil, das ihr die Bäuerin geliehen hatte. Die Holzstücken steckte sie in einen Sack und trug diesen auf dem Rücken nach Hause. Die Bauern mussten eine vorgegebene Anzahl von Bäumen schlagen und abliefern. Die Stämme wurden mit Pferden aus dem Wald gezogen. Die abgeschlagenen Äste blieben am Platz liegen und wurden von den Flüchtlingen klein gehackt.
Hans beaufsichtige während der Abwesenheit der Mutter seinen kleinen Bruder und spielte mit ihm. Die Mutter war stolz auf ihn. Die übertragenen Aufgaben erfüllte er, ohne zu murren. Im Unterricht strengte er sich an, meldete sich auf Fragen des Lehrers und wurde wiederholt von diesem gelobt. Seinen kleinen Bruder hütete er wie seinen Augapfel. Sonntags ging die kleine Familie gemeinsam zur Kirche. Hans saß mit Robert und der Mutter immer in der ersten Reihe rechts unter der Kanzel. Der Pastor und der Kantor kamen aus dem Nachbarort. Jeden zweiten Sonntag, um vierzehn Uhr, läutete Herr Rode die Glocke zum Gottesdienst. Es kamen nur wenige Leute. Überwiegend waren es Flüchtlinge und Vertriebene, die Beistand und Hilfe suchten. Am letzten Sonntag bat der Pastor Frau Solltau und Hans bestimmte Aufgaben für die Kirche zu übernehmen.
„Der Innenraum der Kirche ist vor dem Gottesdienst zu reinigen, die bescheidene Kollekte ist einzusammeln, die Schilder für die Liedernummern sind zu stecken. Durch Hans ist der Blasebalg für die Orgel zu treten. Der Stab mit dem Jesuskreuz ist bei jeder Beerdigung zu tragen. Zu jedem Kirchgang und täglichen Feierabend ist die Glocke zu läuten“, sagte der Pastor im Beisein des Kantors. „Natürlich gegen ein Entgelt. Herr Rode, der diese Aufgaben bis jetzt erfüllte, zieht zu seiner Tochter nach Magdeburg. Ich möchte ihnen gerne diese Aufgaben übertragen“, schloss der Pastor seine Ausführungen.
Nach dem Abendessen sprach Frau Solltau mit Hans über das Angebot des Pastors. Hans war bereit, der Mutter zu helfen. Da die Kirche sich auf dem Friedhof befand, gruselte es ihn. Er hatte Angst vor den Toten in den Gräbern und den Geistern. Die Kirche hatte keine elektrische Innen- und Außenbeleuchtung. Die Treppe zum Glockenturm war sehr steil. Frau Solltau hatte vom Pastor eine Stalllaterne erhalten, deren Kerze Hans vor dem Betreten des Friedhofs, besonders im Winter, anzündete. Oben, unter dem Dach, befand sich der schwenkbare Glockenstuhl, an dem die Glocke und ein dickes Seil angebracht waren.
Hans zog das Seil nach unten, der Glockenstuhl bewegte sich. Das Geläut begann. Fünf Minuten musste geläutet werden. Gemessen wurde die Zeit mit einer Sanduhr. Nach dem Läuten verließ Hans, sich ständig umsehend und laut singend, eilig den Innenraum der Kirche. Er verschloss mit einem großen Schlüssel die Kirchentür und eilte nach Hause.
Hier wartete die Mutter.
„Das hast du gut gemacht“, lobte ihn die Mutter und streichelte Hans über seine lockigen dunklen Haare.
Von seiner Angst erzählte Hans nichts. Das Entgelt, das der Pastor der Mutter vor Weihnachten einmal jährlich auszuzahlen beabsichtigte, brauchte die kleine Familie.
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Nach der Kartoffelernte folgte die Zuckerrübenernte. Die von den Blättern getrennten Rüben wurden aufgesammelt und auf mehrere Haufen geworfen, später eingemietet oder abgeliefert. Die Sammler erhielten Geld oder Zuckerrüben für den Eigenbedarf. Frau Solltau nahm die angebotenen Zuckerrüben und kochte schmackhaften Sirup für den Brotaufstrich. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen, Kleidung und sonstigen Utensilien bestimmte weiter das tägliche Tun und die Fantasien der kleinen Familie.
*
In der Nähe des Weges zur Schule lag ein abgestürztes Jagdflugzeug. Es war für viele Kinder ein interessantes „Spielzeug“. Hans kletterte in das Flugzeug und drehte an allen noch beweglichen Teilen. In seiner Fantasie war er ein tapferer Flieger, der am Himmel den Feind besiegte.
Nach dem Unterricht durchstöberte Hans oft den Schrottplatz, der sich auch in der Nähe des Dorfes befand. Er suchte nach brauchbaren Gegenständen. Manchmal fand er nützliche Sachen für den Haushalt, die er der Mutter mitbrachte.
*
Der Winter kam dieses Jahr früher als sonst. Schneefall und Frost machten das tägliche Leben von Tag zu Tag schwieriger. Der kleine Eisenofen brachte nicht die gewünschte Wärme, der Verbrauch an Holz und Kohle war hoch. Frau Solltau heizte den Ofen nur, wenn die Mahlzeiten vorbereitet wurden. Sie froren, deshalb wurden auch in der Wohnung die Mäntel getragen. Nachts gingen Hans und Robert mit der Tageskleidung ins Bett. An Schnee- und Frosttagen fror Hans besonders an seine Füße in den Holzschuhen. Die Mutter hatte Fußlappen um seine Füße gewickelt und das Innere der Schuhe mit etwas Stroh ausgelegt. Trotzdem bildeten sich an den großen Zehen Frostbeulen. Der Schnee klebte unter den Holzsohlen und erschwerte das Gehen. Die Kinder, auch Hans, kamen nicht selten zu spät zum Unterricht. Mit ihren Schuhen trugen sie den Schnee auch in die Klassenräume, die wenig beheizt waren. Dieser taute auf und bildete unter den Schulbänken Pfützen.
Einmal wöchentlich kaufte Hans nach dem Unterricht im Auftrag der Mutter in dem einzigen Mischwarengeschäft im Dorf ein. Die Mutter hatte ihm in einer Umhängetasche eine kleine Milchkanne und eine Anzahl von selbst genähten Beuteln für die Aufnahme von Lebensmitteln und Lebensmittelkartenabschnitten sowie Geld mitgegeben. Er musste lange warten, bis er bedient wurde. Hans kaufte geringe Mengen Brot, Margarine, Zucker, vier Bonbons, Salz, ein Stück Seife, einen halben Liter Milch, zwei Kerzen und zwei Rollen Nähgarn. Die Mutter hatte die einzukaufenden Waren auf einen Zettel geschrieben, den er bei der Verkäuferin abgab. Auf dem Heimweg begegnete er oft einheimischen Kindern, denen es Spaß machte, die Kinder von Flüchtlingen zu schlagen. Nicht selten wurde Hans die Mütze vom Kopf gerissen, die Schulsachen weggenommen und diese danach ins Feld geworfen. Er wurde auf die Nase geschlagen, bis diese blutete. Der Mutter erzählte er davon nichts.
Auf dem Schrottplatz hatte er ein kleines stehendes Messer gefunden, das er in einen Lappen einwickelte und in seiner Umhängetasche versteckte. Die Kinder stellten sich wieder aggressiv vor ihm hin und rissen ihm die Mütze vom Kopf. Jetzt zückte Hans sein Messer und richtete es kreisend auf Siegfried, den Anführer der Gruppe. Die Angreifer waren überrascht und ließen ihn gehen. Hans setzte seinen Weg, die Mütze in der linken Hand, das Messer fest in seiner rechten Hand haltend, ohne weitere Händeleien fort. Zu Hause angekommen, wartete ein weiterer Auftrag auf Hans.
„Trage bitte die ausgebesserte Kleidung zu Frau Tielemann. Für die Arbeit möchte ich ein Stück Speck“, sagte Frau Solltau.
„Was bekomme ich für meine Arbeit“, fragte Hans.
„Heute Abend bekommst du Bratkartoffeln mit Speck“, war die kurze strenge Antwort der Mutter. Ohne Murren trug Hans die ausgebesserte Kleidung zu Frau Tielemann.
„Hans, was bekommt die Mutter für ihre Arbeit?“, fragte die Bäuerin.
„Ein kleines Stück Speck und drei Eier“, sagte Hans. Die Bäuerin brachte Hans die gewünschten Lebensmittel.
„Für deine Arbeit bekommst du von mir zwei Äpfel“, sagte die Bäuerin wohlwollend. „Und nimm bitte die Jacke meines Mannes mit, sie ist an den Seitentaschen ausgerissen und muss ausgebessert werden“, fügte sie an und steckte ihm noch ein Stück Brot zu.
„Danke Frau Tielemann“, sagte Hans strahlend und eilte mit dem neuen Arbeitsauftrag für die Mutter und der Vielzahl der Lebensmittel nach Hause.
Die Mutter war sehr zufrieden.
Franz Fest, sein Banknachbar, hatte die Hausaufgaben im Fach Rechnen nicht lösen können. Der Lehrer beabsichtigte, die auf einem gesonderten Blatt gelösten Aufgaben einzusammeln und zu bewerten.
„Hans, darf ich die Hausaufgaben in der Pause abschreiben?“, fragte Franz.
„Was bekomme ich von dir dafür?“, fragte Hans.
„Die Hälfte meines Frühstücksbrotes“, antwortete Franz.
„Brot mit Leberwurst?“, fragte Hans.
„Einverstanden“, sagte Franz.
Hans gab ihm das Lösungsblatt. Ab jetzt machte Hans weitere „Geschäfte“, auch mit anderen Kindern aus der Klasse. Er aß nur das halbe Frühstücksbrot, die andere Hälfte packte er für seinen Bruder ein. Über sein Verhalten hatte sich die Mutter sehr gefreut und streichelte Hans über das Gesicht.
Am Sonntagvormittag spielte Hans mit Hildegard im großen Wohnzimmer des Bauern. Sie besaß ein Reiterspiel. Es wurde gewürfelt. Die Anzahl der gewürfelten Augen erlaubten dem Spieler sein Pferd entsprechende Schritte vorzusetzen. Der Spieler hatte gewonnen, dessen Pferd als Erstes das Ziel erreichte. Die Bäuerin rief Hildegard zur Mittagsmahlzeit. Hildegard packte das Spiel zusammen und legte es weg. Hans nutzte die Gelegenheit und stahl ein Pferd aus dem Spielkasten, das er in seiner Hosentasche versteckte. Frau Solltau sah das Pferd beim Aufräumen der Spielkiste.
„Hans, woher hast du das Pferdchen“, fragte Frau Soltau neugierig.
„Das Pferdchen habe ich mir bei Hildegard genommen. Sie hat so viele davon“, antwortete Hans.
„Hat Hildegard dir das Pferdchen geschenkt?“, fragte Frau Solltau misstrauisch.
„Nein“, antwortete Hans leise.
„Du gehst jetzt zu Hildegard und bringst das Pferdchen zurück“, sagte Frau Solltau mit Bestimmtheit.
Hans drehte sich wie ein Wurm.
„Merke dir eins, wir sind keine Diebe!“, sagte die Mutter laut und konsequent.
Hans ging nach unten und klopfte an die Küchentür des Bauern. Hildegard öffnete die Tür.
„Hildegard, entschuldige bitte, ich habe das Pferdchen mitgenommen und bringe es zurück“, sagte Hans ganz leise.
Hildegard nahm das Pferdchen und schlug die Küchentür zu. Hans ging zurück zur Mutter.
Frau Solltau hatte das Sonntagsessen aufgedeckt, Kartoffelsuppe mit Speckwürfeln. Es schmeckte allen. Bis zum Gottesdienst war noch etwas Zeit. Hans las Robert Märchen aus dem Buch vor, dass ihm Frau Seits geschenkt hatte. Robert war ein aufmerksamer Zuhörer.
*
Frau Solltau hatte den Boden der Kirche gefegt und auf den Bänken Staub gewischt. Der Pastor und der Kantor waren gekommen. Der Pastor zog seinen Talar an, der Kantor prüfte die Orgel. Hans läutete die Glocke. Sieben Besucher saßen auf den Kirchenbänken, alle waren Flüchtlinge aus Pommern. Heute sprach der Pastor über die Zehn Gebote. „Du sollst nicht stehlen“, sagte der Pastor, dabei schaute er zufällig zu Hans.
„Woher weiß der Pastor, dass ich das Pferdchen gestohlen habe“, sagte er leise. Dann schaute der Pastor zu Frau Leitner.
„Du sollst nicht Ehe brechen“, predigte der Pastor weiter.
Das ist unmöglich, dachte Hans. Die Frau war für diese Sünde schon zu alt. Da irrt sich der Pastor, dachte Hans. Nach der Predigt gab der Kantor Hans ein Zeichen mit der Hand. Hans begann den Blasebalg, zu treten. Die kleine Gemeinde sang das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“. Der Gottesdienst war danach zu Ende. Hans läutete die Glocke, Frau Solltau sammelte die kleine Kollekte ein und trug den Betrag in ein kleines Buch. Sie übergab den Geldbetrag dem Pastor. Die drei verabschiedeten sich. Hans schloss die Kirche ab und ging mit der Mutter und Robert zufriedenen nach Hause.
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In der letzten Zeit war abends Stromsperre. Heute auch. Frau Solltau zündete die Kerze an und stellte sie auf einen großen Teller. Durch tropfendes Kerzenwachs wurde die Kerze auf dem Teller befestigt. Danach sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder. Die Mutter sang vor, Hans und Robert summten mit. Beiden gefiel das gemeinsame Singen und Summen. Frau Solltau gab den Kindern Bonbons und las danach weitere Märchen vor.
„Eure Haare sind zu lang, ihr seht aus wie die Räuber im Wald. Hans setze dich bitte auf den Stuhl und lege dir ein Handtuch um den Hals. Ich schneide dir zuerst die Haare“, sagte die Mutter und holte den Kamm und die Schere aus einer kleinen Schublade.
„Nicht so kurz, wie das letzte Mal“, bettelte Hans.
Die Mutter erfüllte den Wunsch und kürzte die Haare zur Zufriedenheit ihrer Kinder.
Die Kinder der Bauern gingen zum Friseur im Nachbarort oder warteten bis dieser die Bauern der Reihe nach zu Hause aufsuchte. Häufig erhielten die Kinder einen militärischen Haarschnitt. Vorn, an den Seiten und hinten kurz. Aber so rutschten die Mützen von den Köpfen, weil der Stoff keinen Halt mehr auf der glatten Oberfläche fand.
Frau Solltau bereitete nach dem Haare schneiden das Abendessen. Es gab zwei Scheiben Roggenbrot in Tee getränkt, leicht mit Zucker bestreut und warme Milch.
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In den folgenden Wochen ging die Mutter zusammen mit Robert und Frau Fettig, die aus Litauen vertrieben worden war, schon vormittags in den Wald, um Holz zu sammeln. Die Brennstoffe auf den Bezugskarten reichten alleine nicht aus. Frau Fettig hatte einen kleinen Handwagen, auf dem das zerhackte Holz in Säcken transportiert wurde.
Zwei Tage vor Weihnachten fanden die Frauen unter einer Eiche einen toten Hasen in einer ausgelegten Schlinge. Dabei war das Auslegen von Schlingen treng verboten und wurde bestraft. Frau Solltau nahm den Hasen aus der Schlinge und öffnete mit einem kleinen Messer den Balg. Sie zog ihm das Fell über die Ohren und teilte den Körper in zwei Teile. Die Fleischteile wurden in Lappen verpackt und in den Holzsäcken versteckt. Sie teilte sich das Hasenfleisch mit Frau Fettig und dachte dabei an ihre Kinder. Diese hatten schon eine lange Zeit kein Fleisch mehr gegessen. Das Fell des Hasen wurde von den beiden Frauen vergraben und die Fundstelle unkenntlich gemacht.
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Endlich war Heiligabend, die Kinder freuten sich schon lange auf die kommenden Stunden und hofften auf ein Geschenk von der Mutter. Frau Solltau hatte von Frau Seits die Spielsachen ihres Sohnes, der in Frankreich gefallen war, geschenkt bekommen. Bauklötze, Kinderbücher, ein Holzpferdchen, einen Bauernhof, aus Stoff vier Schäfchen und eine Kuh. Die Augen der Kinder strahlten, als die Mutter die Spielsachen verteilte. Hans freute sich besonders über das Holzpferdchen und die Kinderbücher. Das Hungergefühl war bei den Kindern weg. Spielen mit richtigen Spielsachen war ein lang ersehnter Wunsch von Hans. Am Heiligabend ging dieser in Erfüllung.
Zum Abendessen kochte Frau Soltau eine süße Milchsuppe mit Mehlklunkern, es gab dazu eine dünn mit Margarine bestrichene Scheibe Brot. Die Mutter zündete eine Kerze am selbst gefertigten Weihnachtsbaum an. Der Fuß des Baumes steckte in einer runden beschädigten Topfkuchenform, die Hans auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Die Form hatte die Mutter mit Kohlenstücken beschwert. Der kleine Baum stand fest und fiel nicht um. Gemeinsam sangen sie das Lied „Ihr Kinderlein kommet“. Die Augen von Hans und Robert leuchteten.