Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book)

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Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book)
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa



Detlev Vogel, Ursula Frischknecht-Tobler (Hrsg.)

Achtsamkeit in Schule und Bildung

Tagungsband

ISBN Print: 978-3-0355-1491-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-1492-6

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

Einführung

Detlev Vogel

Über dieses Buch

Ursula Frischknecht-Tobler

Kultivierung des Bewusstseins – Bildungsaufgabe für das 21. Jahrhundert

Harald Walach

Achtsamkeit in Schule und Lehrerinnen- und Lehrerbildung

Susanne Krämer

Achtsamkeit – Schlüssel für einen wirkungsvollen Umgang mit Stress

Regula Nussbaumer

Selbstmitgefühl

Ursula Frischknecht-Tobler, Gandhera Brechbühl und Toni Bieri

Bildung und Achtsamkeit

Vera Kaltwasser

Kreativ spielen – eine kindgemässe Form von Achtsamkeit

Heleana Jehle

Von der Weisheit der Schildkröte − Fokussierung und Entschleunigung durch Achtsamkeit

Gabriela Pocsai

Welche Farbe hat die Stille? Musik erfahren in der Achtsamkeit

Elisabeth Karrer

Körper und Gefühle im Dialog – Papperla PEP

Thea Rytz

Achtsamkeit in und mit der Natur

Barbara Gugerli-Dolder und Ursula Frischknecht-Tobler

Impulse für Achtsamkeit und Stille in der Primarschule

Christoph Simma

Sara auf dem Weg zu Impulskontrolle und Emotionsregulation – Achtsamkeit als heilpädagogische Praxis

Claudia Tomasi

Achtsamkeit im Schulalltag

Vera Isabella Renggli

BINJA – eine achtsame Reise durch die Welt der Gefühle

Ruth Monstein

Achtsamkeit und Mitgefühl in der Schule

Dominik Weghaupt

Achtsame Unterrichtseinstiege in der Sekundarstufe II

Manuela Köstner und Felix Rengstorf

SEE-Learning – ein Curriculum zur Bildung des Herzens

Silvia Wiesmann und Gabriel Roth

Einblicke in die Panyaden International School Chiang Mai in Thailand

Sabina Poulsen

Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung? Ein Überblick zum Forschungsstand und Ergebnisse eigener Forschung.

Detlev Vogel

Kommunikation und Achtsamkeit in Schule und Lehrerinnen- und Lehrerbildung

Susanne Krämer

Achtsamkeit als Ressource im Lehrberuf: Balance von Engagement und Distanz

Ingrid Busch und Anita Sandmeier

Achtsamkeit − eine Ressource für Schulteams

Claudia Suter

Anhang

Autorinnen und Autoren

EINFÜHRUNG

Detlev Vogel

«Man muss trotz der vielen Menschen, der vielen Fragen, des vielseitigen Studiums immer eine grosse Stille in sich mitnehmen, wohin man sich immer zurückziehen kann, auch inmitten des schlimmsten Gewühls und mitten im tiefsten Gespräch. [… Das] ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: in uns selber grosse Flächen urbar [zu] machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe. So kann man die Ruhe auf andere ausstrahlen. … Je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt.»

Diese Sentenz von Etty Hillesum, einer jungen jüdischen Psychologin in Amsterdam von 1943 zeigt, dass die Themen «innere Stille» und «Achtsamkeit» keine kurzlebige Mode sind, sondern dass dahinter ein tiefes Bedürfnis, ja eine menschliche Notwendigkeit steht – gerade in schwierigen Zeiten und auch unter widrigsten Umständen.

Vor etwa sechs Jahren gründete eine Handvoll am Thema interessierte Kolleginnen und Kollegen aus der Volksschule und von Pädagogischen Hochschulen der Schweiz das Netzwerk Achtsamkeit in der Schule. Die ersten Treffen fanden an der PH Zürich statt. Es entstand ein lockerer Verbund, in dem halbjährlich Praxis- und Forschungsideen und -projekte vorgestellt wurden. Seit einigen Jahren finden diese Treffen meist an der PH Luzern statt. Aus diesem Netzwerk ist die Arbeitsgruppe «Achtsamkeit in Schule und Bildung» der Schweizer Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (SGL) hervorgegangen und es bildete sich ein Organisationskomitee zur Vorbereitung der Tagung am 10. März 2018 an der PH Luzern. Die Resonanz auf die Tagung war unerwartet gross – es nahmen 300 Personen teil.

In der Schweiz gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die Achtsamkeit nutzen, um nach einem turbulenten Tag «runterzukommen», d. h. nach einem Tag mit unzähligen, z. T. nicht nur einfachen Interaktionen wieder «zu sich» zu kommen, sich selbst wahrzunehmen. Andere bereiten sich mit einer Achtsamkeitsmeditation auf den Schultag vor. In MBSR-Kursen (Mindfulness-based Stress Reduction) ist der Anteil von Lehrpersonen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern besonders hoch. Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Schülerinnen und Schülern Achtsamkeitsübungen im Unterricht machen, um deren Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle zu stärken – zu den Wirkungen solcher Übungen siehe die Beiträge von Harald Walach und Susanne Krämer. Als Teil der Gesundheitsvorsorge werden an vielen Orten Achtsamkeitskurse im Rahmen der Weiterbildung für Lehrpersonen angeboten. An mehreren Pädagogischen Hochschulen werden Module für Studierende ausgeschrieben, in denen sie Achtsamkeit kennenlernen, auch um besser mit dem z. T. erheblichen Studienstress umzugehen. Verschiedene dieser Module wurden auch evaluiert. Im Weiteren entstehen mehr und mehr offene Angebote wie «Achtsamkeit am Mittag» für Mitarbeitende und Studierende, um gemeinsam zu meditieren und zur Ruhe zu kommen. Schliesslich steigt die Zahl von Studierenden, die ihre Bachelor- und Masterarbeiten zum Thema Achtsamkeit in der Schule schreiben.

Welches Potenzial Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hat, zeigen zwei Aussagen von Studierenden:

«Die Achtsamkeitsübungen halfen mir sehr und meine Praxislehrperson meinte sogar, ich unterrichte nun mit einer ruhigen und fokussieren Art, was mich sehr freute.»

«Seitdem ich angefangen habe, die Achtsamkeitsübungen regelmässig durchzuführen, fühle ich mich gelassener und entspannter, ich schlafe besser und erledige Dinge gewissenhafter. Mir wurde klar, wie viel Lebensqualität ich durch dieses bewusstere Leben zurückgewonnen habe. Auch habe ich mich besser kennengelernt. All diese Erkenntnisse machen mich sehr glücklich.»

Wenn Achtsamkeit zunehmend in der Schule genutzt wird, scheint es besonders wichtig, dass sie nicht als Mittel «missbraucht» wird, um unkonzentrierte und verhaltensauffällige Kinder zu beruhigen. Wenn die Übungen dazu beitragen, dass sie ihre Impulse besser steuern können und sich besser konzentrieren können, ist das gut, aber im Grunde eher eine «Nebenwirkung».

Im Kern geht es darum, dass Kinder in sich einen Raum finden und pflegen, in dem sie in jeder Situation Stille, Frieden und Zuversicht erleben können. Wenn sie diesen inneren Ort als Kind kennenlernen, wird er ihnen ein Leben lang helfen – besonders dann, wenn äusserlich nicht alles rund läuft. Achtsamkeit leistet insofern auch einen wichtigen Beitrag zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

In einem Schulsystem, das zu einem Grossteil auf Leistung ausgerichtet ist, ist die Vermittlung von menschlichen Werten und sozial-emotionaler Kompetenz essenziell. Dieser Aspekt erhält durch den neuen Lehrplan 21 (ein derzeit in der Einführung begriffener, verbindlicher Lehrplan für alle 21 Deutschschweizer Kantone) einen grösseren Stellenwert, aber die Umsetzung erfordert im Grunde eine wirkliche Transformation unserer Schulkultur. Gebraucht wird der Mut, wirklich neu zu denken und die gewohnten Bahnen zu verlassen. Die Probleme von heute können nicht durch Optimierung der Methoden und Strukturen gelöst werden, die genau diese Probleme verursacht haben. Hier kann Schulentwicklung auf Grundlage von Achtsamkeit ein Weg sein.

 

Voraussetzung für einen Wandel im Grossen ist die Entscheidung jedes Einzelnen, etwas zu ändern, seine Haltung dem Leben gegenüber zu verändern. Die folgende kleine Geschichte bringt dies in schönen Worten zum Ausdruck:

Ein alter Tscherokese sass mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Da sprach der Alte nach einer Weile des Schweigens: «Weisst du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist ungeduldig, aufbrausend und aggressiv. Der andere dagegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.» Und dann fügte er hinzu: «Derselbe Kampf tobt auch in deinem Inneren – und im Inneren aller anderen Menschen.». Der Enkel dachte eine Weile darüber nach. Dann fragte er: «Grossvater, welcher der beiden aber wird den Kampf um dein Herz gewinnen?» Da antwortete ihm der alte Tscherokese: «Der Wolf, den ich füttere.»

Die Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von verschiedenen Seiten. Folgende Institutionen haben einen massgeblichen Beitrag zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen:

Stiftung Suzanne und Hans Biäsch zur Förderung der Angewandten Psychologie, Zürich.

Schweizer Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (SGL)

MBSR-Dachverband Schweiz

Pädagogische Hochschule Luzern

Ganz besonders ist dem Organisationskomitee zu danken, das die Tagung initiiert und konzeptionell und inhaltlich gestaltet hat: Adriana Büchler, Pädagogische Hochschule St. Gallen; Toni Bieri, MBSR-Lehrer, Willisau; Ingrid Busch, Pädagogische Hochschule Schwyz; Regula Nussbaumer, Pädagogische Hochschule Zürich; Claudia Suter, Pädagogische Hochschule der FHNW sowie Ursula Frischknecht-Tobler, Co-Präsidentin des MBSR-Verbandes, ehemals Pädagogische Hochschule St. Gallen. Organisatorisch hatte Janine Wigger alle Fäden in der Hand, sie leitet das Zentrum für Event- und Publikationsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Luzern – ihr gebührt ein ganz besonderes Dankeschön!

ÜBER DIESES BUCH

Ursula Frischknecht-Tobler

«Der ‹Lehrplan› dieses Abenteuers, das wir Leben nennen und in dem Achtsamkeit eine solche zentrale Rolle spielen kann, ist immer das, was sich in diesem Moment entfaltet – ob wir das, was geschieht, nun mögen oder nicht» Kabat-Zinn 2013, S. 127

Wer dieses Buch zur Hand nimmt wird sich vielleicht im Inhaltsverzeichnis über diejenigen Themen orientieren, die für die eigene Lebens- oder Unterrichtssituation relevant sind. Das ist auch völlig in Ordnung so, denn dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, einen umfassenden Überblick über das Thema Achtsamkeit in Schule und Bildung zu geben, sondern widerspiegelt vielmehr eine Momentaufnahme, die die gleichnamige Tagung im März 2018 an der PH Luzern den Teilnehmenden an Referaten und Workshops geboten hat. Sie zeigt eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie Achtsamkeit im Bildungsbereich im Begriff ist Einzug zu halten, genauso wie in anderen gesellschaftlichen Feldern wie Gesundheitswesen, Unternehmen oder Politik.

Alle AutorInnen und ReferentInnen zeigen aus ihren Erfahrungsbereichen und ihrem Verständnis von Achtsamkeit Wege auf, wie Achtsamkeit in Forschung, Lehrerpersonenbildung, Weiterbildung und in allen Stufen der obligatorischen und weiterführenden Schulen, ja auch im Kindergarten und in der Heilpädagogik wirksam werden kann.

Achtsamkeit und Mitgefühl sollten in unserer Gesellschaft so selbstverständlich werden wie Zähneputzen, brachte es der Hauptreferent Harald Walach zum Ausdruck. Er spricht von geistiger Hygiene oder der Kultivierung des Bewusstseins, die der Zerstreuung und der Ablenkung entgegenwirken kann. So wie fast alle Beteiligten strich er die Bedeutung einer regelmässigen Achtsamkeitspraxis, der Sammlung des eigenen Geistes hervor, um schliesslich authentisch und glaubhaft Kinder und Jugendliche an die Achtsamkeit heranzuführen. Susanne Krämer spannte den Bogen von den Herausforderungen der heutigen Bildungswelt und dem zunehmenden Stress auch in der Schule zu einer Kultur des gesundheits- und lebensförderlichen Miteinander. Die von ihr zitierte Forschung erhellt die positiven Wirkungen von verschiedenen bereits erprobten Achtsamkeitsprogrammen auf Kinder und Jugendliche im medizinischpsychologischen, im sozialen und im kognitiven Bereich. Für Lehrerinnen und Lehrer wirkt sich die eigene Praxis insofern positiv aus, als sie z. B. weniger Angst vor Misserfolgen und weniger Anfälligkeit für Depression zeigen. Die Erholungsfähigkeit steigt und damit steigen auch Ausgeglichenheit und Wohlbefinden, was wiederum der emotionalen Erschöpfung und dem Burnout entgegenwirkt.

In vielen Workshops wird deutlich, dass es auch ohne Stress in der Schule geht, wenn man beginnt, die Schule noch viel stärker als heute als Ort der Gemeinschaft und des sozial-emotionalen Lernens zu betrachten, wozu der Lehrplan 21 mit der Betonung der überfachlichen Kompetenzen eine gute Grundlage bildet. Dazu bräuchte es allerdings bereits in der Ausbildung von Lehrpersonen neben der soliden Vermittlung von (Welt-)Wissen und didaktischen Kompetenzen – sozusagen dem äusseren Lernen − die Ausrichtung auf Qualitäten wie Aufmerksamkeit, Verständnis, Mitgefühl, Intention (statt Erwartung), das Beachten eigener Grenzen, Selbstfürsorge und eine achtsame Sprache im Miteinander der alltäglichen professionellen Beziehungen. Das sind gerade nicht die Qualitäten, die in unserer Leistungsgesellschaft im Vordergrund stehen. Daniel Rechtschaffen ermutigt uns in seinem Buch «Die achtsame Schule» zu einer «achtsamen Revolution des Schulsystems», die das richtige Umfeld schafft, um diesem inneren Lernen Raum zu geben, damit Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrpersonen «nicht den Notausgang suchen müssen» (Rechtschaffen, 2015, S. 46). Die Workshops zeigten eine ganze Palette von Möglichkeiten auf, wie das geschehen kann: das vertiefende, unstrukturierte kindliche Spiel fördern, die Körperwahrnehmung üben, in der Natur Klarheit und festen Stand erfahren, altersgemässe Stille- und Aufmerksamkeitsübungen in die Klasse tragen, Geschichten erzählen, die zur Emotionsregulierung beitragen, die Bandbreite der Gefühle kennenlernen und in Dialog mit dem Körper treten lassen, mit Introspektion zur Akzeptanz finden, das Herz in Mitgefühl für sich und andere öffnen oder gar als ganze Schule den Weg der Achtsamkeit beschreiten. Lassen Sie sich inspirieren von der kreativen Palette, die Sie in diesem Buch vorfinden!

Und wenn Sie etwas gefunden haben, was Ihnen zusagt, dann ermutige ich Sie, aus den Haltungen, die durch Achtsamkeit gefördert werden, den Anfängergeist immer im Vordergrund zu behalten, damit die ersten Schwierigkeiten nicht zum Aufgeben führen. Mit Anfängergeist meine ich das Hier und Jetzt, ohne die Störung durch Gedanken, vorgefasste Meinungen, Interpretationen und Bewertungen. Es ist der Moment, in dem Frische, Neugier und Kreativität möglich sind. An den Anfängergeist können wir uns immer wieder erinnern, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen, und unser Wissen uns nicht weiterbringt. Wenn wir als Anfänger und Anfängerinnen einer neuen Erfahrung auf diese Weise begegnen, dann werden wir unseren Geist weit machen und die Offenheit nicht verlieren, die uns ermöglicht, unsere Sinne immer wieder auf das Neue einzustimmen, auf das Wunder dieses und des nächsten Augenblicks, auf Veränderung und Wandel. Mögen wir alle den Anfängergeist in unserem Beruf, in unseren Begegnungen und in unserer Praxis pflegen und in jede Erfahrung den frischen Blick und unser authentisches Sein hineinbringen!

KULTIVIERUNG DES BEWUSSTSEINS – BILDUNGSAUFGABE FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT

Harald Walach

Unser Bildungssystem in Schule und Hochschule ist zweifellos leistungsfähig, wenn es um die Heranbildung des Intellekts und der Vermittlung von Wissen geht. Das sieht man daran, dass das System Fachleute hervorbringt, die in der Lage sind, in unserer komplexen Welt gekonnt zu handeln, Neues zu erfinden und insgesamt unser Leben immer komfortabler und sorgenfreier zu machen, zumindest in materieller Hinsicht. Mir scheint aber, dass das Bildungssystem recht unvorbereitet ist, wenn es darum geht, jungen Menschen die Ressourcen zu vermitteln, die sie brauchen, um in einer Welt voller Informationsüberflutung, schneller Taktung, hoher Anforderung an Unterscheidungsfähigkeit und soziale Kompetenz gut zurechtzukommen. Das verwundert niemand, denn in aller Regel sind komplexe soziale Systeme langsamer in ihrer Entwicklung als die Veränderungen der Umwelt, da sie vor allem darauf ausgelegt sind, Veränderungen zu absorbieren. Erst wenn das nicht mehr möglich ist, passen sie sich selbst an und das System selbst verändert sich (Capra & Luisi, 2014; Luhmann, 1984). Ein solcher Punkt, an dem sich das Bildungssystem selbst verändern muss, scheint mir gekommen zu sein, und ich will hier kurz skizzieren, wie ich diese Veränderung sehe, warum sie nötig ist, und worauf sie hinauslaufen könnte.

Ich diskutiere diese Veränderung des Systems unter der Überschrift «Kultivierung des Bewusstseins». Dies ist ein ungewöhnlicher Begriff und daher erklärungsbedürftig.

Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Wenden wir uns zunächst dem Begriff «Bewusstsein» zu. Ich lehne mich an die Definition an, die Franz Brentano (1838−1917), einer der Gründerväter der deutschen Psychologie, gegeben hat und die die Entwicklung der Kognitionsforschung massgeblich beeinflusst hat (Brentano, 1982; Davis, Gillet, & Kozma, 2015; Guttmann, 2002). Bewusstsein ist die Fähigkeit eines Systems, sich zu eigenen Inhalten und Prozessen ins Verhältnis zu setzen, diese also intern zu repräsentieren, zu bewerten, zu wählen. Das gilt auch für die Aufmerksamkeit, die ein Mensch etwa auf einen Inhalt richtet, sie lässt sich deshalb in diese Definition als mitgemeint integrieren. Die komplexe philosophische Frage, ob Bewusstsein im Menschen allein durch neurologische Prozesse verstehbar ist oder nicht, klammern wir hier aus. Ich selbst bin der Meinung, dass das nicht möglich ist, wie ich an verschiedenen Stellen ausgeführt habe (Walach, 2007, 2014), ganz einfach deswegen, weil es sich bei Bewusstseinsprozessen und bei neuronal-materiellen Prozessen um kategorial unterschiedliche Vorgänge handelt. Ich schliesse mich hier der Argumentation von Hoche, Chalmers und anderen an (Chalmers, 1996; Hoche, 2008; Noë, 2009). William James (1842−1910), der Gründungsvater der amerikanischen Psychologie und Zeitgenosse von Franz Brentano, hat sehr genau gesehen, dass das Bewusstsein die zentrale Funktion des Menschen ist. Daher hat er gesagt, Psychologie könne definiert werden als die «Wissenschaft vom Bewusstsein als solchem» (James, 1984). Brentano hat ganz ähnlich formuliert: «Wo Bewusstsein ist, dort beginnt die Psychologie» (Brentano, 1895). William James wies darauf hin, dass das Bewusstsein einem Strom von immer wechselnden Inhalten gleicht, auf die wir zugreifen können, indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Daher ist für ihn die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu richten, zu bündeln und zu halten, eine der zentralsten Fähigkeiten des Menschen und Bildungsaufgabe für die Pädagogik schlechthin. James drückte es so aus: «The faculty of voluntarily bringing back a wandering attention, over and over again, is the very root of judgment, character and will. … An education which should improve this faculty would be the education par excellence. But it is easier to define this ideal than to give practical directions for bringing it about. – Die Fähigkeit, eine wandernde Aufmerksamkeit willentlich zurückzuholen, immer wieder, ist die Grundlage von Urteilskraft, Charakter und Wille. … Eine Erziehung, die diese Fähigkeit verbessern würde, wäre die Erziehung schlechthin. Aber es ist einfacher, dieses Ideal zu definieren, als praktische Hinweise zu seiner Umsetzung zu geben» (James, 1981, S. 424). Implizit in dieser Diskussion ist auch das Verständnis, das durch die Neurowissenschaft unserer Tage bestätigt wird, dass eine Vielzahl von internen Prozessen der Wahrnehmung, des Wünschens und Vermeidens, des Bewertens und der Kategorisierung in unserem Geist ablaufen, deren wir uns nicht bewusst sind, weil sie zu rasch ablaufen und weil unsere wachbewusste Zugriffsmöglichkeit beschränkt ist (Berner, 2002; Kihlstrom, Barnhardt, & Tartaryn, 1992). Unser Bewusstsein gleicht nämlich einem Flaschenhals von endlichen Möglichkeiten dessen, was wir bewusst vor unserem inneren Auge halten können (Slagter et al., 2007). Dieses Verständnis von Bewusstsein geht also von einer bewusstseinsfähigen, aber nicht immer bewussten Basis kognitiver und emotionaler Prozesse aus. Wir sind uns beispielsweise nicht immer und jederzeit unserer Zehen bewusst, einfach deshalb, weil es nicht immer nötig ist und weil meistens andere Inhalte unsere Aufmerksamkeit fordern. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit bewusst darauf richten und spüren dann die Temperatur in unseren Zehen, ob sie bequem im Schuh ruhen oder nicht, ob wir alle fünf Zehen spüren können oder nur manche usw.

 

Daher ist eine zentrale Aufgabe jedes Bildungssystems die Schulung der Fähigkeit, aufmerksam zu sein und diese Aufmerksamkeit für eine bestimmte, idealerweise selbstgewählte Zeit auf einen Inhalt zu richten. Denn Aufmerksamkeit ist die Basis für andere wichtige kognitive Prozesse wie etwa Gedächtnis, Bewerten und Kategorisieren, also das Verknüpfen mit anderen wichtigen Inhalten. Aufmerksamkeit und die Fähigkeit der inneren Wahrnehmung von emotionalen Zuständen – Gefühlstörungen, Affektzustände, Körpersensationen – sind auch die Basis für die Regulation von Emotionen und für Impulssteuerung und Handlungskontrolle (Jha, Krompinger, & Baime, 2007; Jha, Stanley, Kiyonaga, Wong, & Gelfand, 2010; Stadtmüller & Gordon, 2011). Ohne die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken, sind Impulskontrolle und Handlungsfähigkeiten beeinträchtigt. Das können Menschen bezeugen, die mit Kindern zu tun haben, die das Etikett «Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom» verpasst bekommen haben. Vielleicht ist es eine der Signaturen unserer postmodernen Zeit, dass die Zahl solcher Kinder zunimmt, auch wenn man steigenden Inzidenzziffern in diesem Bereich gegenüber skeptisch bleiben muss (Boyle et al., 2011). Denn die vermeintliche Möglichkeit der pharmakologischen Behandlung erzeugt auch das Bedürfnis nach Diagnose und führt leicht zur Überdiagnostik, auch wenn diese medikamentöse Behandlungsmöglichkeit langfristig nachweislich weniger wirksam ist, als viele meinen (Gøtzsche, 2015; Jensen et al., 2007).

Die allgemeine Kultur der Zerstreuung

Überlegen wir uns, in welcher Hinsicht unser Bildungssystem Kindern und Jugendlichen aktiv die Fähigkeit vermittelt, mit ihrem Bewusstsein und dessen Ressourcen gezielt umzugehen, sie darin zu schulen und fürs Leben vorzubereiten, so merken wir rasch, dass dies allenfalls implizit geschieht: durch die generische Anforderung, sich in Klassenstunden, bei Übungen, Haus- und Prüfungsaufgaben über einen längeren Zeitraum einer Sache zu widmen. Das setzt die Fähigkeit der Aufmerksamkeitsbündelung eigentlich voraus als eine Fertigkeit, die die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Familie mitbringen sollten, so wie sie die Fähigkeit der körperlichen Sauberkeit und Hygiene mitbringen. Was aber, wenn Kinder diese Fähigkeiten eben nicht mehr mitbringen, weil sie beispielsweise durch die allgegenwärtige Kultur der Informationsüberflutung im Fernsehen, Radio, mit elektronischen Medien gar nicht mehr gewohnt sind ihre Aufmerksamkeit länger auf einen Inhalt zu richten oder sich zu einer Sache zu motivieren? Innerhalb einer Generation wurden unsere Gesellschaften mit dermassen vielen Möglichkeiten der Zerstreuung überflutet und die natürlichen Ruhepunkte und Schulungsmöglichkeiten der Aufmerksamkeit genommen, die für Generationen selbstverständlich waren – die Zwielichtphase am Abend, in der man nicht mehr arbeiten konnte und musste, aber auch noch keiner anderen Betätigung nachgehen konnte; die sonntägliche Ruhepause, die zu einer gewissen Temporeduktion zwang; die eher langsame Informationsbeschaffung durch direkte Kommunikation im Gespräch oder durch Lesen; die Notwendigkeit, sich durch Imagination an Orte zu versetzen, von denen man gehört oder gelesen hatte, und die dort geschilderten Handlungen nachzuvollziehen; die Notwendigkeit, sich räumlich zu orientieren, sich Wege und Landmarkierungen zu merken. Und das sind nur einige Beispiele.

Daraus folgt einigermassen zwingend: Das Bildungssystem – eigentlich angefangen mit dem Kindergarten – muss diese Grundfähigkeiten des Bewusstseins schulen: Aufmerksamkeit, Präsenz, Verweilenkönnen, Imagination und Vorstellungskraft, Wählenkönnen und innerliches Dranbleiben. Dies fasse ich als Gegenpol zu unserer allgemein verbreiteten Kultur der Zerstreuung unter dem Begriff der «Kultur» oder «Kultivierung des Bewusstseins».

Die Kultur der Zerstreuung zeigt sich aber in einer weiteren, für das menschliche Bewusstsein fatalen Facette: Durch die hohe Anforderung der Informationsfülle, die auf uns hereinströmt, scheint immer mehr in immer kürzerer Zeit zu bewältigen zu sein. Waren früher etwa Nachrichten im Fernsehen gesprochene Texte der Information mit Bildausschnitten illustriert, sieht man heute nicht selten Bilder, die mit Texten von davon unabhängigen Meldungen als «Nachrichtenticker» unterlegt sind, und womöglich noch den Verlauf der Aktienkurse in einem dritten Fenster. Implizit werden wir durch diese und andere Situationen – Lautsprecherbotschaften oder Radiomusik im Einkaufszentrum, Fernsehen und Radio als Hintergrund in allen möglichen Situationen – dazu aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit aufzuteilen. Das ist unter dem Titel «Multitasking» sogar mittlerweile populär. Wir denken, weil wir Maschinen entwickelt haben, die das anscheinend können, müssten wir das auch tun. Allerdings vergessen wir dabei: Die von uns entwickelten Computer können gar nicht wirklich Multitasking betreiben, genauso wenig wie wir. Vielmehr handelt es sich dabei um ein «Multiswitching», also ein schnelles Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Prozessen. Einen Computerprozessor kann man so programmieren, dass er partitioniert wird und in jeder dieser Partitionen unterschiedliche Prozesse laufen, auf die der Hauptprozessor dann in so raschem Wechsel zugreift, dass es für uns den Anschein der Parallelität hat. Auch unser Bewusstsein kann nicht mehrere bewusste Prozesse parallel ausführen. Vielmehr muss unser kognitives System von einem zum anderen Prozess springen und währenddessen den vorherigen anhalten und im Arbeitsgedächtnis bewahren, um darauf zurückkommen zu können. Das ist insgesamt aufwendiger und dauert länger, als wenn die Prozesse nacheinander ablaufen würden. Die kognitive Psychologie kennt das unter dem Titel «switching costs», die Kosten des Umschaltens (American Psychological Association, 2006; Rubinstein, Meyer, & Evans, 2001). Wir kennen das aus unserer Alltagserfahrung: Wir können, wenn wir eine Handlung sehr gut gelernt haben, so dass sie automatisch ablaufen kann – sog. überlernte Tätigkeiten wie Autofahren, Radfahren, Gehen – durchaus gehen, Autofahren, Radfahren und dabei mit jemandem eine sinnvolle Unterhaltung führen. Aber sobald der Weg anspruchsvoll wird, etwa im Gebirge, oder potenziell gefährliche Situationen auf der Strasse auftauchen, erlischt das Gespräch, weil wir uns voll auf die Situation konzentrieren müssen. Desgleichen merken wir oft, dass uns Information entgeht, wenn wir beispielsweise während eines Gesprächs in Gedanken abschweifen oder de facto uns einer anderen Informationsquelle zuwenden, z. B. rasch nach einer E-Mail schauen.

Unser Alltagsleben macht derartige Ablenkungen, Reizüberflutungen und Zerstreuungen zum Normalzustand; wir haben uns so daran gewöhnt, dass uns die Absurdität vieler Situationen gar nicht mehr auffällt. Aus Sicht unseres Bewusstseins und unserer menschlichen Fähigkeiten ist diese Situation fatal. Sie führt nämlich nicht nur dazu, dass die Endergebnisse anfälliger für Fehler werden – denken wir etwa an jenes Zugunglück in Bayern vor nicht allzu langer Zeit, das deshalb geschah, weil der zuständige Fahrdienstleiter im Stellwerk gerade mit einem Computerspiel beschäftigt war und einige Hinweise übersehen hatte –, sondern auch dazu, dass wir ineffizienter werden, ausgelaugter und unzufriedener mit unserem Leben.

Wo, wenn nicht im Bildungssystem, sollen unsere Kinder und Jugendlichen lernen, mit dieser Situation umzugehen und ihre Bewusstseinsressourcen so einzusetzen, dass sie im Alltagsleben effizient und glücklich werden? Das gehört für mich zu einer Kultivierung des Bewusstseins.

Die Überbetonung des Narrativ-Sequenziellen und der Verlust der Imagination

Der englische Autor, Psychiater und ehemalige Oxforder Gelehrte Iain McGilchrist hat unlängst in einem monumentalen Zugriff eine für unser Thema wichtige kulturhistorische Entwicklung deutlich gemacht: Unsere gesamte moderne westliche Kultur kann gesehen werden als dominiert durch einen ganz bestimmten intellektuellen Stil, der die sequenzielllogische, algorithmische und narrative Deutung der Welt begünstigt und der auch der Arbeitsweise unserer Computer zugrunde liegt (McGilchrist, 2009). Es ist dies der kognitive Stil der dominanten Hemisphäre in unserem Gehirn, bei Rechtshändern ist es die linke. Denn nur sie ermöglicht es, uns sprachlich-begrifflich zu äussern, logisch zu analysieren, kausale Zuordnungen zu treffen und Dingen Prädikate zuzuschreiben. Eigentlich, so McGilchrists These, ist aber die rechte Hemisphäre, die viel stärker in Bildern operiert, netzwerkartig Sinnstrukturen und Muster verknüpft und erkennt, die für unser Leben und für ein glückliches Erfahren wichtigere. Denn in ihr erfolgt die Verknüpfung unserer biografischen Erfahrung – unseres Selbstgefühls, unseres nicht notwendigerweise explizierbaren Wissensfundus, unserer Lebenserfahrung – mit momentanen Anforderungen. Weil sie keine sprachlich-präzisen Äusserungen treffen kann, sondern eben durch Bilder und Gefühlstönung operiert, darum benötigt sie die linke Hemisphäre, gleichsam als Exekutive. Allerdings ist die rechte Hemisphäre eigentlich die zentralere Instanz. McGilchrist liest unsere Kulturgeschichte als eine heimliche Übernahme nicht nur der Ausführungs- sondern auch der Definitionsmacht durch die an sich nachgeordnete linke Hemisphäre. Daher auch der Titel des Buches von McGilchrist, «Der Herr und sein Gesandter – The Master and his Emissary». Bildhaft wird die Geschichte illustriert durch jene orientalische Erzählung von einem König, der gerne gutes Essen hatte und daher einen guten Koch beschäftigte. Als er seinen Koch für seine gute Arbeit belobigen wollte, fragte er ihn, ob er ihm einen Gefallen tun könne. Der Koch erbat sich als Gunst, für einen Tag König sein zu können. Das bewilligte der König gern. Als der Koch nun für einen Tag König wurde, setzte er als Erstes den eigentlichen König ab, liess ihn köpfen und machte sich selbst zum König.