Kreuzberger Leichen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Kreuzberger Leichen
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Dieter Hombach

Kreuzberger Leichen

Kriminalroman


Zum Buch

Kalter Tod Kommissar Hartenfels und sein Team sollen herausfinden, was es mit dem Toten vom Viktoriapark auf sich hat. Wie in jedem Team müssen unterschiedliche Menschen ihre Stärken und Schwächen zusammenbringen. Da gibt es den Gerichtsmediziner Petersen, der durch seinen Hang zu esoterischen Spekulationen immer wieder für Aufregung sorgt. Besonders bei Krämer, dem Dienstältesten, der auch so schon Bluthochdruck hat und außerdem eine Vorliebe für gutes Essen, weshalb er immer knapp bei Kasse ist. Neben ihm wirkt die Verhörspezialistin Unger, lange blonde Haare und zierliche Gestalt, wie ein magersüchtiger Engel, doch wer sie deshalb unterschätzt, hat schon verloren. Ihre Kollegin Reschke ist für Tatortfotografie zuständig, kann jede Leiche lebendig machen, treibt Kampfsport und bewundert Helmut Newtons Frauenbilder. Und dann ist da noch Neuzugang Baumann, der Hintergründe recherchiert, Berichte schreibt und alle mit seinen Ansichten zu Recht und Ordnung in Gefahr bringt.

Dieter Hombach, geboren 1953 in Köln, lebt seit 40 Jahren in Berlin. Der promovierte Philosoph arbeitete in der Geschäftsführung eines Medienbeobachtungsunternehmens und führte gemeinsam mit seiner Frau 17 Jahre eine eigene Buchhandlung. Er liebt Hard-Rock-Konzerte, Hunde und reist immer wieder nach Asien, Australien und Brandenburg. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte er bereits mehrere Kriminalromane.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © derProjektor / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6926-8

1. Kapitel

Hartenfels tritt aus der Haustür und wird fast überfahren. Der Mann am Lenkrad des Schneeräumfahrzeugs scheint an einer Rallye teilzunehmen, Hartenfels sieht ihm voller Bewunderung nach.

Der driftet doch, denkt er, anders ist eine solche Kurventechnik nicht zu erklären.

Das kleine Ding mit der großen Bürste schlingert um Laternen und Bäume, vollzieht 180-Grad-Wendungen, stößt vor und zurück, ganz wie ein Spielzeug, das bis zum Anschlag aufgezogen wurde.

In den letzten Wintern konnte man sich mit Schneebeseitigung eine goldene Nase verdienen, so wenig hat es geschneit. Ob die Glückssträhne dieses Jahr reißt, ist noch nicht abzusehen, immerhin ist es erst Januar, wenn auch der erste Schnee. Wie Fitnessstudios, denkt Hartenfels. Sobald alle trainieren würden, die ein Abo haben, bräche die Bude zusammen.

Der Wagen, der Hartenfels fast erwischt hätte, rumpelt vom Bürgersteig auf die Straße und beschleunigt, Hartenfels hätte nie gedacht, dass das möglich wäre. Wahrscheinlich ist das Teil frisiert.

Hartenfels läuft ein paar Schritte und stellt fest, dass sich der Schnee da, wo er geräumt wurde, in eine feste Masse verwandelt hat, die spiegelglatt ist, woran die halbe Tonne Split nichts ändert, die auf ihr liegt. Er schliddert dem U-Bahnhof entgegen.

Hartenfels fährt nur mit dem Auto, wenn es sich nicht vermeiden lässt, bei Schnee erst recht nicht. Fünf Flocken und auf den Straßen Berlins herrscht Krieg. Am Hohenzollerndamm gibt es ein Hupkonzert, weil an der Ampel, die Hartenfels benutzt, ein Mercedes nicht von der Stelle kommt, dabei ist es ein SUV.

Wahrscheinlich mit Sommerreifen, denkt Hartenfels und umgeht das Ungeheuer, immer darauf bedacht, sich von seinem Heck fernzuhalten, das bereits mehrfach ausgebrochen ist. Bei glatter Fahrbahn Vollgas zu geben, ist keine gute Idee.

Hartenfels läuft die Treppe nach unten, während ihm der Geruch von nasser Kleidung entgegenweht. Er ist nicht der Einzige, der heute auf das Auto verzichtet, was dazu führt, dass im öffentlichen Nahverkehr das blanke Chaos herrscht. So voll wie der Bahnsteig ist, ist schon mehr als ein Zug ausgefallen. Hartenfels wird von hinten geschoben und quetscht sich Meter um Meter voran. Weil er groß und massig ist, kann er einfach irgendwo stehen bleiben, Personen mit kleinerer Statur haben weniger Glück. Er kommt sich wie ein Fels in der Brandung vor. Er teilt den Menschenstrom, der sich auf den Bahnsteig ergießt.

Hartenfels sehnt sich nach einem Zug und hat gleichzeitig Angst vor ihm, noch mehr Gedränge ist kaum zu ertragen. Über Lautsprecher ertönt die Ansage, dass der einfahrende Zug überfüllt sei, aber gleich nach ihm eine weitere U-Bahn käme, die leer sei, was niemand glaubt. Hartenfels, der sich in Deeskalationstechniken auskennt, fällt auch nicht darauf herein.

Er wirft sich mit der schieren Kraft seines gewaltigen Leibes vorwärts, um eine der geöffneten Türen zu erreichen, und zieht sich in einen Waggon. Vor Hartenfels’ Augen blitzt kurz eine Verladerampe auf, von der aus Menschen in fadenscheiniger Kleidung in bereitstehende Züge geprügelt werden, und ihm bleibt die Luft weg. Er reißt die Augen auf, um sein Hirn davon zu überzeugen, dass er lediglich im morgendlichen Berufsverkehr steckt und nicht auf dem Weg in ein Vernichtungslager.

Die Tür geht zu, und die U-Bahn setzt sich in Bewegung, was dazu führt, dass die Passagiere wie Berliner Klöße in einer Suppenschüssel hin und her schwappen. Hartenfels hält sich an einer Stange fest und spürt, dass sich andere an ihn klammern, was er gewohnt ist.

Für die Fahrt, die sonst zehn Minuten dauert, braucht er über eine halbe Stunde, am Wittenbergplatz steigt er aus und rennt nach oben. Am liebsten würde Hartenfels den Rest des Tages im Freien verbringen, um sich zu erholen. Egal, wie viel Feinstaub in der Luft liegt, er genießt jeden Atemzug.

Es schneit weiter, der Schnee ist inzwischen pappig und feucht. Hartenfels fährt sich mit der Hand über die Glatze und spürt, wie nass sie ist. Sein Handy vibriert. Er mag Handys nicht und muss sich überwinden, den Anruf anzunehmen. Er weiß selbst, dass er Rufbereitschaft hat und längst im LKA sein sollte.

»Ja?« Hartenfels hat in einem Hauseingang Schutz gesucht und hält sich das Handy ans Ohr.

»Wir haben einen Notruf aus Kreuzberg«, sagt der Beamte am anderen Ende der Leitung, »ein Mann meldet seine Frau als vermisst.«

Hartenfels zögert. Für verschwundene Personen ist er nicht zuständig, darum kümmert sich das LKA 12, er ist beim LKA 11. Es ist ungewöhnlich, dass man wegen eines Falls anruft, der nicht in seinen Bereich fällt. Hartenfels’ Rufbereitschaft ist zwar sehr ruhig verlaufen, aber das ist kein Grund für ihn, bei den Kollegen zu wildern.

»Wieso rufst du mich an?«, will er wissen.

»Weil es nicht nur um eine Person geht, die abgängig ist.«

»Um was geht es denn sonst?«

»Der Hund des Mannes, dessen Frau nicht mehr da ist, hat eine Leiche aus dem Schnee gebuddelt.«

Hartenfels reibt sich die Augen. Erst geschieht nichts, dann alles auf einmal.

»Wo in Kreuzberg?«, hakt er nach.

»Im Viktoriapark«, antwortet der Beamte.

Hartenfels sieht den kleinen Berg vor sich, dessen Wiesen im Sommer voller Menschen sind. Wenn er sich richtig erinnert, gibt es sogar einen Wasserfall, den man an- und ausschalten kann.

Je nach Wetterlage, denkt er, im Augenblick ist das Ding bestimmt außer Betrieb.

Ein Blick in den Himmel reicht, um sich da sicher zu sein. Fette Flocken treiben auf ihn zu, er muss blinzeln, um überhaupt etwas zu sehen.

»Und wie passt das zusammen?«, fragt Hartenfels weiter.

»Was?«

»Die vermisste Person und die Leiche.«

»Ich verstehe nicht.«

»Hat der Mann, der angerufen hat, gesagt, in welcher Reihenfolge das passiert ist?«

»Das weiß ich nicht.« Sein Kollege scheint mit Papieren zu rascheln, Hartenfels hört ihn kaum mehr, vielleicht ist auch die Verbindung gestört.

»Hat er zuerst seine Frau vermisst und dann die Leiche gefunden?«

»Du kannst Fragen stellen.«

»Oder haben er und seine Frau die Leiche gemeinsam entdeckt und danach ist sie weg?«

»Also die Leiche ist noch da.«

»Ich meine die Frau.«

»Hm«, ist alles, was Hartenfels als Antwort erhält.

»Vielleicht hat der Typ die Leiche ja nur gefunden, weil er seine Frau gesucht hat«, unternimmt er einen letzten Versuch.

»Sein Hund ist auf die Leiche gestoßen«, lautet die Antwort.

O Gott, denkt Hartenfels, so kommt er nicht weiter.

Es hilft nichts, er muss selber zum Tatort. Es ist schließlich Hartenfels’ Job, Mordfälle aufzuklären. Natürlich steht bislang nicht fest, ob es sich bei der Leiche um ein Mordopfer handelt, aber das wird er herausfinden.

 

Hartenfels beendet das Gespräch und überlegt, wer aus seinem Team frei ist, um mit ihm zu fahren. Hoffentlich sind wenigstens die Hauptstraßen geräumt, Schneefall kommt jedes Mal völlig überraschend.

Wie Weihnachten, denkt er.

2. Kapitel

Hartenfels hat Reschke beauftragt, ihn zu begleiten, seine Spezialistin für Tatortfotografie. Reschke ist halb so groß wie er und schlank. Ihre Haare trägt sie etwa streichholzlang, was dazu führt, dass sie nicht wie bei einem Igel abstehen, sondern sanft in alle Richtungen kippen. Reschke findet es besser, wenn sich ihre Haare weich anfühlen. Sie streicht sich den Pony gefühlte hundert Mal am Tag aus dem Gesicht und genießt es, wenn er ihr zurück in die Stirn fällt. Reschke hat rote Haare, nicht feuerrot, sondern eher fahlrot, manche Sonnenaufgänge haben diese Farbe, Sonnenuntergänge nicht, die sind zu kräftig. Jeden Morgen tuscht sie sich ihre Wimpern, damit man sie überhaupt wahrnimmt. Sobald sie ihre Wimpern tuscht, werden sie zu einem echten Blickfang, weil sie sehr lang sind.

Reschke ist durchtrainiert, Hartenfels, neben ihr auf dem Beifahrersitz, flößt ihr allein aufgrund seiner Körpermasse Unbehagen ein. Sie kann kaum hinsehen, wenn er im Sommer nur Hose und Hemd trägt. Sie versteht einfach nicht, wie ein Gürtel derart tief ins Fleisch schneiden kann, ohne dass es wehtut. Sollte sie sich einen Gürtel auf diese Weise umschnallen, bliebe ihr sofort die Luft weg. Hartenfels’ Körper muss schon mehr als üppig gepolstert sein, damit sein Gürtel keine lebenswichtigen Organe abklemmt.

Andererseits, und das ist vielleicht noch erstaunlicher, ist Hartenfels schnell und gewandt, kein bisschen behäbig oder gar plump, was in absolutem Kontrast zu seiner Masse steht. Ihm in die Quere zu kommen, ist allein deswegen nicht ratsam. Im Gegensatz zu ihr braucht Hartenfels nicht zu trainieren, um gefährlich zu werden. Er wirft sich auf seine Gegner, das reicht. Unter Hartenfels begraben zu sein, ist das Ende.

Reschke linst zur Seite, ohne den Blick wirklich von der Straße zu nehmen. Heute ist der Verkehr so unberechenbar, dass sie sich keine Ablenkung leisten kann. Trotzdem erkennt sie, dass Hartenfels’ Kleidung völlig aufgeweicht aussieht. Es ist oft der Fall, dass er unpassend angezogen ist. Wie soll ihn eine Lederjacke vor Schneefall schützen? Und dann die Schuhe! Als wollte Hartenfels auf dem Kudamm flanieren. Reschke hofft, dass er damit im Viktoriapark, zu dem sie fahren, den Kreuzberg überhaupt hinaufkommt.

Hartenfels wollte wissen, ob sie sich dort auskenne.

»Und ob ich mich da auskenne«, hat sie geantwortet. Reschke hat nicht umsonst jahrelang auf dem kleinen Berg Silvester gefeiert. Die Aussicht ist wirklich spektakulär. Vor allem wenn man sich ganz oben an dem kleinen Türmchen aufhält, das von Weitem wirkt, als wäre es mindestens die Spitze einer Kathedrale. Seit sie zum ersten Mal auf ihm herumgeklettert ist, um möglichst viel vom Feuerwerk zu sehen, weiß Reschke, dass es sich um ein Denkmal handelt. Natürlich von Schinkel, wir sind ja in Berlin. All das hat sie Hartenfels ziemlich überschwänglich erzählt, was eigentlich nicht ihre Art ist. Irgendwie sind die Erinnerungen an die Nacht der Nächte, die sie noch nie allein verbracht hat, mit ihr durchgegangen. Falls Hartenfels sich gewundert hat, hat er sich nichts anmerken lassen. Er kann überhaupt sehr schweigsam sein, etwas, das Reschke an ihm mag. Normalerweise hält sie selbst lieber die Klappe.

Reschke hat die Großbeerenstraße, die direkt zum Denkmal und dem Wasserfall führt, fast erreicht, muss aber bremsen, weil ein LKW stur neben ihr fährt, weshalb sie keine Chance hat, rechts abzubiegen. Dabei blinkt sie schon eine halbe Ewigkeit.

»So ein Arsch«, zischt Reschke, die Augen im Außenspiegel und halb damit rechnend, dass ihr Hintermann sie rammt. Weil Reschke es nicht toleriert, dass jemand sie blockiert, statt am Reißverschlusssystem teilzunehmen, nutzt sie eine Lücke vor sich aus und beschleunigt, um noch vor dem LKW abzubiegen.

Und jetzt Powerslide, denkt sie, belässt es angesichts der Straßenverhältnisse jedoch lieber bei einem gewagten Schwenk.

Sie ist ja nicht lebensmüde.

Hinter ihr ertönt die Sirene eines Kreuzfahrtschiffs. Der LKW-Fahrer hupt so laut, dass es Reschke regelrecht nach vorn schiebt, Hartenfels stützt sich am Handschuhfach ab. So ist das eben, wenn man ein Zivilfahrzeug fährt. Reschke ist dankbar, dass Hartenfels weiterhin den Mund hält. Er legt die Hand, mit der er sich festgehalten hat, betont beiläufig in seinen Schoß. Das schätzt Reschke an ihrem Chef. Obwohl er selber defensiv und wie eine Schnecke fährt, lässt er sie machen, was sie will. Hartenfels hat ihren Fahrstil noch nie kritisiert, ihre Arbeit genauso wenig.

Reschke wirft einen Blick nach hinten und vergewissert sich, dass ihre Fotoausrüstung bei dem holprigen und regelwidrigen Überholmanöver nicht vom Sitz gefallen ist – alles in Ordnung. Reschke liebt ihre fette Nikon und steht nicht nur beruflich auf Fotografie. Tatortfotografie ist für sie auch Fotokunst. Es vergeht keine Veranstaltung von C/O Berlin, dem Ausstellungshaus für Fotografie direkt am Bahnhof Zoo, die sie nicht besucht. Zwar fand sie es besser, als C/O Berlin noch im Postfuhramt in der Oranienburger Straße beheimatet war, aber das ist Geschichte. Reschke hat die unterirdischen Katakomben und verwinkelten Gänge gemocht, in denen die Ausstellungen damals untergebracht waren. Überall blätterte der Putz ab, fanden sich Wasserflecken und undefinierbare Verfärbungen, was einen irren Gesamteindruck ergab. Farbreste und verwischte Schriftzeichen rankten sich um die Fotos, rohes Neonlicht verlieh ihnen eine martialische Präsenz. Man hätte aus jeder Ausstellung eine weitere Ausstellung machen können, indem man die Fotos samt dem Raum, in dem sie hingen, noch einmal fotografierte. Die Räumlichkeiten des neuen C/O Berlin hingegen sind glatt und geleckt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Reschke seit einiger Zeit immer öfter ins Newton Museum geht, das nicht weit entfernt liegt.

Reschke liebt die »Big Nudes«, die ein Treppenhaus oder ganze Wände einnehmen, kann sich an ihnen nicht sattsehen. Ein bisschen kommt es ihr so vor, als sähe sie sich selber nackt im Spiegel. In einer Kleinausgabe natürlich, was nicht allein am Format der Bilder liegt. Doch obwohl Reschke höchstens halb so groß wie die Modelle ist, in die Newton allem Anschein nach wie sie vernarrt war, hat sie eine vergleichbare Figur.

Athletisch passt am besten, findet sie, breite Schultern, flacher Bauch und Läuferinnenbeine.

Dazu besitzen die »Big Nudes« allerdings Brüste, für die Reschke morden würde. Bevor sie die Aufnahmen kannte, wusste Reschke gar nicht, dass eine solche Kombination auf natürlichem Weg überhaupt möglich war. Reschkes Brüste sind klein und fest. Manchmal denkt sie deshalb, dass es besser gewesen wäre, sie hätte die »Big Nudes« nie zu Gesicht bekommen. Reschke hat sich schon gefragt, ob sie sich weniger mag, seit sie auf Newtons Frauen gestoßen ist. Das vielleicht nicht, hofft sie, aber ihre Vorlieben haben sich verändert. Mit einer der »Big Nudes« ins Bett zu gehen, stellt sie sich überirdisch vor.

Reschke zuckelt die Großbeerenstraße entlang. Seit sie abgebogen sind, gibt es so gut wie keinen Verkehr mehr. Alles ist friedlich und still. Nicht einmal ihr Wagen macht noch irgendein Geräusch, weil er über eine geschlossene Schneedecke rollt.

3. Kapitel

Hartenfels steigt aus und versinkt im Schnee. Reschke hat direkt am Viktoriapark angehalten und der stillgelegte Wasserfall, vor dem sie stehen, gleicht einer Schneise, die jemand in die Bäume geschlagen hat. Ginge auch als Skipiste durch, denkt Hartenfels, während er Ausschau nach einer Art Trampelpfad hält, den er nehmen könnte. Mit seinen Halbschuhen will er sich nicht durch 50 Zentimeter Neuschnee quälen.

»Hier lang, Chef«, sagt Reschke und weist auf eine Reifenspur, die in das Parkgelände führt.

Einen Augenblick überlegt Hartenfels, ob sie nicht zurück zum Auto sollten, um ihr zu folgen, muss sich dann aber eingestehen, dass ihr Dienstwagen garantiert stecken bleiben würde. Mit einem Bulli der Bereitschaftspolizei kann er es nicht aufnehmen. Er geht Reschke nach, die bereits einen guten Vorsprung hat.

Weil es weiterschneit, ist für Hartenfels die Umgebung kaum zu erkennen. Als er an einer Art Gehege vorbeikommt, hält er vergeblich Ausschau nach den dort eingesperrten Tieren. Es gibt höchstens ein paar Spuren im Schnee, die von Hühnern oder anderem Geflügel stammen könnten. Hartenfels erinnert sich daran, schon einmal im Sommer dagewesen zu sein und einen Pfau gesehen zu haben, der ein wunderschönes Rad schlug. Dafür ist es heute viel zu nass und viel zu kalt. Hartenfels kennt sich mit dem Balzverhalten eines Pfaus nicht aus, könnte sich jedoch vorstellen, dass es witterungsabhängig ist.

»Früher gab es hier sogar Nutrias«, hört er Reschke, die wie er stehen geblieben ist.

»Nutrias?«, fragt Hartenfels.

»Irgendetwas zwischen Biber und Ratte. Bloß mit ekligen gelben Zähnen.«

Hartenfels weiß nicht, wovon seine Kollegin spricht.

»Haben wir Ossis früher gegessen«, fährt sie fort.

»Und wie schmeckt das?«, will er wissen.

Reschke zuckt nur die Achseln. Mit den Vorlieben ihrer Brüder und Schwestern kennt sie sich allem Anschein nach nicht gut aus.

Kein Wunder, denkt Hartenfels, soweit er weiß, hat sie mit ihren Eltern die DDR schon vor der Wende verlassen.

Sie setzen sich wieder in Bewegung, passieren noch ein Gehege, in dem sie Ziegen entdecken und einen Bär. Ein Bär? Hartenfels kneift die Augen zusammen und ihm wird klar, dass er nicht echt ist. Der Bär ist aus Holz. Er schüttelt den Kopf, betritt endlich freies Gelände, ohne dass es merkbar heller würde. Er erahnt ausgedehnte Wiesen, die steil ansteigen, kann sich aber täuschen, weil seine Sichtweite deutlich unter 20 Metern liegt. Er wischt sich zum x-ten Mal Schnee vom Schädel. Zum Glück sind die Reifenspuren nach wie vor gut sichtbar, die ihn zuvor bereits am Tiergehege vorbeigelotst haben. Noch ein paar Schritte und Hartenfels entdeckt einen Polizeibulli, der mit laufendem Motor mitten im Park abgestellt wurde. Reschke und er halten auf das Fahrzeug zu und bemerken Fußspuren, die von dem Wagen aus nach oben führen. Hartenfels gibt sich Mühe, in sie zu treten, Reschke ist jetzt hinter ihm.

Hartenfels sieht nach oben in eine Sonne, die bleich und kraftlos über ihm schimmert. Wolken jagen vorbei und verdecken sie, dann reißt der Himmel auf. Hartenfels schließt geblendet die Augen, läuft aber weiter, immer höher die Wiesen hinauf. Weil Entfernungen in dem gleißenden Licht nicht leicht abzuschätzen sind, weiß er inzwischen nicht mehr, wo er sich befindet. Er kann nur hoffen, dass die Personen, die vor ihm nach oben gestiegen sind, ein klares Ziel hatten. Am besten den Fundort der Leiche.

Davon angestrengt, bei jedem Schritt aufwärts den Fuß bis zu den Knien anzuheben, macht Hartenfels eine Verschnaufpause und dreht sich um. Er hat schon ein gutes Stück Höhe gewonnen und erkennt die Bäume, die den Park begrenzen. Sogar den Funkturm sieht er. Da keine neuen Wolken die Sonne verdunkeln, bleibt es hell, und auch der Schneefall hört auf. Hartenfels wischt sich ein letztes Mal über den Kopf und wendet sich erneut der steil ansteigenden Wiese zu. Kaum 20 Meter vor ihm kommen Menschen in sein Blickfeld, die bis jetzt nicht zu sehen waren. Hartenfels macht vier Uniformierte aus, wahrscheinlich die Besatzung des Polizeifahrzeugs, und einen Mann in Zivil.

Der Mann ist fast so groß wie er, aber schmal. Hoch aufgerichtet befindet er sich ein Stückchen oberhalb der Beamten und überragt sie mühelos. Die langen Haare hängen dem Mann bis auf die Schultern und er trägt einen schwarzen Hut, dazu einen ebenfalls schwarzen Mantel und Stiefel. Hartenfels geht weiter und lässt die Gestalt nicht aus den Augen. Der Mann spricht nicht, stiert bloß in die Ferne, ohne dass er etwas Besonderes wahrzunehmen scheint. Wässrige Augen von blassem Blau schauen so teilnahmslos, dass Hartenfels eine gewisse Tragik spürt. Den Mann umgibt eine Aura verhaltener Melancholie. Hartenfels erkennt das, weil es Fotos von ihm gibt, auf denen er genauso dreinblickt, und er weiß, wie der Fremde sich fühlt.

Hartenfels schätzt ihn auf gut 50 Jahre. Als er noch näher kommt, fällt ihm auf, dass die Haare, die unter dem Hut des Mannes hervorschauen, grau und recht dünn sind. Hartenfels versteht nicht, warum so viele Menschen die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Er selbst hat eine Glatze, höchstens Stoppeln, wenn er keine Zeit zum Rasieren findet. Es ist eine Tugend, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das zeigt, dass man noch Kontakt zur Realität hat. Wer den Kontakt zur Realität verliert, verliert sich in seinen Vorstellungen.

 

Hartenfels macht die letzten Schritte, nickt seinen Kollegen zu und stellt sich direkt vor den Mann, doch bevor er ihn ansprechen kann, bellt ein Hund. Hartenfels schaut nach unten auf ein großes Tier, das hinter dem Mann im Schnee gelegen hat und gerade aufspringt.

»Sitz«, hört Hartenfels und der Hund befolgt das Kommando, lässt ihn jedoch nicht aus den Augen.

Hartenfels ist so einem Tier nie zuvor begegnet. Es ist schwarz und struppig, hat dunkle Augen, die hinter Fellfransen verschwinden, ist massig und schwer, Hartenfels schätzt gut und gerne 40 Kilo. Das Kreuz breit und die Beine lang, den Schwanz kann er nicht sehen.

»Ihr Hund?«, fragt er.

Der Mann, der trotz des Kommandos, das er gegeben hat, weiter in die Ferne schaut, fokussiert endlich seinen Blick, betrachtet Hartenfels und nickt.

»Zerberus«, sagt er, was dazu führt, dass der Hund die Ohren aufstellt.

Hartenfels weiß gar nicht, wonach er zuerst fragen soll. Der Name des Hundes erscheint ihm genauso grotesk wie seine Rasse.

»Zerberus?«, fragt er.

»Genau«, sagt der Mann, ohne sich von Hartenfels abzuwenden, »nach dem Wächter des Hades aus der griechischen Mythologie.«

»Also ein Höllenhund«, murmelt Hartenfels.

»Ein Mix aus Riesenschnauzer und Wolfshund. Meine Frau nennt ihn Fluffy.«

»Fluffy?«, wiederholt Hartenfels.

Das ist ja mal ein putziger Name für so ein Kalb.

»Hat sie aus Harry Potter, wenn Ihnen das etwas sagt.«

Hartenfels nickt. Wem sagt das nichts?

»Da gibt es diesen Riesen, Hagrid heißt er. Der nennt einen Hund Fluffy, der von Zerberus abstammt und eine genauso furchterregende Optik hat.«

»Apropos Frau«, kommt Hartenfels auf den Grund seines Erscheinens zu sprechen. »Sie haben sie als vermisst gemeldet. Seit wann ist sie denn verschwunden? Außerdem«, er hält dem Mann die Hand hin, »mein Name ist Hartenfels.«

»Meister«, sagt der und schlägt ein, dann legt er seine Stirn in Falten und atmet geräuschvoll aus. »Wir sind zusammen mit Zerberus«, es besteht kein Zweifel, welchen Namen Meister bevorzugt, »wie jeden Morgen Gassi gegangen, und als wir hier die Wiese erreicht haben, ist er plötzlich abgehauen. Wir haben gerufen und gerufen, aber er hat nicht reagiert.«

»Passiert das öfter?«, wirft Hartenfels ein.

»Wenn er eine Spur hat, schon.« Meister nickt und ein wenig Schnee fällt von der Krempe seines Huts. »Eigentlich bleibt einem nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wiederkommt.«

»Ist er heute wiedergekommen?«

»Eben nicht. Nachdem ich realisiert hatte, dass Rufen nichts bringt, bin ich hinter ihm her. Weil es so heftig geschneit hat, war ich fast blind, und es war reiner Zufall, dass ich ihn gefunden habe.« Meister dreht sich um und sieht die Anhöhe hinauf, die sich noch gut 50 Meter bis zum Denkmal erstreckt.

Hartenfels folgt seinem Blick und entdeckt inmitten des jungfräulichen Weiß, das alles bedeckt, ein Stück zerwühlten Schnees. Um was genau es sich handelt, kann Hartenfels aus der Entfernung nicht erkennen, aber er denkt es sich. Da liegt die Leiche.

»Da oben?«, fragt er.

»Ja«, antwortet Meister und wendet sich wieder ihm zu. »Zerberus hatte ein Bein ausgegraben und buddelte weiter im Schnee. Ich musste ihn wegzerren, so verrückt hat er sich aufgeführt.«

»Haben Sie die Leiche angefasst?«

Meister blinzelt und Hartenfels denkt zuerst, dass ihm vielleicht eine Flocke ins Auge geraten ist, doch da Meister nicht mehr damit aufhört, ist es wohl ein Tick.

Was macht ihn so nervös, überlegt Hartenfels.

»Ich habe nachgesehen, ob ich noch etwas tun kann«, sagt Meister leise.

»Und«, fragt Hartenfels, »konnten Sie?«

Meister schüttelt den Kopf, nasses Weiß fällt von seinem Hut, rutscht von seinen Schultern.

»Was genau haben Sie unternommen?«, will Hartenfels wissen.

»Ich habe selber gegraben und den Kopf freigelegt. Da war nichts mehr zu machen, das war sofort klar.«

»Mann oder Frau?«

»Wie bitte?«

»Handelt es sich bei der Leiche um einen Mann oder eine Frau?«

»Einen Mann«, sagt Meister und schaut zu Boden.

Hartenfels dreht sich zu den Beamten um, die ein Stückchen unterhalb von ihm stehen und sicher zugehört haben.

»Stimmt«, sagt einer von ihnen.

»Warum habt ihr nichts abgesperrt?«, fragt Hartenfels.

»Weil alles voller Schnee ist, wollten wir erst auf die KTU warten«, erwidert der Beamte. »Man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll.«

»Verstehe ich jetzt nicht«, sagt Hartenfels und schaut nach oben.

Die Sonne hat sich erneut hinter dicken Wolken verkrochen, und es fängt schon wieder an zu schneien.

»Deswegen«, sagt ein anderer Beamter und zeigt auf die Flocken, die feucht und schwer an ihnen vorbeitrudeln, »die Leiche ist längst neu zugeschneit, und man kann beim besten Willen nicht sagen, wo unter dem Schnee vielleicht noch Spuren sind. Im Grunde müssten wir den ganzen verdammten Park absperren.«

»Keine schlechte Idee«, meint Hartenfels, »ich würde gleich damit anfangen.«

Die vier Männer sehen sich an und machen sich auf den Weg nach unten.

»Wo bleibt überhaupt die KTU?«, ruft Hartenfels ihnen nach.

»Steckt irgendwo im Stau«, bekommt er zur Antwort.

»Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Frau verschwunden ist?«, wendet sich Hartenfels erneut an Meister.

»Nachdem Zerberus das da«, er zeigt auf die Stelle, wo die Leiche liegt, »gefunden hat, war sie weg.«

»Und vorher?«

»Vorher war sie direkt bei mir. Ich bin los, um Zerberus zu suchen, sagte ich ja bereits. Da habe ich nicht darauf geachtet, ob sie mir gefolgt ist.«

»Haben Sie sie gesucht?«

»Nicht gründlich, wenn Sie das meinen. Ich wollte mich nicht allzu weit von dem da«, er zeigt noch einmal auf die Stelle, wo der Schnee zerwühlt ist, »entfernen. Aber ich habe sie immer wieder gerufen. So weit konnte sie doch gar nicht weg sein, dass sie mich nicht gehört hat.«

»Hat sie ein Handy?«

»Das klingelt zwar, aber sie meldet sich nicht.«

»Hat sie es überhaupt dabei?«

Meister sieht Hartenfels an, seine Augen sind so wässrig, dass sie auch voller Tränen sein könnten. »Ich weiß es nicht«, sagt er.

»Geben Sie mir die Nummer, damit wir versuchen können, das Handy zu orten.«

»Die haben Ihre Kollegen schon weitergegeben.« Meister blinzelt und legt seine Stirn erneut in Falten. »Vielleicht ist sie ja längst zu Hause«, sagt er dann.

Hartenfels läuft ein paar Schritte in Richtung seiner Kollegen und fragt, ob sie Meisters Wohnung überprüft haben.

»Vor dem Haus steht ein Posten«, sagt einer der vier, »wäre da jemand, wüssten wir es.«

Hartenfels geht wieder zu Meister und an ihm vorbei zu der Stelle, die aufgewühlt ist. Es ist so, wie der Kollege gesagt hat. Auf der Gestalt liegt fingerdick Neuschnee, unter dem sich nur noch ihre Silhouette abzeichnet. Hartenfels bückt sich und versucht, etwas zu erkennen, doch er kann nicht einmal sagen, ob es sich tatsächlich um einen Mann handelt. Er wird auf die KTU warten, die hoffentlich ihr Zelt dabeihat. Ein Geruch steigt Hartenfels in die Nase, und er nimmt aus den Augenwinkeln wahr, dass der Hund, der immer noch neben Meister kauert, seinen Kopf dreht, um Witterung aufzunehmen, und leise winselt.

Kaum dass Hartenfels wieder steht, bemerkt er da, wo die Wiese unter ihm aufhört, ein weiteres Polizeifahrzeug, das sich durch den Schnee wühlt. Reschke, die sich die ganze Zeit zurückgehalten hat, fragt ihn, ob sie mit dem Fotografieren anfangen soll.

»Bei dem Schnee gibt es keine Spuren, die du kaputt machen könntest«, entscheidet Hartenfels, »leg los.«

Während Reschke ihre Nikon auspackt, geht er zurück zu Meister, legt ihm einen Arm um die Schultern und bittet darum, dass er ihn nach unten begleitet.

»Ich trommle eine Hundertschaft zusammen, die nach Ihrer Frau sucht«, sagt er, »und in der Zwischenzeit nehme ich Ihre Personalien auf, einverstanden?«

Meister sagt nichts, macht sich aber auf den Weg. Zerberus springt hoch und schüttelt sich wie wild. Hartenfels bleibt noch einen Augenblick stehen, um den nötigen Anruf wegen der Suchmannschaft zu tätigen, schließt dann zu Meister und seinem Hund auf.