Loe raamatut: «Die letzten Tage des Kommissars»
Der Mensch schläft mit seinen Wahrheiten
und wacht über seine Irrtümer.
Harald Schmid
Die letzten Tage des Kommissars
An den Polizeipräsidenten Berlin und das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin
Ja, ich habe getötet, aber es war kein Mord. Nicht im gewöhnlichen Sinne! Also hören Sie auf, nach mir zu fahnden. Lesen Sie meinen Bericht, der wahr ist vom ersten bis zum letzten Wort. Sie werden begreifen, um was es wirklich geht, und Sie erkennen den wirklichen Verbrecher.
Der 31.3. war mein letzter Tag in der Mordkommission, ich wurde verabschiedet, und ehrlich gesagt: ich war froh darüber. Genug Leichen gesehn.
Am nächsten Tag gegen 9 Uhr holte ich meine Privatsachen ab. Da klingelte das Telefon.
„Ich habe was Wichtiges verloren. Helfen Sie mir!“
Ein Aprilscherz. Nicht sehr originell.
„Wenden Sie sich ans Fundbüro“, sagte ich.
Ich verließ das Präsidium um 10.30. Auf dem Weg zur U-Bahn dudelte mein Handy. Dieselbe Stimme, diesmal scharf und scheppernd.
„Man hat mich ermordet, meine Leiche wird es Ihnen beweisen. Also suchen Sie mich gefälligst.“
Ich sagte: „Idiot“ und schaltete das Handy aus.
Am nächsten Morgen, während des Frühstücks, eine SMS: „Meine Leiche liegt im Tiergarten nahe einer Bank, bei einer Eiche.“
Diesmal wurde ich nachdenklich. Immerhin, hier wurden präzise Angaben gemacht. Offensichtlich sollte ich im Tiergarten etwas suchen. Bestimmt keine Leiche. Aber was? Und wer redet so? Die Kollegen fielen aus, so geschmacklos waren die nicht. Vielleicht eine Art Abschiedsgeschenk für mich von „alten Bekannten“ aus dem Rotlichtmilieu. Es gab Spaßvögel unter ihnen.
Erst dachte ich: Lass es! Andererseits: die alte professionelle Neugier! Und da ich nun alle Zeit der Welt zur Verfügung hatte, warum nicht einen Spaziergang durch den Tiergarten machen?
Mantel, Hut und los. Es nieselte. Der erste Tag meines neuen Lebens - und es nieselte. Von meiner Wohnung aus sind es mit der U-Bahn zehn Minuten zum Tiergarten.
Am Brandenburger Tor regnete es. Zum Park war es nicht weit. Eichen gab es, nicht zu übersehen, sie hatten noch braune Blätter vom letzten Jahr. Nirgendwo eine Bank. Also doch ein Telefonstreich.
Wie Sie wissen, geht durch den Park eine Straße mit einer Bushaltestelle, hier wollte ich den Bus nach Haus nehmen. Und da stand eine Steinbank, ungefähr zehn Meter links von der Haltestelle. Hinter ihr, im Gebüsch, eine Eiche.
Falls man mich veräppeln wollte, gab es jetzt heimliche Beobachter.
Ich tat also uninteressiert und blickte nur kurz ins Gebüsch. Zwei Füße in braunen Halbschuhen. Als ich die Zweige beiseite bog, erkannte ich den Toten. Berlins berüchtigtster Klatschjournalist. Seine Kehle war aufgerissen.
Instinktiv wollte ich mich sofort zurückziehen. Zu spät. Eine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn kam vorbei und sah mich misstrauisch an.
Nun gut, dachte ich, spielen wir noch einmal Kommissar. Ich rief meine Abteilung an, Lohmeyer dachte wahrscheinlich, ich hätte einen Anfall von Rentnerpanik oder so ähnlich. Während ich auf die Männer wartete, untersuchte ich den Toten. Der verquollene Anzug ließ auf ein längeres Liegen der Leiche schließen. In den Jackentaschen eine Brieftasche, ein Notizbuch und ein Taschenbuch mit dem Titel „Der Meister und Margarita“. Ich blätterte im Notizbuch. Die letzte Eintragung war vor drei Tagen, die Uhrzeit 10.30 und das Wort: Doktor.
Ein Arztbesuch. Ich blätterte zurück.
Drei weitere Arztbesuche und alle innerhalb einer Woche. Ich hörte das Martinshorn und schob bis auf das Buch alles rasch in die Jacke zurück.
Als Lohmeyer und Peters aus dem Wagen stiegen, machten sie nicht grade einen intelligenten Eindruck. Sie starrten mich an wie eine Erscheinung. Ich hatte keine Lust, lange Reden zu halten, zeigte ihnen die Leiche und verschwand im Bus, der gerade ankam.
Nach außen war ich ruhig, aber in meinem Kopf ging es drunter und drüber. Mir wurde warm, ich knöpfte den Mantel auf, dabei stieß ich an das Buch in der Manteltasche. Es war ein Roman von einem Michail Bulgakow, Russe vermutlich.
Mit blauem Filzstift war auf verschiedenen Seiten das Wort „Magier“ unterstrichen, einmal stand „Doktor“ daneben, mit zwei Ausrufungszeichen.
Ich steckte das Buch weg, als mein Blick auf eine Litfasssäule fiel mit einem grellgelben Plakat. Ein Magier namens Dr. Fürst gastiert in Berlin und gibt Vorstellungen im Admiralspalast.
Richtig. Kollege Jan hatte in der Kantine mit großer Begeisterung von diesem Magier erzählt. Einmalige Zauberei, geradezu genial sei das. Ich hatte mich darüber gewundert. Wie kann ein Kriminalist Taschenspielertricks ernst nehmen!
Die Sache mutete abwegig an, aber mir kam der Gedanke, mit dem Doktor im Notizbuch des Toten könnte der Dr. Fürst gemeint sein.
Ich hatte ja nichts zu tun, also besuchte ich die Abendvorstellung.
Der Saal hat 2000 Plätze, alle waren besetzt.
Der Anfang war lustig.
Auf zwei Eisbären kam - wie auf Pferden stehend - der Magier auf die Bühne. Alles, was auf der Bühne geschah, wurde auf eine Videowand übertragen, man sah jede Einzelheit, eine Täuschung war nicht möglich. Es waren wirklich Eisbären.
Der Mann war schlank, schwarz gekleidet, sein Gesicht kalkweiß mit schwarz untermalten Augen. Nicht sehr überraschend. Elegant sprang er von den Bären, trat an die Rampe, hob die Hand. Stille, dann mit dunkler, wohltönender Stimme: „Als ich vor 40 Jahren Berlin besuchte …“
Gelächter. Der Mann konnte kaum älter als 30 sein.
„…war es nachts und bevor der Flieger in Tegel landete, blickte ich durchs Fenster hinab. Da sah ich auf der einen Seite Lichter wie funkelnde Brillanten auf schwarzem Samt, auf der anderen Seite sah es aus wie in einem Keller mit einer Notbeleuchtung. Ein Jammer, dachte ich. Eine gespaltene Stadt.“
Seine Stimme ging in die Höhe:
„Aber was ist Berlin heute? Hätte damals jemand gesagt, diese Stadt wird einmal von Touristen überlaufen sein, ihr Glanz wird den von New York überstrahlen, tja, man hätte ihn für verrückt gehalten. Und doch geschah es, fast über Nacht geschah es. Die Stadt ist heute eine blühende Metropole! Hat da jemand den Zauberstab gehoben und Hokuspokus gemacht?“
Kleine Pause. Dann gab er sich selbst die Antwort: „Nein!“ Und neigte sich zum Publikum, hielt die Hand ans Ohr und sagte: „Oder doch?“ Stille.
Er richtete sich auf.
„Illusion oder Wirklichkeit, das sollen Sie sich heute Abend fragen, wenn Sie nach meiner Vorstellung den Saal verlassen. Zwar steht Zauberei drauf, aber Wirklichkeit ist drin. Sollte ich jetzt aber lügen, so, meine Damen und Herren, seien Sie versichert, dann ist auch das heutige Berlin nur Lug und Trug - und ich rate Ihnen, beim Nachhauseweg Pass und Passierschein bereit zu halten, Sie bekommen sonst an der Mauer Schwierigkeiten!“
Verblüfftes Schweigen, dann Gelächter und schließlich brausender Beifall.
„Ein intelligenter Windhund, dieser Kerl.“ Der Mann neben mir hatte sich in Schale geworfen, dunkler Anzug, rote Fliege auf weißem Hemd, sein Alkoholatem traf mich, als er mir das ins Ohr brüllte.
Trommelwirbel und Fanfarentusch, mit einem Ruck zog der Magier von einem etwa zwei Meter hohen Kubus ein blaues Tuch, eine goldglänzende Metallkabine kam zum Vorschein. Er drückte eine Art Fernbedienung, lautlos öffnete sich die Kabine, mit einer Handbewegung scheuchte er die Bären hinein, die Kabine schloss sich, auf der Videoleinwand erschien ein Siegelring-Finger, der einige Knöpfe der Fernbedienung drückte, darauf ging die Kabinentür auf. Heraus watschelte ein kleiner dicker Kerl, hinter ihm stolzierte eine Bohnenstange, beide gekleidet wie Lakaien mit himmelblauem Tuch, silbernen Knöpfen, Kragen und Aufschläge waren gelb.
Die Leute brüllten vor Lachen.
Sie wurden vom Magier als seine Gehilfen vorgestellt. Wieder die Fernbedienung gezückt, die Kabine klappte nach zwei Seiten auf. Ein langes Ah und Oh: nichts war zu sehen, die Bären waren verschwunden.
Und dann ging es Schlag auf Schlag. Die Diener steckten ihre Arme oder Beine in einen Schlitz der Kabine. Beim Herausziehen waren es Adlerschwingen oder Haifischflossen. Einmal wedelte der Lange statt mit Armen mit Fliederzweigen, an denen violette Blütendolden hingen, und der Dicke stakste zur Gaudi der Zuschauer auf Storchenbeinen über die Bühne.
Der Höhepunkt war, als der Magier „Ciba!“ rief. Kläffend schoss aus den Kulissen ein Labrador und flitzte geradewegs in die Kabine, Kabine zu und als sie wieder aufging, sprang ein Panther heraus, an der Rampe fauchte er ins Publikum. Die Leute schrien. Ein kurzes Kommando des Magiers, der Panther verschwand in der Kabine und die Bühnenbeleuchtung erlosch.
Nach der Pause rief der Magier Freiwillige auf die Bühne. Es kamen mehr als genug, einen nach dem anderen schickte er in die Kabine und das Publikum sollte rufen, zu welchem Tier er sie verwandeln sollte.. Und so kamen sie heraus: von der Gans bis zum Känguru. Zurück in die Kabine und wieder heraus als Mensch. Der Magier fragte sie, ob sie sich an etwas erinnern könnten. Wieso, sagten sie, sie seien ja nur ins Dunkel getreten und gleich wieder herausgekommen. Als sie sich aber auf der Videoleinwand als Tier sahen, wollten sie es nicht glauben.
Minutenlanger Beifall am Schluss. Keine Zugabe. Lächelnd verbeugte sich der junge Mann und trat ab, während die Diener Kratzfüße und der Hund Männchen machten. Das wirkte nach der grandiosen Vorstellung derart putzig, dass alles im Gelächter endete.
Ehrlich, ich war ziemlich verwirrt. Einerseits „zauberte“ der Mann mit einer Maschinentechnik, was keine große Kunst ist, gerechterweise gebührt dem Erfinder der Technik der Applaus, nicht dem Zauberer.
Andererseits kam es zu der Verwandlung von Beinen und Armen und dann sogar von ganzen Menschen, das war technisch nicht zu erklären.
Na schön. Es gibt ja so was wie Suggestion, wir waren wahrscheinlich einer Illusion aufgesessen.
Als ich mir abends das Buch vornahm und im Anhang des Romans die Biographie des Autors las, wurde die Sache nicht besser, im Gegenteil: der Russe hatte den Roman in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben, als Stalin in seinem Land herrschte. Ich wollte den Roman noch lesen, aber ich war zu müde und schlief ein.
Am nächsten Morgen holte ich mir vom Bäcker ein paar Schrippen und eine Zeitung vom Kiosk. Der Aufmacher: BZ-Journalist brutal ermordet.
Ich las den Artikel während des Frühstücks. Die Polizei tappe noch im Dunkeln, hieß es. Die aufgerissene Kehle stamme nicht von einem Messer, eher von einem Raubtierbiss. Der Zeitungsschreiber faselte von einem Luchs. Diese Wildkatze sei im Land Brandenburg schon gesehen worden, möglicherweise hätte sich eine in die Stadt verirrt wie schon Füchse und Wildschweine.
Blödsinn, dachte ich. Die Wunde war zu groß und das Tier zu klein.
Ich rief Lohmeyer an, ob man schon Näheres wüsste. Er antwortete unwirsch. Es handelte sich tatsächlich um einen Raubtierbiss. Das Tier müsse sich in Privatbesitz befunden haben, denn weder im Zoo noch im Tierpark Friedrichsfelde werde ein Raubtier vermisst. Die Polizei sei alarmiert und suche nach dem Tier.
Worauf die Berliner den Tiergarten sofort in ‚Raubtiergarten‘ umtauften.
Gut, dachte ich. Da haben wir die Tötungsart und den Täter, ein Raubtier.
Von den Anrufen und dem Taschenbuch hatte ich Lohmeyer nichts gesagt. Wie schnell wird aus einem Zeugen ein Verdächtiger. Möglicherweise versuchte mich jemand mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Warum sonst hatte man mich zur Leiche gelockt? Vielleicht wollte sich jemand an mir rächen, den ich in den Knast gebracht hatte? Da half nur eins: Ich musste den Fall noch vor meinen Kollegen lösen.
Ich prüfte im Buch die handschriftlichen Unterstreichungen und Ausrufungszeichen. Und dann war ich mitten drin und las den Roman in einem durch.
Der Inhalt: Ein Magier bringt mit seinen zwei Gehilfen durch seine Zaubereien ganz Moskau durcheinander. Das macht er grausam, zynisch, und doch besitzt der Mann so etwas wie Moral, zeigt sogar Menschenliebe. In Wirklichkeit scheint es sich um den Teufel zu halten, was die ganze Geschichte noch verwirrender macht.
Und jetzt sah ich den Dr. Fürst mit den Augen des Journalisten. Da gab es deutliche Ähnlichkeiten mit der Romanfigur. Kannte der Dr. Fürst das Buch und nahm es als Vorlage für seine Vorstellungen? Aber warum? Das hatte er doch gar nicht nötig.
Da war noch der Termin des Journalisten bei einem Doktor. Hatte er sich mit Dr. Fürst verabredet? Dazu müsste ich den Magier befragen.
Warum nicht. Ich hatte ja nichts zu tun.
Zuvor googelte ich den Mann. Über 12000 Eintragungen.
32 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in England, die Mutter starb bei der Geburt, Sohn von Prof. Dr. Dr. Johannes Fürst, Genetik-Wissenschaftler, Gründer eines Institutes für Genetik und Molekularbiologie mit angeschlossenem Unternehmen für Anti-Aging-Stoffe. Englisches Internat, Studium in Cambridge, Doktor der Philosophie. Nach dem tödlichen Badeunfall des Vaters in der Karibik (Leiche nie gefunden) erbte er Institut und Unternehmen, letzteres verkaufte er an einen internationalen Konzern, das Institut behielt er. Seit drei Jahren zieht er als Illusionskünstler mit einer eigenen Show von Bühne zu Bühne.
Ein interessanter Mann.
Um 11 betrat ich das Hotel. Zu Kaiser-Wilhelm-Zeiten war es die Absteige für Adlige, Reiche und Politiker. Im zweiten Weltkrieg zerstört, wurde es wie der Admiralspalast nach alten Plänen neu aufgebaut. Es hat nicht nur das frühere Aussehen, sondern auch wieder die alte Klientel: die Reichen und Mächtigen, eben Leute, für die man einen roten Teppich ausrollt. Der hier begann schon vor dem Eingang. Diese Leute, dachte ich, brauchen offenbar einen besonders langen Fußabtreter.
Als ich mich an der Rezeption nach Dr. Fürst erkundigte, verlangte man erst mal meinen Namen. Ich wollte mich als Kommissar ausweisen, rechtzeitig fiel mir ein, das war ich mal. Ich nannte meinen Namen und sofort dachte ich: wieso sollte mich der weltberühmte Magier zu sich lassen? Ich war ja ein Nichts gegen ihn. Doch dann kam aus den gedämpften Lobbygeräuschen eine Stimme: „Sie werden erwartet.“
Erwartet? Konnte der Mann auch in die Zukunft sehen?
Der Magier hatte eine ganze Suite gemietet. Auf mein Klopfen öffnete sein langer Gehilfe die Tür. In seinem knochigen Gesicht waren eisgraue, wimpernlose Augen. Er hörte sich ungerührt an, was ich sagte, und führte mich stumm in einen Raum mit bis auf den Teppichboden reichenden Fenstern, lautlos verschwand er. Im Zimmer roch es nach Jasmin. Der Magier stand mit dem Rücken zu mir vor einem Fenster und sah auf den Pariser Platz.
Ich räusperte mich, er drehte sich langsam um, wobei die Gardine, wie mir schien, vor ihm einen leichten Knicks machte.
Gekleidet war er in eine schwarze Bluse mit gewelltem Brustbesatz und eine seidig glänzende Pluderhose, dazu schwarze Stoffschuhe. Auch seine Augen waren schwarz, ebenso die Brauen, und da die Gesichtshaut sehr weiß war, tippte ich auf Schminke. Er lächelte. Ein warmes Lächeln, ich konnte nicht anders, ich lächelte zurück.
„Geben Sie mir Ihren Mantel.“
Er hängte ihn an einen Garderobenständer, der um das Zehnfache kostbarer war als mein Mantel, dann bot er mir einen Sessel an, ich versank darin.
Tatsächlich wirkte es so, als hätte er mich erwartet. Ich machte ein Gesicht, wie ich es bei gut betuchten Leuten beobachtet hatte, höflich, aber doch ziemlich gelangweilt. In der Zimmermitte stand die Zauberkabine. Offenbar hielt er sie stets in seiner Nähe, damit keiner hinter seine Tricks kam. Nun hatte ich sie dicht vor Augen, ich betrachtete sie, aber ich fand nichts, was mir ihr Geheimnis hätte verraten können.
Wir hatten keine zwei, drei Worte gewechselt, da jagte der Labrador herein, hinter ihm der dicke Gehilfe. Er schnaufte mehr als der Hund und jammerte, Ciba sei mal wieder außer Rand und Band, wobei er den Magier „Herr Doktor“ nannte.
Als Kind hatte mich einmal ein Schäferhund angefallen, seitdem habe ich eine Hundephobie, auch wenn ich das zu verbergen weiß. Der Mann musste was gemerkt haben, ein kurzer Befehl, die Kabine ging auf und der Hund verschwand darin. Ich dachte, da bliebe er jetzt, doch sie öffnete sie gleich wieder. Na, was kommt jetzt heraus? Es kam nichts.
Ich blickte den Magier an, der gab seinem feisten Diener einen Wink. Und dieser holte aus der Kabine einen Rosenbusch mit roten Blüten, den er in ein Gefäß setzte. Da er die Kabinentür offen ließ, konnte ich das Innere sehen. Sie war leer.
„Doktor Fürst, wo ist der Hund?“ sagte ich.
Er zeigte auf den Busch.
Ich lachte höflich und fragte ihn, ob ich mir die Rückseite der Kabine ansehen dürfe.
„Bitte“, sagte er, „tun Sie sich keinen Zwang an.“
Ich umkreiste die Kabine. Nichts. Die Kabine hatte weder einen Anbau noch einen Hinterausgang. Aber irgendwo musste der Labrador schließlich sein. Ich bat, das Zimmer absuchen zu dürfen. Er nickte. Nirgendwo ein Hund. Und so kapitulierte ich.
„Wo, zum Teufel, haben Sie den Hund versteckt?“ fragte ich.
„Sie sehen und glauben immer noch nicht? Alex! Stell den Rosenstock zurück!!“
Der dicke Gehilfe stellte den Rosenstock in die Kabine, die Tür schloss sich und als sie sich wieder öffnete, zeigte sich ein Pantherkopf. Das Tier witterte, dann lief es gemächlich zum Doktor, hockte sich auf die Hinterbeine und gähnte mit prachtvollem Gebiss.
Ich hatte mich hinter meinem Sessel in Sicherheit gebracht.
In diesem Augenblick glitt in der hinteren Zimmerwand eine Schiebetür auf. Erst dachte ich, das kann doch nicht wahr sein, eine so aufgedonnerte junge Frau – stark geschminkt, in hautengem schwarzem Leder – passte einfach nicht in das gediegene Hotel. Als sie mich mit großen blauen Augen anblickte, zuckte ich zusammen. Diese Frau sah aus wie Katrin, meine erste und große Liebe, und sie war genau in dem Alter von damals: um die zwanzig. Aber die hier war in Leder gekleidet, und ihre Körpersprache war eindeutig die einer Nutte.
Sie wandte sich an den Magier und bei ihrer Stimme verschlug es mir den Atem, ich hatte sie seit 40 Jahren nicht mehr gehört: „Hast du es ihm denn nicht gesagt?“
Von irgendwo tauchte der lange Gehilfe auf, hielt mir auf einem Tablett ein Glas unter die Nase, ich leerte es mit einem Zug und starrte wieder auf die Frau.
Wie aus der Ferne kam die Stimme des Doktors zu mir.
Es sei seine Frau. Ja, und es sei Katrin, meine Katrin aus der Zeit vor vierzig Jahren in München, das würde ich doch wohl sehen.
Nein, das sähe ich nicht, murmelte ich.
„Und hören Sie auf mit Ihren Tricks!“
Doch, sie sei es, fuhr er fort. Sie habe sich verjüngen lassen. Ob ich nicht endlich akzeptieren könnte, er sei zu dergleichen fähig? Denn alles, was ich bis jetzt gesehen hätte, sei kein Trick, keine Illusion. (Seine Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton.) Und er sei auch kein Illusionskünstler, er sei Wissenschaftler, und Katrin habe ihn gebeten, den Kontakt mit mir herzustellen, und nun erwarte sie von mir, dass ich mich wie sie verjüngen lasse, denn sie wünsche sich (und da zog er eine Grimasse) eine Liebesnacht mit mir, die, wenn er das richtig verstanden hätte, damals nicht zustande gekommen sei. Er hätte nichts dagegen.
„Sie können jetzt eine dumme Sache aus Ihrer Vergangenheit reparieren. Was halten Sie davon?“
Erwartungsvoll sahen mich beide an.
Was ich davon hielt? Mag er ein Magier sein oder ein Wissenschaftler oder gar der Teufel in Person: Das alles war absurd! Selbst wenn es meine Katrin war und er sie auf unerklärliche Weise verjüngt hatte, so musste sie doch wie ich vier Jahrzehnte gelebt haben. Wie kann man dann noch eine erste Liebesnacht erleben?
Ja, könnte man ein völlig neuer Mensch sein. Und das Leben wäre so neu wie am ersten Tag …
Ich schüttelte den Kopf.
Zwischenbemerkung. Ich weiß, was Sie jetzt von mir denken. Man hätte mich hypnotisiert, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Der Jasmingeruch sei wahrscheinlich der von Haschisch gewesen...
Nichts davon, meine Herren! Lesen Sie nur weiter.
Auf mein Kopfschütteln schwiegen sie. Besonders sie, die ich einmal haben wollte, wie ein Mann eine Frau haben will (aber damals war ich noch kein Mann, ich wollte durch sie einer werden), die sah mich sprachlos an.
Ich hielt noch das Glas in der Hand. Jetzt sah ich, es war ein sehr feines Glas, ein Kognakglas. Ganz vorsichtig stellte ich es auf einen kleinen runden Beistelltisch, dann bewegte ich mich lässig zum Garderobenständer, nahm Hut und Mantel und ging.
Und sie standen wie Bühnenfiguren, wenn der Vorhang fällt.
Das gefiel mir.
Ja, auch ich kann eine Schau abziehen.
Durch einen Rempler erkannte ich, ich war auf der Friedrichstraße. Ein Pulk bayrischer Touristen zog an mir vorbei. Plötzlich hatte ich Heißhunger. Ich ging ins nächste Restaurant.
Die Stille dort, die weiß gedeckten Tische mit den Kerzen, die feierlich gekleideten Damen sowie Herren, die wie im Gebet ihre Köpfe über die Tische neigten und ab und zu Seufzer oder Gemurmel von sich gaben, das wirkte auf mich wie eine Kirchenmesse.
Ja, mir war nach Beten, nach Beten mit Messer und Gabel und Kauen und Trinken. Denn in meinem Schädel jagte ein irrer Gedanke den nächsten.
Ich bestellte bei dem leise herantretenden Hochwürden eine profane Andacht aus Gänsebraten mit Klößen und Rotkohl, dazu Rheinwein. Und dann ließ ich den Gedanken freien Lauf, nach meiner Erfahrung, die beste Art, sie in Reih und Glied zu bringen.
Dieses nuttige Ding mit dem Gesicht von Katrin! Wie war der Kerl an ihr Gesicht gekommen? Überhaupt: Woher wusste er von meiner Vergangenheit? Und besonders von der – wie sagte er? – „nicht zustande gekommenen Liebesnacht“?
Von wegen Liebesnacht. Beinahe hätte ich in dieser Nacht eine Frau vergewaltigt.
Das war in München, Anfang der 60er, Katrin studierte als einzige Frau Volkswirtschaft, ich Jura. Wir kannten uns seit einem halben Jahr, und an einem Samstagabend hatten wir uns verabredet, ich sollte sie vom Hauptbahnhof abholen, und dann wollte ich sie mit auf mein Zimmer nehmen, denn diesmal würde es nicht beim Händchenhalten bleiben. Ich war 22 und hatte noch keine Frau berührt.
Meine Herren, Sie sind vielleicht jünger als ich, und darum will ich es erklären. Heute ist es kein Problem, aber damals war Sex außerhalb der Ehe kriminell, nicht einmal küssen durfte man sich in der Öffentlichkeit, und vor 22 Uhr hatte man die Wohnung seiner Freundin zu verlassen, wenn deren Eltern nicht riskieren wollten, der Kuppelei angeklagt zu werden.
Ja, und darum wartete ich ziemlich hippelig am Bahnhofseingang. Ich wartete und wartete, sie kam nicht. Ich schwitzte und ich fror, erst konnte ich es nicht glauben, dann war ich verstört und endlich bis ins Blut getroffen, und da wollte ich, nein musste ich, schon meiner Selbstachtung wegen, etwas tun. Ich sprach eine junge Frau an, bat sie um ein Gespräch bei einer Tasse Kaffee. Sie lief sofort weg, aber ich wollte nicht schon wieder von einer Frau verschmäht werden, also lief ich neben ihr her, flüsternd, flehend um ein Date. Der Mond.. Dieser Mond! Seitdem hasse ich ihn. Er war ein riesiges gelbes Auge, es folgte uns über den Dächern, uns fortwährend beobachtend. Plötzlich machte die Frau kehrt und rannte zum Bahnhof zurück, wo sie, wie ich aus der Ferne sehen konnte, zwei Männer um Hilfe bat. Da hatte ich schon aufgegeben und saß mit zitternden Knien in der Straßenbahn, ich wollte nach Haus.
Drei Tage später war ich in West-Berlin und bewarb mich um einen Ausbildungsplatz bei der Polizei. Katrin sah ich nie wieder.
Bis heute.
Und plötzlich fiel mir ein, ich hatte den Magier ja wegen eines Mordes aufgesucht! Dem Journalisten war die Kehle durchbissen worden. Wie von einem Raubtier. Einem Panther womöglich.
Und – ich kam wieder zu mir – der Tote war garantiert keine Illusion.
Ich zahlte und ging auf die Straße. Welch eine Erleichterung, alles an seinem gewohnten Platz zu sehen: die Gebäude, die Autos, die Fußgänger.
Ich kehrte ins Hotel zurück. Diesmal wollte ich mich nicht überrumpeln lassen.
Er schien nicht überrascht. Die junge Frau mit Katrins Gesicht saß in dem Sessel, in dem ich zuvor fast ertrunken war, die Beine mit den Lederstiefeln übereinander geschlagen, und sagte mit einem Lächeln:
„Ich wusste, du kommst zurück!“
„Nicht Ihretwegen“, sagte ich, „seinetwegen. Ich habe ein paar Fragen an ihn.“
Sie stand auf und kam zu mir. Das Leder auf ihrer Haut knirschte.
„Dummer Kerl, warum siezt du mich? Ich bin es! Katrin! Deine Katrin! Gefall ich dir nicht mehr? Das habe ich für dich angezogen. Das ist sexy! Heute darf man das! Hast du vergessen, was wir damals wollten? Wir wollten zu dir. Deine Vermieterin war im Krankenhaus, wir hätten bumsen können, die ganze Nacht! Mein Gott, wie ich es wollte … Und dann kamst du nicht.”
Ja, sie war es, sie war es wirklich. Ich bekam einen Lachanfall, bis ich mich verschluckte.
Sie blickte mich erstaunt an.
Und dieser Blick war es, dieser Blick wischte die 40 Jahre einfach weg.
Als wäre ich gestern am Bahnhof gewesen und jetzt standen wir uns gegenüber.
Ich sagte: „Was redest du da! Das war völlig anders! Du kamst nicht. Ich wartete, fast eine ganze Stunde habe ich gewartet.“
Sie antwortete: „Ich hatte den Zug verpasst, ich musste den eine Stunde später nehmen.“
Und dann schwiegen wir beide.
„Mit Handy wäre das nicht passiert“, sagte der Doktor im Hintergrund. Und mit einem kurzen Lachen fügte er hinzu: „Pardon, der Werbespot musste sein.“
Langsam ging sie zu ihrem Sessel und ließ sich hineinfallen.
Der Magier kam heran, blieb zwischen uns stehen und sagte sanft: „Wie ärgerlich! Ein Missverständnis. Aber was soll‘s: Ihr habt eine zweite Chance! Ich geb euch eine Nacht. Aber dann müssen Sie, Herr Kommissar, wieder zu dem scharfen Burschen von damals werden. Kommen Sie. Ich werde Sie jetzt verjüngen. Treten Sie ein in meine Zauberkabinen und kommen Sie als junger Mann wieder …“
„Bitte, tu es!“ hörte ich Katrin sagen.
Ich betrachtete sie. Knallrote Lippen, künstliche Wimpern, dunkle Augenlider.
Meine Katrin? Niemals. Eine traurige Lüge, die armselige Hochstapelei einer alten Frau, die sich mit der Wirklichkeit nicht abfinden konnte.
Sie täte mir leid, sagte ich schließlich, aber ich hätte kein Interesse.
Sie sprang auf, warf den Kopf in den Nacken und ging aus dem Zimmer.
Der Doktor wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann meinte er: „Prachtvoller Abgang, was?“
„Ich habe ein paar Fragen an Sie“, sagte ich.
„Achja, der Herr Kommissar, er muss seine Arbeit tun. Mann, Sie sind doch pensioniert! Erleben Sie lieber noch was, bevor der große Abgang kommt. Schon gut, ich werde Ihre Fragen beantworten. Gestatten Sie mir zuvor ein paar prinzipielle Bemerkungen. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Die Kunstakademie?“ Er zeigte zum Fenster. „Ein Ort der Kreativität. Aber was heißt bei Künstlern Kreativität? Sie äffen bloß die Wirklichkeit nach, und wenn sich ihre Kunst noch so revolutionär gibt, es bleibt im Kern alles beim Alten. Aber wie wäre es, wenn jemand tatsächlich eine neue Wirklichkeit schafft? Der wäre echt kreativ, und der, mein Lieber, bin ich! Ich kann es! Neue Kreaturen, eine neue Schöpfung. Aber sind die Menschen bereit dazu? Nicht mal Sie sind es, Herr Kommissar, und hätten damit doch die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen.. Lieber glauben die Menschen an Magie. Gut, sollen sie es für Illusion halten, ich habe meinen Spaß dabei. Da unten lacht das Publikum und oben lach ich über sie. Zu komisch, was?“
Ich wollte etwas sagen, er redete sofort weiter:
„Aber die Zeit kommt, dann wird die Menschheit meine Entdeckung nutzen. Sehen Sie, wie jung ich bin. Dabei bin ich so alt wie Sie. Verjüngen, verwandeln, ja, sogar Totes lebendig machen.. Das kann meine Technik, und diese Technik werden die Menschen eines Tages nutzen, das ist nicht aufzuhalten. Ich bin der Zeit voraus, das ist alles.“
Was soll das Gerede, dachte ich. Er hat Blut an den Händen. Möge er tausend Mal ein genialer Wissenschaftler sein, er hetzte eine Bestie auf den Journalisten und ließ ihn töten.
Und darum sagte ich: „Sie lügen. Ihnen geht es in Wahrheit nur ums Geld. Sie haben den Journalisten umgebracht. Er war hinter Ihr Geheimnis gekommen. Und Sie befürchteten, er bringt es an die Öffentlichkeit. Dann wäre Schluss gewesen mit Ihrer Magie! Schluss mit Ihren Vorstellungen! Technik, bloße Technik, was ist das schon, wir haben uns längst an ihre Wunder gewöhnt…“
Den Kopf schüttelnd, machte der Doktor mehrmals „tzztzzz“.
„Offenbar habe ich Ihre Intelligenz überschätzt. Mann Gottes! Ich lade einen kleinen Kriminalbeamten ein, mit mir einen Triumph der Wissenschaft zu teilen und er reagiert wie ein Erbsenzähler. Geld! Dass ich nicht lache. Ich kann Millionen aus der Kabine zaubern... Außerdem war das mit dem Journalisten gar nicht meine Idee, sondern Katrins. Ich sollte Sie durch Spurenlegen zu uns bringen. Eine Art Schnitzeljagd. Und sagen Sie selbst: Wie anders als mit einem Mord kann man Ihr Interesse wecken?“
Wir sahen uns in die Augen. Er lächelte.
„Eigentlich sind Sie der Mörder, zumindest aber die Ursache des Mordes.“
Ich nahm den Hut und stand auf.
„Wissen Sie was? Ich bring Sie in den Knast.“
„Freut mich.“ Höflich begleitete er mich zur Tür und öffnete sie. „Auf Wiedersehen.“