Loe raamatut: «Ein Verteidiger», lehekülg 2
Kapitel 2
Hedwig von Viersen lag mit offenen Augen. Ausdruckslos, starr, abwesend hing der Blick im Wipfelgrün.
Ein dunkler, unergründlicher Blick!
Rätselhaft streng und kalt wie in den ersten Tagen der durch Bendring versuchten Annäherung.
Pfeifende Atemzüge, ein Zucken um die fest geschlossenen Lippen und das ruckweise Wogen der Brust zeigten an, daß das Leben dem Körper noch nicht entflohen war. Aber starr blieb der Blick, farb- und regungslos das marmorne Antlitz.
Bendring setzte seine Hilferufe fort. Er unterbrach sie mit erschütternden Klagelauten und heißen Liebesworten, er berührte mit dem bebenden Munde ihre hohe, klare, reine Stirn und hauchte einen Kuß auf ihre Lippen.
Sie schien es nicht zu empfinden, schien aus ihrer Abwesenheit nicht erwachen zu können. Die Lider senkten sich langsam über die braunen Augensterne und zuckten in die vorige Starrheit zurück, der Blick blieb unnatürlich groß und wie forschend in weite Fernen gerichtet.
Erst nach langen Minuten lösten sich die zitternden Lippen von einander und die Augenlider schlossen sich schwer.
Bendring stöhnte in stummem Jammer auf.
Der Tod?
Der Tod, der die Lider schloß?
»Hedwig! Geliebte! O du Arme, Teure, stirb mir nicht! Geh nicht – – geh nicht von mir!« stotterte er in heißem Schluchzen.
Und als ob sein Bitten beschwörende Kraft hätte, so schlug sie die Augen wieder auf, neigte den Kopf ihm zu und umfaßte ihn mit weichem, klarem Erkennen.
Er erschöpfte sich in stammelnden Beteuerungen, bis ein leises Bitten von ihren Lippen ihn verstummen ließ.
In atemloser Spannung beobachtete er, wie sie Kraft zu sammeln suchte, und angstvoll horchte er zugleich auf sich nähernde Schritte, die Hilfe bringen, auf Menschen, – Kietz – Hansen –, die nach dem Telegraphenamt eilen und den Arzt – – irgend einen Arzt – von Plön herbeordern konnten.
»Fritz!« flüsterte das Mädchen.
»Hedwig, sprich: wer war's, wer konnte dir das anthun?« drang er flehend in sie.
Sie wehrte durch sanftes, kaum merkliches Kopfschütteln ab.
»Wer – wer – wer!« wiederholte er in maßlosem Schmerze.
»Wer?« sagte sie leise. »Ich – weiß es nicht. Ich – sah niemand – und nichts – – nur den roten Feuerstrahl – und den Dampf. Von da her –.« Sie wies mit dem abschweifenden Blick auf ein undurchdringlich dichtes, mannshohes Buschwerk. »– – Und laß es – Fritz. Kannst du mich – verstehen? Mir ist schwach. Trauere nicht, Fritz. Ich – weiß, daß ich sterben muß –«
»Nein, mein Herzensweib, du wirst leben!« preßte er qualvoll über die Lippen.
»Laß mich reden,« bat sie. »Höre – – ich habe nicht lange Zeit. Du – hast mich lieb gehabt – ich dich – – und es war nicht gut von mir. Ich – war nicht rein. Eine Hand – eine schlechte Hand – hatte sich ausgestreckt nach mir – und mich – entweiht. Still – ich muß beichten – vor dir – vor unserm Gott. Ich habe einen Mann geliebt – mit der Kraft meines Herzens. Ich war jung, unerfahren, vertrauend. Der Mann durfte mich nicht lieben – ich ihn nicht. Er – gehörte – einer andern. Einer, die ich nicht kannte – von der ich nichts geahnt hatte – von der sie mir sagten, die Leute, die Fremden. Er hatte es mir verschwiegen – er gestand es mir zu. Ich – haßte ihn – – ich haßte dich, als du kamst – nach ihm – nach dem Frevler, der – meine Seele getötet hatte. Er wollte mich zwingen, mit der Waffe in der Hand, mit ihm zu gehen – er bat, er fluchte, er beschwor mich – ich – habe ihn geschlagen. Das war das letzte – er ging – von mir – von seinem Weibe – in die Ferne – ein Reueloser. Er schrieb noch, dann blieb es still. Ich hörte nichts mehr von ihm – nichts von ihr.«
»Sein Name? – Sein Name?« drängte der atemlos Lauschende.
»– Tot, begraben. Er ist – nie mehr – über meine Lippen gekommen. Er soll mir nicht auch noch die Todesstunde vergällen .
»Nenne ihn!« flehte Bendring.
Sie wehrte ab.
»Nein!« klang es mit seltsamer Energie.
Ein Verdacht flammte in Bendring auf: Der Mann war der Frevler! Der Treubrüchige war der Mörder! Er hatte das keusche Weib nicht zu Fall bringen können, er hatte sie nicht einem andern gegönnt, er hatte im Wahnwitz die Waffe zum zweiten Male gegen sie erhoben und sie hingestreckt. Er! Er!
»Nenne ihn – um der Gerechtigkeit willen, nenne ihn! Wenn du mich liebst: nenne ihn!« drängte er auf die Schwerleidende ein.
»Er ist fern,« hauchte sie. »Laß ihn. War ich schuldlos?«
»Ja, tausendmal ja!« unterbrach er stürmisch.
»– Ja –,« wiederholte sie, und ein Lächeln ging wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge. » – Ja Fritz – der Gedanke an die – Schande hat mich gequält – deine Liebe hat mich entsühnt. Du hast mich heilig geliebt – und rein gemacht. Fritz – ich danke dir. Ich – liebte dich wieder – ich gewann die Zuversicht, daß ich es durfte. Aber ich hätte es nicht dürfen. Ich hätte dir das Leid ersparen müssen, das – mein Tod dir bringt. Wen einmal die Sünde mit ihrem Atem streifte – der ist ihr verfallen. Ich war's. Ich hätte es wissen sollen –«
»Nein, das darf ich nicht hören, das darfst du nicht sagen,« unterbrach er mit strömender Herzlichkeit. »Du warst, du bist und bleibst mein Glück und meine Hoffnung – Hedwig, du wirst gesunden, du mußt es – du warst mein Stern, der mich gehoben hat, du wirst es bleiben für immer. Quäle dich nicht, schweige, ruhe – laß mich forteilen, Hilfe zu holen – – bleib still, ganz still! Laß die Hände auf der Brust, harre aus. – Gott im Himmel, daß kein Mensch zur Stelle ist. Erschrick nicht, Lieb, wenn ich rufe. Liege still ganz still!«
Er sprang auf, lief bis an die den Waldstreifen von der Landstraße trennende Wiese und rief aus Leibeskräften:
»Hilfe! Kietz, Hansen – Hilfe!«
Er bemerkte einen Jungen, der sein Rufen offenbar gehört hatte und eilig die Landstraße entlang nach der Schwiddeldei lief.
Er kehrte zu der Geliebten zurück und war entsetzt über die Veränderung, die in den wenigen Minuten seiner Abwesenheit mit dem Mädchen vorgegangen war. Auf dem todesbleichen Gesichte lag ein weiches, glückliches Lächeln, die Augen waren geschlossen und tief umrändert, das Kinn auf die Brust gesunken, der Mund wie zum Sprechen geöffnet.
Der Atem ging kaum hörbar, ein Heben der Brust war nicht mehr zu erkennen.
»Gott im Himmel!« stotterte er mit versagender Kraft. »Das – das – ist doch der Tod! Hedwig, wie gern – wie gern mein Leben für das deine! Hedwig – hörst du mich? Lieb, kannst du sprechen – kannst du hören? Kannst du mich verstehen? Mein Lieb, mein Herzenslieb – – «
Er tastete über ihre Hände und fuhr erschauernd zurück. Kalt! Kalter Schweiß – Todesschweiß – auf der leuchtenden Stirn.
Das Ende!
Zu Ende ein Leben, ein Traum, alles Hoffen – alles Glück!
Der Tod!
Ja, er war gekommen.
Er hatte ihm das Beste, er hatte ihm alles genommen.
Alles! Alles!
Er kniete in schluchzender Andacht und sah den alten Kietz nicht, der sorglos, den Arm voll Blumen, den Fußsteig herankam.
Der Fischer hatte nichts von den Rufen des Verzweifelten gehört. Sein Gehör war nicht mehr gut, das Alter machte sich geltend. Er hatte Blumen gepflückt, war an die Landestelle gekommen, hatte das Boot nicht bemerkt, und war gegangen, es am Spieß zu suchen. Es mußte ja dort sein; er hatte es schon wiederholt von dort abgeholt.
Er blieb vor der seltsamen Gruppe überrascht stehen.
War dem Stadtfräulein unwohl geworden? War sie gefallen? Vielleicht über eine der Wurzeln, die sich stellenweise über den Boden erhoben und ihn holprig machten?
Er ging noch etwas näher.
»Herr Bendring – jo!«
Kietz schüttelte den Kopf, als die Antwort ausblieb.
»Herr Bendring – jo!« wiederholte er lauter.
Der Angerufene hob müde den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die schwimmenden Augen.
»Um Gottes willen – jo –«
Kietz kam näher, so rasch es ging.
»Was – was is? Herr Bendring – Herrgott – was – was –«
Er vergaß zum erstenmale in seinem Leben den gewohnten Nachsatz und starrte wie entgeistert auf die tote Braut.
»Ja, Kietz,« sagte der Anwalt und nickte. »Ja, sie ist nicht mehr. Tot, Kietz.«
»Nee!« stotterte der alte Mann tödlich bestürzt. »Das – das –«
Er vermochte nicht zu sprechen.
»Geben Sie die Blumen her, alter Freund,« bat Bendring.
Kietz stand wie gebannt. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, daß er sich nicht zu rühren vermochte.
»T – t – tot,« murmelte er abgerissen.
Dann schien er sich zu besinnen.
»Herr Bendring – nee – das – das – scheint man so – jo. Ich – warten Sie – ich hole den Doktor – mit 'n Draht – jo.«
Er legte die Blumen unbeholfen neben die vermeintlich Bewußtlose und stolperte schwerfällig davon.
Bendring ließ ihn gewähren.
Dann kamen die Leute von der Schwiddeldei, eilig, aufgeregt, atemlos. Allen voran der Besitzer des Hotels.
»Um Gottes willen, Herr Bendring,« keuchte Hansen schon von ferne. »Ihr Fräulein Braut – Fräulein von Viersen – sie ist doch nicht etwa – – Mein Gott, der Junge sagte, Sie riefen nach Hilfe –«
Er kam im Laufschritt angeeilt und stand überrascht und verstört vor der Toten, die er vor einer knappen Stunde blühend und heiter das Haus hatte verlassen sehen.
Bendring faßte sich gewaltsam.
»Ja, sie schläft. Und sie wird nicht mehr erwachen. Sie ist einem unfaßbaren und ungeheuerlichen Verbrechen zum Opfer gefallen, das den Frieden unseres stillen Erdenwinkels grausam gestört hat. Ein Mord in dieser traulichen Abgeschiedenheit – ich hätte eher den Einsturz des Himmels für möglich gehalten. Aber es ist geschehen. Keines Menschen Macht ruft das entflohene Leben zurück. Was Menschen noch thun können, was ich thun muß: den Schurken ermitteln, der aus dem Hinterhalte die mörderische Kugel abgefeuert hat! Kietz ist unterwegs nach dem Bahnhof, um den Arzt zu rufen. Ich bleibe bei meiner Toten. Stellen Sie Ihre Leute und die Bekannten, die herzuströmen, in weitem Umkreis um den Ort des Verbrechens als Posten auf, damit niemand den engeren Thatort betreten und Spuren, die vielleicht vorhanden sind, verwischen kann; die ersten Posten am Bootshaus, eine Kette über die Wiese bis an die Landstraße, diese entlang und wieder über die Wiese und durch die Holzung bis an den Spieß. Und wenn das besorgt ist, spannen Sie an, jagen Sie Kietz nach, telegraphieren Sie an die Staatsanwaltschaft nach Kiel, an den Kreisphysikus nach Plön und bringen Sie den Guts- und den Amtsvorsteher zur Stelle, so schnell als möglich.«
»Ja – ja – «
Hansen eilte zurück.
»M – – mord –,« keuchte er unterwegs. »Wer das gedacht hätte!«
Er traf auf seine Frau und berichtete ihr fliegend.
Die Frau drohte umzusinken, so packten sie der Schrecken und das Mitleid.
»Ach, das Unglück! Das Unglück!«
Sie mußte sich niedersetzen.
»Das arme Fräulein! Die arme, alte Mutter! Und der Herr Bendring… «
»Bleib! Laß niemand durch,« bat Hansen und flog weiter.
Er stellte die herbeiströmenden Leute zu einer Postenkette auf, wie der Anwalt es angeordnet hatte. Und die Leute gehorchten verständig und willig …
Kapitel 3
»Mein totes Lieb, ich werde dich rächen!«
Fritz Bendring bedeckte das schöne, verklärte Antlitz der jählings Verschiedenen mit einem Taschentuche, kniete andächtig minutenlang und wanderte dann ruhelos um die Leiche.
Schmerz und Bitterkeit erfüllten ihn.
»Der Blitzstrahl kann die Eiche treffen und zersplittern,« murmelte er, »die Menschen kommen und heilen die Wunde, und der Baum steht und grünt weiter; der Blitzstrahl, der auf den Menschen niederzuckt, wirkt vernichtend. Feld, Wiese, Wald erstehen neu, ob sie auch gestorben schienen; den Menschen weckt kein Lenz, kein Regen und keine Sonne. Der Blume, dem Unkraut bleibt, wenn Blatt und Blüte verwelkt, und verweht sind, die Wurzel in der hegenden Erde; den Menschen hält und hegt die Erde nicht, ihm bringt sie das Verfallen und Vergehen, die Auflösung in ein armes, spurenloses Nichts! Aermer der Mensch als das nichtigste Werk von seiner Hand! Das Haus, das er sich erbaut, steht fort, wenn ihm die Seele genommen ist; das Kleid, das er getragen hat, überdauert das Welken seines Leibes; ein Schmuckstück vererbt sich durch die Generationen und wird gehalten und geschätzt, wenn das Gedenken an den Erzeuger, an den ersten Träger lange verweht ist.«
Er starrte auf die Entschlafene.
Rein und freudig leuchtete im Waldgrün das weiße Kleid, schneeig das die Züge der Verklärten verhüllende Tuch. Und mitten im Frieden des flüsternden Waldes das Sterben, unter dem deckenden, freudigen Weiß der Tod, der grinsende Tod!
»Wen einmal die Sünde mit ihrem Atem streifte, der ist ihr verfallen,« wiederholte er flüsternd ihre letzten Worte.
»Du?« setzte er fragend hinzu. »Nimmermehr! Schlafe, Geliebte, du wirst einen gerechten Richter finden, der dir ins Herz gesehen und die Pein geschaut hat, die der Gedanke an die Sünde deinem keuschen Empfinden bereitet hat. Sie konnte sich dir nähern, aber dich nicht umspinnen und mit sich reißen. Das Heilige in deiner Brust schützte dich vor ihrem vergiftenden, betäubenden, tötenden Hauche. Sie prallte ab an dir und ließ dich schuldlos und frei. Nur befangen warst du geworden, scheu, mit zitterndem Fragen, mit einem Bangen, wie es im Kinde wohnt. Ich will dich heilig halten, ich will dich ehren und lieben mein Leben lang.«
Er lehnte sich gegen den hellschimmernden Stamm einer Buche, strich sich über die schmerzenden Augen und schloß sie.
Eine weihevolle Stille webte an der Stätte des Todes und erfüllte den Mann mit stummem Geloben.
Gerade Rechtlichkeit hatte ihn in seiner Laufbahn geleitet, ein Erbteil seiner schlichten Eltern; sie sollte ihm ein Vermächtnis auch von der teuren Toten sein.
Empfinden und Geloben dämmerten ihm fast traumhaft.
Ein eiliger Schritt weckte ihn.
Ein alter, vornehmer Herr näherte sich dem Schauplatze des Verbrechens, machte vor dem Rechtsanwalt Halt und streckte ihm in schlichter, teilnahmsvoller Bewegung die Hand entgegen.
Der Angekommene war der Gutsherr und Amtsvorsteher Graf von Borndorff.
»Herr Doktor, ein Händedruck wird mehr sagen als Worte.«
Bendring ergriff die ihm dargebotene Rechte und drückte sie. Mit Worten zu danken vermochte er nicht.
Der alte Schloßherr war im ganzen kein Freund der Sommerfrischler, die ihm die ländliche Stille zu stören schienen. Er war selbst dem immer wiederkehrenden Anwalt gegenüber nur selten aus seiner kühl-vornehmen Zurückhaltung herausgetreten und hatte höchstens einmal zu dem Besitzer der Schwiddeldei von dem Gaste und der schwindenden Abneigung gegen diesen gesprochen. In der Stunde des Unglücks gab sich der Graf nach seiner wahren Natur, taktvoll und einfach, ein diskret, aber warm teilnehmender Mensch.
»Ich habe die Freude gehabt, Ihr Fräulein Braut zu grüßen, ehe Sie hierher nachkamen,« sagte er. »Darf ich die Züge der Toten sehen?«
Bendring nickte stumm.
Graf Borndorff hob das Tuch nur für wenige Sekunden, dann breitete er es sorgsam wieder aus.
»Sie hat den Frieden.«
Er sagte es halb für sich, und auch die folgenden Worte schienen mehr aus seinem inneren Empfinden als zu dem Anwalt gesprochen:
»Ich habe mein Amt bisher nicht als Last gefühlt; der Ernst dieser Stunde zeigt mir seine Bürde.«
Der Graf wandte sich an Bendring.
»Sie haben Unersetzliches verloren; bewahren Sie den Mut und die Hoffnung, daß die Schreckensthat ihre Sühne finden wird. Und bewahren Sie den Mut und die Fähigkeit, an der Ermittelung des Schuldigen mitzuwirken.«
»Ja, beim Andenken an die geheiligte Tote!« gelobte Bendring mit bebendem Ernst.
Der alte Herr nickte.
»Die Sonne hat es gesehen; sie kann nicht reden, aber sie wird uns leuchten.«
Er folgte, die Hände auf den Rücken gelegt, den ausdrucksvollen, grauen Kopf leicht nach vorn geneigt, dem Fußwege nach dem Spieß zu. Noch in Sehweite des Zurückgebliebenen kehrte er um, faßte Bendring, wieder bei diesem angelangt, an beiden Händen und sagte mit vor Erregung zitternder Stimme:
»Ich habe ein Kind wie diese hier. Gott, wenn ich denken müßte, daß sie so vor mir läge! Lassen Sie mich noch einmal aussprechen, wie warm ich mit Ihnen fühle!«
Er machte sich rasch los und entfernte sich nach dem Bootshause.
Die Postenkette wurde durch die aus der Gegend zuströmenden Neugierigen immer dichter gezogen. Aber Junge und Alte thaten ihre Pflicht. Sie hielten sich vom Schauplatze des Verbrechens standhaft fern und beobachteten eine sie ehrende, würdige Ruhe.
Der Graf ließ sich aus einem umgestülpten Eimer unter dem schrägen Strohdache des Bootshauses nieder und wartete auf den herbeigerufenen Richter vom Amtsgericht in Plön. Ein Zweispänner vom Gute und Hansen mit seinem Korbwagen hielten am Bahnhof Ascheberg, um den Arzt, den Richter und seine vermutlichen Begleiter in Empfang zu nehmen.
Der Gutsvorsteher Heinrich Eicksen, der in einem Nachbardorfe zu Besuch gewesen war, gesellte sich eben zu dem Grafen, als auf der schattigen Landstraße die Wagen vom Bahnhofe in scharfem Trabe herangerollt kamen. Dem gräflichen Zweispänner entstiegen der Amtsrichter von Goos, der Kreisphysikus Doktor Eßfeld nebst dem als Kreiswundarzt fungierenden Kollegen und einem Gerichtsschreiber. Mit Hansen folgten zwei Gendarmen.
Graf Borndorff übernahm nach einer kurzen Aussprache mit dem ihm bekannten Richter die Führung.
Dr. Bendring hatte Zeit gehabt, sich zu sammeln. Er empfing die Herren, von denen der Amtsrichter und der Kreisphysikus ihm nicht fremd waren, gefaßt.
»Herr Kollege,« begrüßte ihn der Richter kurz und ernst, »ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß mich die Trauerkunde doppelt erschüttert hat, als ich erfuhr, in wie naher Beziehung Sie zu der Toten standen. Sind wir uns nicht häufig begegnet und immer nur in Ihrem Ferienidyll, so habe ich Sie doch schätzen gelernt. und Sie werden mir gestatten, meinem herzlichen persönlichen Beileide Ausdruck zu geben. Als Beamter richte ich die Bitte an Sie, mir Rater und Helfer zu sein, daß der Mordbube der strafenden Gerechtigkeit ausgeliefert werde.«
Keiner der Herren vermochte sich eines Schauers zu erwehren, als der Anwalt auf Ersuchen des Richters das Tuch von dem Antlitz der Toten entfernte und die weichen, unendlich lieblichen, friedvoll verklärten Züge des jungen Weibes sichtbar wurden.
Der Amtsrichter gewann die Herrschaft über sich zuerst zurück. Die Ruhe des kraftvollen Willens spannte sich über sein breites, eckiges, bartloses Gesicht; er orientierte sich mit den kühlen, stahlgrauen Augen über die nächste Umgebung und ersuchte den Gerichtsschreiber, nach dem beginnenden Verhör das Protokoll abzufassen. Seine etwas spröde, harte Baßstimme paßte zu seiner herkulischen Gestalt, und seine klare, knappe Frageweise entsprach seinem jeder Sentimentalität abgeneigten, festen, selbstbewußt männlichen Wesen.
»Herr Dr. Bendring, ich bitte. Wie heißt die Tote?«
Der Anwalt antworte kurz und sachlich
»Geburtstag, -Jahr und -Ort?«
»Der 18. Juni 1874. Geburtsort: Berlin.«
»Die Eltern?«
»Der Vater war Oberst. Er ist seit drei Jahren tot. Die Mutter hat die Tochter begleitet und ist im Hotel. – Mein Gott, sie weiß noch nichts!«
Die Stimme Bendrings schwankte doch wieder.
Der Amtsrichter schien es nicht zu bemerken.
»Wie lange weilen die Damen hier?« fragte er weiter.
»Seit drei Wochen. Sie waren mir vorausgefahren.«
»Auf Ihren Wunsch?«
»Auf meine Empfehlung.«
»Wann sind Sie nachgekommen?«
»Vor fünf Tagen.«
»Wer hat das Verbrechen entdeckt?«
»Ich,« antwortete Bendring.
»Allein?«
»Ja.«
»Wann war das?«
»Gegen elf Uhr.«
»Herr Dr. Eßfeld: Wodurch wurde der Tod herbeigeführt?«
»Durch einen Schuß.«
»Herr Dr. Bendring, haben Sie einen Schuß gehört?«
»Ja.«
»Wann?«
»Kurz vor meiner Landung. Der aufsteigende Pulverdampf zeigte mir die Richtung.«
»Notieren Sie,« forderte Herr von Goos von dem Gerichtsschreiber: »Das Verbrechen wurde ausgeführt am 30. Juli gegen 11 Uhr.«
Er wandte sich wieder an den Rechtsanwalt. »Schlossen Sie sogleich auf ein Verbrechen?«
»Nein. Ich dachte zuerst an den Förster. Ich wurde aber unruhig, als meine Braut auf mein Rufen nicht antwortete.«
»That sie das sonst?«
»Stets.«
»Wie fanden Sie Ihr Fräulein Braut vor?«
»Noch lebend.«
Dr. Bendring berichtete ausführlich und wiederholte treu, was die Sterbende ihm anvertraut hatte.
Der Richter horchte aufmerksam.
»Sie hat ihren Vorsatz gehalten und den Namen des Mannes nicht genannt?«
»Ich habe sie vergebens gebeten. Und der Tod kam zu schnell.«
»Von wo sollte der Schuß gefeuert worden sein?«
Bendring bezeichnete die Richtung, die ihm Hedwig angedeutet hatte.
Der Amtsrichter trat an das Gebüsch und teilte die Zweige mit den Armen.
»Es ist hoch und dicht genug, den Thäter zu verbergen. Sie hat nichts von ihm gesehen?«
»Nein.«
»Sie selbst haben gleichfalls nichts bemerkt?«
»Nein.«
»Haben Sie nachgesucht?«
»Ich habe mir das Selbstverständliche gesagt, daß der Thäter bestrebt sein mußte, sich in Sicherheit zu bringen, und daß es umsonst sein würde, direkt neben seinem Opfer nach ihm auszuschauen. Weiter war es für mich selbstverständlich, um die Schwerverwundete zu sorgen.«
»Allerdings. Ist die Lage der Toten unverändert?«
»Ich hatte es vorausgesetzt. Herr Kreisphysikus: wo befindet sich die Todeswunde?«
Doktor Eßfeld kniete nieder und untersuchte. Er erklärte rein sachlich:
»Der Körper ist bereits in Todesstarre übergegangen, und genaue Angaben müssen von der Obduktion abhängig gemacht werden. Den Anzeichen nach war der Schuß auf die Brust gerichtet und hat das Herz gestreift; hätte er es durchbohrt, wäre der Tod momentan eingetreten.«
»Kugel- oder Schrotschuß, Herr Doktor?«
»Der Blutstrom deutet auf eine einzige Wunde, also aus Kugelschuß.«
»Flinten- oder Revolverkugel?«
»Das kann erst die genauere Untersuchung entscheiden.«
»Die Obduktion?«
»Ja.«
»Herr Rechtsanwalt, ich muß die Leiche mit Beschlag belegen. Sie werden das wissen und verstehen Ich glaube mich aber berechtigt und verpflichtet, alle Schonung zu üben und die Aufbahrung Ihrer Toten im Hotel zu gestatten.«
»Ich bitte darum, Herr Amtsrichter.«
Bendring reichte ihm dankend die Hand.
»Selbstverständlich, Herr Kollege. Das Weitere dürfte der Untersuchungsrichter verfügen, der ja nicht auf sich warten lassen wird. – Herr Graf, ist Ihnen von Gesindel bekannt, das sich in der Gegend herumgetrieben hat und mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden könnte?«
»Ich habe nichts davon gehört.«
»Herr Eicksen –?«
Der Gutsinspektor schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht.«
»Haben Sie davon vernommen?« zu den Gendarmen.
Beide verneinten.
»Könnte ein unglücklicher Zufall vorliegen, zum Beispiel der Förster gejagt und die Kugel sich verirrt haben?«
»Der Förster befand sich bis Mittag in meiner Gesellschaft,« erklärte Eicksen.
»Von wann an?«
»Von neun bis gegen zwölf.«
»Könnte jemand anders gejagt haben?«
»Nur mein Sohn, der aber auf Reisen ist,« bemerkte der Gutsherr. »Von den Kurgästen hatte ich allein dem Herrn Doktor Bendring erlaubt, sich zuweilen meinem Förster anzuschließen.«
»Gab es Wilderer in Ihrem Jagdgebiet, Herr Graf?«
»Ich kann bestimmt verneinen. Seit Jahren waren wir davon frei.«
»Hm. Herr Rechtsanwalt! Haben Sie einen Verdacht?«
»Welchen?«
»Es giebt wohl nur einen, den gleichen, den Sie haben!«
»Sprechen Sie ihn aus.«
»Herr Amtsrichter, mit Ihren eigenen Gedanken: der Mörder ist der Schurke, der die Ehre des schuldlosen Weibes anzutasten wagte – der Frevler, der von ihr zurückgewiesen wurde, der ihr gefolgt ist, der sie dem anderen nicht gegönnt, der sie mir entrissen hat mit himmelschreiender Unthat!«
Er hatte es leidenschaftlich überzeugt hervorgestoßen.
Der Richter bewegte zustimmend den Kopf.
»Es liegt uns noch ob, eine Durchsuchung des Platzes nach Spuren des Thäters vorzunehmen.«
Er gab den Gendarmen dazu Auftrag und nahm mit dem Anwalt und dem Amtsvorsteher selbst teil.
Der laubbedeckte Waldboden zeigte an ein paar Stellen hinter dem Buschwerk, das dem Verbrecher als Deckung gedient hatte, undeutliche Eindrücke, die möglicherweise vom Fuße eines Menschen herrühren konnten, denen aber irgend ein Wert um so weniger beizumessen war, als sie nicht einmal den Umriß eines Schuhwerks mit Sicherheit erkennen ließen. Waldrand und Wiese wurden in weitem Umkreise vergebens abgesucht.
Die Beamten kehrten zurück.
Am Thatort hatten sich Hansen und Kietz mit einer Tragbahre eingefunden.
Ein düsterer Zug, dem von dem Posten ehrerbietig Platz gemacht wurde und bei dessen Nahen die Leute die Häupter entblößten, bewegte sich bald darauf nach dem Gasthause.
Bendring war vorausgeeilt, die ahnungslose Mutter vorzubereiten.
Die Leiche wurde in einem der unteren Zimmer aufgebahrt, und während die fassungslose Mutter neben der Toten kniete und die welken, alten Lippen unverständliche, wehe Klagelaute stammelten, unterzeichneten im Gastzimmer die Herren das von dem Gerichtsschreiber stockend und monoton verlesene Protokoll.
Tasuta katkend on lõppenud.