Loe raamatut: «Im Schatten der Depression»
Dirk Biermann
IM SCHATTEN DER DEPRESSION
DIRK BIERMANN
Im Schatten der Depression
Was Angehörige durch schwere Zeiten tragen kann
© 2019 Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
E-Book 2020
Titelfoto: ©Sime Basioli/unsplash.com
Lektorat: Ralf Lay
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-332-7
INHALT
VORWORT: Depression geht alle an
EINLEITUNG: Im Schatten der Depression
TEIL 1
Sehen, wie es ist
ALLES, WAS ICH MACHE, IST FALSCH:
Angehörige und die Ohnmacht der Gefühle
HILF MIR, ABER LASS MICH BLOSS IN RUHE:
Kommunikation in Zeiten der Depression
AM LIEBSTEN WÜRDE ICH GAR NICHT MEHR AUFWACHEN:
Depression und Suizid
AUF DER SPIRALE IN DIE PASSIVITÄT:
Wenn Fürsorge ausufert
ANGEHÖRIGE UND BURNOUT:
Der Erschöpfung vorbeugen
TEIL 2
Eine innere Haltung einnehmen
EIN BEDEUTSAMER UNTERSCHIED:
Warum Mitgefühl so heilsam wirkt – und Mitleid nicht
BEWEGLICH IM KOPF, WEICH IM HERZ:
Was Achtsamkeit bewirken kann
DURCH WELCHE BRILLE BETRACHTE ICH DIE WELT?
Wenn Wahrnehmung auf Bewertung trifft
DARF DEPRESSION SEIN?
Plädoyer für einen offenen und mutigen Blick
auf das Phänomen depressiven Erlebens
TEIL 3
Neue Möglichkeiten entdecken
DER LANGE ATEM DER DEPRESSION:
Von der Last mit der Rolle
GRENZEN SETZEN STATT MAUERN BAUEN:
Die Anerkennung der Freiwilligkeit
VOM TUN-KÖNNEN UND BESSER-BLEIBEN-LASSEN:
Ideen für den Alltag
RÜCKSCHAU:
Zeit für ein Schlusswort
ANHANG
INSPIRATION
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
WEITERFÜHRENDE SEMINARE
ZUM AUTOR
Nicht immer einfach.
Oft schön.
Ich weiß es nicht
Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, depressiv zu erleben. Wirklich tief depressiv zu erleben. Die Welt wie durch eine Milchglasscheibe wahrzunehmen und sich zu fühlen wie innen mit Watte ausgestopft. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, keinen Sinn mehr in allem zu sehen. Am liebsten gar nicht mehr da sein zu wollen, weil die Verzweiflung einfach zu groß ist. Die Lieben, die mit am Tisch sitzen, zwar zu bemerken, aber keine wirkliche Verbindung zu ihnen zu spüren. Und ich weiß nicht, wie es ist, mit all seinen Gedanken und Sinnen nur noch um sich selbst und die eigenen Befindlichkeiten kreisen zu können, obwohl man das gar nicht will. Ich weiß das alles nicht. Vielleicht habe ich hin und wieder an diesem Erleben genippt, gewiss auch mal intensiver, doch wirklich wissen tue ich es nicht.
Deshalb gebührt allen Menschen, die den Zustand der Depression aus eigenem Erleben kennen, die sich der Angst und der Panik immer wieder mutig stellen, mein allergrößter Respekt. Wenn es in diesem Buch um eine andere Perspektive geht, um die gleichfalls schwierige Situation der nahen Angehörigen und engen Freunde, dann soll das die Lebensleistung der von Depression, Burnout, Angst und Panik direkt betroffenen Menschen keinen Deut schmälern.
VORWORT:
Depression geht alle an
Sie lesen die ersten Zeilen eines Buches, das sich mit dem Thema „Depression“ beschäftigt. Praktisches Interesse mag Sie dazu bewogen haben. Vielleicht, weil Sie ratlos sind und nicht mehr wissen, wie das alles weitergehen soll. „Das“ mit der Depression, mit den Ängsten und der Panik. Vielleicht sind Sie der nahe Angehörige eines Menschen, der an Depressionen oder Burnout leidet, ein Ehe- oder Lebenspartner, ein erwachsenes Kind oder ein Elternteil. Oder ein enger Freund, eine Freundin, eine Arbeitskollegin. Vielleicht beschäftigen Sie sich beruflich mit dem Thema als Berater, Ärztin oder Therapeutin und wollen sich der Situation von Angehörigen depressiv erlebender Menschen noch weiter öffnen. Warum auch immer Sie beschlossen haben, dieses Buch aufzuschlagen und die ersten Zeilen zu lesen: Sie sollten wissen, was Sie hier erwartet.
Allen voran eine Praxisnähe, die mutig genug ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und die auch die unangenehmen Begleiterscheinungen einer Depression beim Namen nennt. Mir ist daran gelegen, dass Sie beim Lesen immer wieder den Eindruck haben: Ja, so ist das bei mir auch. Oder: Ja, das habe ich auch schon beobachtet. Im Umkehrschluss bedeutet das: keine Tipps, die gegen die gefühlte Wucht der Depression keine Chance haben. Keine rosa Decke, die die wichtigen Themen aus Verlegenheit außen vor lässt. Und keine voreiligen Lösungen, die der komplexen Situation nicht gerecht werden können. Angehörige von depressiv leidenden Menschen haben in erster Linie eins: ganz wenig Zeit. Deshalb ist dieses Buch so umfangreich wie nötig und so kompakt wie möglich. Es sollen Gedanken zur Sprache kommen, die wirklich tragen.
Depression kann irritieren, anstrengen und frustrieren. Das gilt für alle, die an diesem Prozess beteiligt sind. Auch Angehörige von depressiv erlebenden Menschen leiden oft unter der Situation, weil sich ihr Leben meist grundlegend wandelt und verkompliziert, wenn der Partner oder ein enger Familienangehöriger in das schwarze Loch der Depression fällt. Die Sorgen um den geliebten Menschen sind rund um die Uhr spürbar und beanspruchen fast die gesamte Energie. Dabei wäre diese so nötig für die Bewältigung des Alltags; gibt es doch plötzlich so viel mehr zu tun, so viel mehr Verantwortung zu tragen und so viel mehr auszuhalten.
Angehörige fühlen sich davon oft überstrapaziert und beginnen zu leiden – nur anders als die primär von der Depression Betroffenen. Bei dieser Aussage geht es ausdrücklich nicht darum, Leid bilanzieren und gegeneinander aufrechnen zu wollen nach der Devise: Wer leidet mehr? Wer leidet warum? Oder gar: Wer ist verantwortlich für wessen Leid? Es geht nicht um Schuld oder persönliches Versagen. Und es geht schon gar nicht um den Versuch, einander gegenüberstehende Lager zu bilden und primär Betroffene und Angehörige voneinander zu trennen. Alle blicken auf dasselbe Thema – wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese gilt es zu erspüren und zu verstehen.
Das Zusammenleben mit einem depressiv erlebenden Partner kann aus vielerlei Gründen belasten. Dies mag dazu führen, dass sich Angehörige mit der Zeit als Opfer der Gegebenheiten fühlen. Das erscheint nachvollziehbar, gründen die eigenen Schwierigkeiten doch ursächlich in den Problemen eines anderen Menschen. Doch gerade dieses „Opfer“-Empfinden lässt viele Angehörige an der Situation verzweifeln – und sie viel länger und intensiver leiden als nötig. Das Gefühl, vom Leben ungerecht behandelt zu werden, kann es erschweren, der Depression und ihren Auswirkungen mit Akzeptanz und Offenheit zu begegnen. Das führt auf Dauer fast zwangsläufig zu Groll – und der wendet sich mit seiner destruktiven Energie irgendwann gegen den Angehörigen selbst und begleitet ihn meist weit über die aktuelle depressive Phase des Partners hinaus.
Bleiben wir also schon aus Eigeninteresse bei dieser Ausgangsthese: Angehörige sind keine Opfer. Aber sie sind Teil einer Dynamik, die keine Rücksicht auf persönliche Grenzen nimmt und die mit ihrer durchdringenden Negativität und Schwere den Alltag von Familien, Partnerschaften und Freundschaften zu durchdringen und auf die Probe zu stellen weiß. Depression hat das Potenzial, Beziehungen und Partnerschaften massiv zu belasten und manchmal sogar zu sprengen. Je unbewusster und unwissender die Beteiligten dieser Dynamik und dem Wesen der Depression begegnen, desto anstrengender und schmerzhafter gestaltet sich das alltägliche Zusammenleben – und damit das Leben der Angehörigen an sich.
Und doch besteht Anlass zu Hoffnung und Zuversicht. Denn Angehörige müssen trotz all der Schwierigkeiten, die ihr Leben nun für sie bereithält, nicht über Gebühr leiden. Allerdings sollten sie dafür die Bereitschaft entwickeln, den Blick immer wieder auf sich selbst zu lenken, auf die eigenen Überzeugungen, Denkgewohnheiten und automatischen Verhaltensweisen und nicht allein auf die Situation des hilfsbedürftigen Gegenübers. Wenn Angehörige den Kontakt zu sich selbst wahren, zu ihren Bedürfnissen, Empfindungen und Kraftquellen, spüren sie wahrscheinlich den feinen Grat, der Mitgefühl von Mitleid unterscheidet. Und auch die Grenzen ihrer Verantwortung. Daran können sie sich orientieren und ihr Handeln ausrichten: im Tun, Nichttun und Akzeptieren.
Warum helfe ich? Wie helfe ich? Was bewirkt meine Hilfe? Und vor allem: Wie geht es mir dabei? Das bewusste Wahrnehmen und Hineinspüren in eine Situation, ohne vorschnell zu urteilen und zu verurteilen, kann erfolgversprechend sein in Zeiten der Depression. Wenn Angehörige diese Umgangsweise für sich zulassen, sie kultivieren und sich dabei mit Geduld und Nachsicht begegnen, erkennen sie vielleicht, dass niemand vor seinem Schicksal bewahrt werden kann. Denn jeder meistert sein Leben auf seine eigene Weise, mit seinen eigenen Lösungen und in seinem eigenen Tempo. Was wiederum ausdrücklich für alle gilt, auch für die Angehörigen.
Auf Basis dieser inneren Haltung bestehen reelle Chancen, dass Angehörige depressiv erlebender Menschen das sein können, was sie so sehr sein wollen: eine Stütze für einen geliebten Menschen, der in Not geraten ist.
Dirk Biermann, im Herbst 2018
PS: Als ich mich den menschlichen und den zwischenmenschlichen Dimensionen der Depression zuwandte, führte mich das recht schnell zur Frage der exakten Formulierung. Wie benennt man eigentlich einen Menschen, der an einer Depression leidet? Der Kranke? Die Depressive? Der Gestörte? So als hätten die Symptome der Depression Besitz vom Wesen des Menschen ergriffen?
Die Depression ist eine behandlungsbedürftige Erkrankung – und doch unterscheidet sie sich erheblich von einer Lungenentzündung, einer Bronchitis oder einem Rückenleiden. Sie ist in ihrem gesamten Wesen verwirrend vielfältig und damit schlecht greifbar. Depression äußert sich körperlich und ist dennoch weit mehr als ein organischer Defekt. Sie äußert sich auf der seelischen Ebene und ist dennoch weit mehr als eine psychische Störung. Eine einheitlich für alle geltende Behandlung sucht man vergeblich. Eine vorschnelle und unreflektierte Einordnung der Menschen, die unter Symptomen einer Depression leiden, kann in meinen Augen deshalb drei unheilvolle Auswirkungen haben:
1. Sie steckt den Menschen in die Schublade mit der Aufschrift „psychisch krank“. Eine konkrete Beschreibung von Krankheitsbildern ist hilfreich, denn das schafft Klarheit und ermöglicht eine zielgerichtete Behandlung. Die Bezeichnung „psychisch krank“ halte ich im Zusammenhang mit Depression jedoch für viel zu ungenau. Sie reduziert ein komplexes und in den Anfängen sogar natürliches Zusammenspiel innerer und äußerer Vorgänge auf zwei Wörter, denen in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Makel anhaftet. Mit erheblichen sozialen Folgen: Viele Menschen haben ein Leben lang mit der Zuschreibung, „psychisch krank“ zu sein, zu kämpfen und leiden teils erheblich darunter. Sie strengen sich an und kommen doch nicht wieder heraus aus dieser ihnen einmal zugewiesenen Schublade.
2. Es trennt die Menschen voneinander und festigt Rollenerwartungen. Hier „die Gesunden“, dort „die Kranken“, hier „die Helfer“ dort „die Hilfsbedürftigen“. Der Einfluss des alltäglichen Miteinanders bei der Aufrechterhaltung und Verschärfung depressiver Symptome wird mit diesen Formulierungen schlicht ignoriert. Ebenso, dass eine Depression immer auch soziale Aspekte hat und dass diese in vielen Fällen sogar Auslöser für eine Depression sein können. Zum Beispiel bei lang anhaltendem Beziehungsstress oder Mobbing. Die systemische Sicht auf die Dynamik der Depression lehrt uns, den Blick weiter werden zu lassen – und so den „Erkrankten“ als Symptomträger eines ins Ungleichgewicht geratenen Systems zu verstehen, zum Beispiel der Partnerschaft, der Familie oder auch des Unternehmens. Dies gilt für die Auslöser, aber besonders für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung depressiver Symptome. Unreflektierte Zuschreibungen verlagern das Problem aller radikal auf den Einzelnen. Zudem versorgen nicht hinterfragte Rollenzuschreibungen die Depression mit immer neuer Nahrung – sogar lange Zeit nach Abklingen der akuten Symptome.
3. Es begünstigt den psychologischen Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und kann dauerhaft das Selbstbild eines scheinbar unvollkommenen, nicht genügenden und problembehafteten Menschen prägen. Es ist eine grundlegende menschliche Eigenart, die Wahrnehmung der Realität auf Grundlage der persönlichen Überzeugungen und Selbstbewertungen zu filtern und im weiteren Verarbeitungsprozess entsprechend zu denken und zu fühlen. Je unbewusster dies stattfindet, desto unheilvoller können die Auswirkungen sein. In Zeiten der Depression erhält diese Dynamik eine durchgehend destruktive Färbung. So liegt es auf der Hand, inwiefern Zuschreibungen wie „die Depressiven“, „die Kranken“ oder „die Gestörten“ das Selbstbild beeinflussen und den Heilungsprozess behindern oder sogar lahmlegen können.
Depression ist ein Zustand von unbestimmter Dauer und wechselnder Intensität, der sich auf verschiedene Aspekte des menschlichen Erlebens und Empfindens auswirkt sowie auf viele Körperfunktionen. Das Denken ist zäher, die Konzentration eingeschränkter und der Antrieb reduzierter. Schwere und Verlangsamung prägen die körperlichen Vorgänge und die Gefühlswelt. Viele dieser Aspekte beschreiben ein verändertes Erleben der äußeren und inneren Wahrnehmung. Wir Menschen neigen zu einem solchen Erleben, wenn wir mit gewissen Situationen konfrontiert sind. Manchmal initiiert es unser Organismus auch ganz von allein und vollzieht damit eine beeindruckende Anpassungsleistung, um das Gleichgewicht eines aus dem Takt geratenen Systems wiederherzustellen. Anfängliche depressive Symptome sind in ihrem Ursprung und von ihrer grundsätzlichen Bedeutung keine Krankheit, sondern eine Antwort auf ein organisches Ungleichgewicht oder die Reaktion auf eine akute psychische Ursache. Deshalb sollten wir dringend unterscheiden lernen: erstens zwischen einer depressiven Stimmung, die von allein entsteht als Ergebnis dieser natürlichen Anpassung an eine schwierige psychische oder körperliche Situation. Und zweitens den tief ins menschliche System hineinreichenden komplexen und behandlungsbedürftigen Vorgängen einer mittelschweren oder gar schweren Depression mit ihren chronisch gewordenen Symptomen.
Verallgemeinernd können diese Vorgänge selbstverständlich in ihrer Gesamtheit als krankhaft bezeichnet werden, und es würde die Lesbarkeit eines Textes wohl erleichtern, doch die geschilderten Tendenzen zur Stigmatisierung wiegen zu schwer. Zudem zementiert es einen Zustand, der von seinem Wesen und in seiner Intensität unstet ist. Deshalb vermeide ich vereinfachende Zuschreibungen wie der „Depressive“ und nutze durchgehend die Umschreibung „Menschen mit einem depressiven Erleben“.
Angst und Panik können nahe Verwandte des depressiven Erlebens sein. Sie entwickeln sich manchmal in der Folge einer Depression oder sind deren Ursache und stehen im Grunde im Mittelpunkt des Erlebens. Um die Lesbarkeit des Textes auch in dieser Hinsicht zu wahren, belasse ich es bewusst beim allgemeinen Begriff „Depression“. Wohl wissend, dass Angst- und Panikstörungen ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich bringen.
Der Begriff „Angehörige“ bezieht sich je nach geschilderter Situation auf Ehe- oder Lebenspartner, Eltern, Kinder, Großeltern, Freundinnen oder Arbeitskollegen. Jeder sollte sich so angesprochen fühlen, wie es inhaltlich passt. Wenn an einer Stelle des Buches zum Beispiel vom Partner die Rede ist, kann damit der direkte Lebenspartner gemeint sein, aber auch die Freundin oder ein Elternteil. Stets alle erdenklichen Rollen aufzuzählen brächte zu viel Durcheinander in den Text.
EINLEITUNG:
Im Schatten der Depression
Fast drei Jahre hielt ich durch. Doch dann erwischte es mich. In einer Situation, die ich mir so niemals gewünscht hätte und die mir noch heute, einige Jahre später, unangenehm ist. Es war ein Sonntag im Oktober. Ich war Teil einer ausgelassenen Runde auf einem Fest mit mehr als hundert Gästen. Die Musik schmetterte durch den Saal, es wurde getanzt und viel gelacht. Ich stand mittendrin in dieser fröhlichen Menge – und bekam einen Nervenzusammenbruch.
Wie aus dem Nichts flossen die Tränen. Nicht verstohlen mit feuchten Augen oder mit Tränen, die langsam die Wangen hinabrinnen, sondern mit einer Intensität, als sei eine Druckleitung geborsten. Die Tränen schossen nur so aus mir heraus, begleitet von tiefem Zittern und erfüllt von einem einzigen Gedanken in Endlosschleife: Ich kann nicht mehr.
Ich war hilflos in dieser Situation. Zum Glück erkannte ein guter Freund die Lage und schützte mich vor den neugierigen Blicken. Diese waren unweigerlich auf mich gerichtet: ein erwachsener Mann mit einem Heulkrampf, während drum herum die Feier des Jahres steigt.
Von diesem Tag an änderte sich viel. Ich konnte die Symptome der Erschöpfung, die mich schon seit einigen Monaten aufsuchten, nicht länger ignorieren. Nicht die beklemmenden Gefühle in der Straßenbahn, nicht die Schweißausbrüche in der Schlange an der Supermarktkasse, nicht das nervöse Zittern der Hände, wenn ich auf der Autobahn ansetzte, einen Lkw zu überholen, und auch nicht die zunehmenden Schlafstörungen – das Nicht-einschlafen-Können, weil die sorgenvollen Gedanken einfach keine Ruhe geben wollten. Ich war seit drei Jahren der nahe Angehörige eines Menschen mit depressiven Symptomen, Angst- und Panikattacken – und mit meinen Kräften am Ende. Ich war keine Hilfe mehr, ich brauchte selbst welche.
Um es ausdrücklich zu betonen: Mir ist bewusst, dass die an Depressionen leidenden Menschen in erster Linie betroffen sind. Doch Depression – und erst recht die möglicherweise begleitende Dynamik von Angst und Panik – wirkt sich auf alle Beteiligten aus. Und so kann sich im Schatten der Depression bei nahen Angehörigen ein Zustand entwickeln, der lange Zeit unbeachtet bleibt und der auf seine Art überfordern und krank machen kann.
So wie mir damals geht es vielen Menschen, deren Partner, Eltern, Kinder oder enge Freunde an Depressionen leiden. Heute weiß ich das, früher dachte ich, ich sei mit diesem Schicksal allein. Heute weiß ich auch, dass ich damals die klassischen Phasen durchlebt habe, die fast alle Angehörigen durchmachen. Vor der Diagnose prägen Irritation und Missverständnisse das Zusammenleben. Nach der Diagnose ist die Unsicherheit zwar weiterhin groß, doch meist überwiegt das Verständnis für den geliebten Menschen. Kreative Hilfsbereitschaft geht Hand in Hand mit Unwissenheit und Selbstüberschätzung. Das öffnet die Hinterpforte für den Raubbau an der eigenen Gesundheit. Obwohl man sich als nahestehende Bezugsperson so sehr bemüht und in dieser Rolle so großen Einfluss zu haben scheint, will die Situation einfach nicht besser werden. In seiner Hilflosigkeit reagiert man mit „immer mehr vom selben“: mehr Kampf, mehr Anstrengung, mehr Sorge, mehr Kontrolle, mehr Tun. Die Stimmung leidet zusehends. Gereiztheit und Ungeduld drängen nach vorn und kündigen die Erschöpfung an.
Rückblickend betrachtet, weiß ich um die Fehler, die ich in meinem Wunsch zu helfen begangen und die mich in kleinen Schritten aber dennoch wie auf Schienen in die Erschöpfung geführt haben. Dass ich diese sogenannten Fehler aus Unwissenheit gemacht habe und dass es sich bei ihnen meist um klassische Irrtümer handelte und weniger um ein persönliches Verschulden, versöhnt mich in der Rückschau mit mir selbst, macht das Erlebte aber nicht weniger schmerzhaft.
Fehlendes Wissen über das Wesen der Depression gaukelt Angehörigen vor, sie könnten die Situation kontrollieren. Ein lieber Mensch, dem man sich sehr verbunden fühlt, leidet. Das will man nicht und möchte es ändern. Das ist nachvollziehbar und zutiefst menschlich. Und gleichzeitig sehr kompliziert. Angehörige und Freunde können gewiss eine Zeitlang Stütze sein für einen anderen Menschen und in akuten Situationen Hindernisse aus dem Weg räumen, doch leider hat niemand die Macht, das Leiden eines anderen Menschen aufzulösen. Aus Unwissenheit können enge Bezugspersonen die Symptome der Depression sogar nähren, anstatt das Leid ihrer Lieben zu lindern. Einfach schon indem sie zu viel tun.
Auch ich war von dem innigen Wunsch getrieben, dass alles wieder gut sein soll. So wie früher. Und dass ich es „in Ordnung bringen“ kann. Ich müsse mich nur genügend anstrengen, lautete die Überzeugung, die mein Tun und meine Lösungswege steuerte. Dass es nicht an mir liegt, irgendetwas bei einem anderen Menschen wieder in Ordnung zu bringen oder zu reparieren, lernte ich erst mit der Zeit. Ebenso, wie heilsam und stärkend das Zusammenspiel von Mitgefühl und Selbstfürsorge wirken kann und dass Akzeptanz keineswegs mit Gleichgültigkeit und Egoismus zu verwechseln ist.
Die Ausführungen in diesem Buch basieren im Kern auf eigenen Erfahrungen. Und doch ist es weit mehr als eine persönliche Lebensgeschichte. Entstanden ist es nach Gesprächen mit depressiv erlebenden Menschen und ihren Angehörigen, ergänzt um Gedanken und Impulse zu verschiedenen Aspekten der Gesundheits- und Krankheitslehre, der Seelenkunde und der Lebensführung. Tragende Säulen sind die Anregungen einer auf Achtsamkeit, Mitgefühl und Selbstfürsorge basierenden Haltung dem Leben gegenüber. Entsprechend sind die hier aufgeführten Beispiele keine persönlichen Erlebnisse, die ich exakt so gemacht habe, sondern beschreiben generelle und oft geschilderte Erfahrungen, die sich wie diverse rote Fäden durch die Erlebnisberichte von Angehörigen ziehen – und die auch ich meist sehr gut kenne.
Mein besonderer Wunsch ist es, mit diesem Buch die zwischenmenschlichen Ebenen des Miteinanders zu beleuchten und den Blick dabei bewusst auf die Rolle der Angehörigen zu lenken. Dies wird meiner Meinung nach bislang immer noch unzureichend getan. Wie erlebt ein Mensch die anspruchsvolle Lebensphase einer Depression aus seiner individuellen Sicht tatsächlich? Als naher Angehöriger, als Partnerin, als Freund? Wie wirkt sich das depressive Erleben im Kontakt miteinander aus? Wie verändert es den Alltag? Wie prägt es den Umgang zwischen Lebenspartnern und in der Familie? Warum ziehen sich Freunde nach einer ersten Welle der Hilfsbereitschaft häufig erschreckt und ratlos zurück? Und warum sind Tipps von der Stange, wie man als Angehöriger zu sein hat und wie nicht, zwar gut gemeint, aber oft wenig hilfreich und manchmal sogar zusätzlich belastend?
Um Antworten auf Fragen wie diese zu erhalten, schildere ich in den Kapiteln von Teil 1, wie sich der Alltag in Zeiten der Depression gestaltet, verändert und was daran konkret so schwierig sein kann. Also eine Art ungeschminkter Blick auf die subjektive Lebensrealität von Angehörigen, um auf dieser Basis tragfähige Möglichkeiten zu beschreiben, die helfen können, mit der schwierigen Situation zurechtzukommen.
Gedanken zu grundlegenden inneren Einstellungen gegenüber Krankheit und Leid prägen Teil 2. Ich verstehe diese Ausführungen als Einladung für einen offenen und mutigen Blick auf das, was wir „Depression“ nennen. Dabei geht es auch um die Praxis der Achtsamkeit und darum, was sie bewirken kann. Ein vergleichsweise kurzes Kapitel trägt den Titel „Ein bedeutsamer Unterschied: Warum Mitgefühl heilsam wirkt – und Mitleid nicht“. Es ist vielleicht das wichtigste.
In der Praxis erprobte Gedanken münden in Teil 3 im Kapitel „Vom Tun-Können und Besser-bleiben-Lassen: Ideen für den Alltag“. Vielleicht nehmen Sie beim Lesen dieser Anregungen das ein oder andere Augenzwinkern wahr. Das ist gewollt.
Ist dieses Buch damit ein Ratgeber? Vielleicht auch. Vorrangig aber geht es um die Idee, dass Angehörige ihrem Selbstverständnis mehr Aufmerksamkeit schenken, wie sie mit der Not des „anderen“ und mit ihrer eigenen Not umgehen wollen. Und Depression auf dieser Grundlage als eine Erkrankung verstehen, die behandelt werden kann und unbedingt behandelt werden sollte, aber diese nicht allein als einen medizinischen Defekt betrachten, für den es eine sofortige Reparaturlösung gibt. Depression beschreibt in der Summe aller Symptome ein vielschichtiges und sich ständig veränderndes menschliches Erleben, das für seine Heilung Verständnis und Zeit benötigt und vielleicht sogar eine gesunde Funktion sowie einen Sinn haben könnte. Oder hatte – bevor es erstarrte.
Damit können die hier geschilderten Gedanken auch als eine Einladung verstanden werden, das depressive Erleben des Partners nicht ausschließlich als ein externes Problem eines anderen Menschen zu sehen. Depression ist ausgesprochen komplex, es ist auf Ursachenebene individuell und in den Auswirkungen stets auch ein soziales Phänomen. Es ist eine Dynamik, die wenig lässt, wie es ist, die den Wandel und die Aufforderung zum persönlichen Wachstum in sich trägt. Depression berührt die Persönlichkeit aller Beteiligten. Bewusst oder unbewusst. Ob man sich dafür öffnen mag oder nicht.