Loe raamatut: «Kaiserkrieger 13: Flammen über Persien»
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Personenverzeichnis
Weitere Atlantis-Titel
Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Dezember 2020
Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin
Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski
ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-719-2
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-761-1
Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.
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1
Pāygān-sālār Jawed war noch am Leben, er atmete schwer und betete wahrscheinlich bereits zu seinen Göttern. Zenturio Marcus Sempronius Metellus hatte nicht die Absicht, seinen Kameraden sofort aufzugeben und alles höheren Mächten zu überlassen – nicht, solange er hier war. Er drückte mit beiden Händen auf die Wunde. Die Blutung ließ nach, als er die Schlagader im Becken fand und abpresste. Die Blutung stoppte dann fast vollständig und er starrte Jawed in die Augen, die verschleiert wirkten. Der Schock, so hatte man ihm bei der obligatorischen Sanitätsausbildung auf der imperialen Akademie beigebracht, und er hatte oft genug miterlebt, was das bedeutete. Jawed war jemand, dessen Leben er schätzte. Der Offizier hatte mit ihm in den letzten drei Monaten die persische Ostgrenze bewacht, jederzeit in Erwartung eines Angriffes. Er war kein Freund. Metellus hatte eher wenig Freunde. Jawed kam aber einem am nächsten.
Es gab diese Scharmützel. Es gab Verletzte. Noch wurde nicht richtig gekämpft. Es war ein Abtasten vor dem großen Angriff, wann auch immer der kommen mochte. Und Pāygān-sālār Jawed war nun zu einem Opfer dieses Abtastens geworden. Metellus kontrollierte seine Wut, konzentrierte sich. Die Befehle waren eindeutig: nicht provozieren lassen, sich nur verteidigen, alles melden, sich vor einer Übermacht zurückziehen. Das war vernünftig. Die Instinkte des Zenturios aber sagten etwas anderes.
»Herr, die Angreifer haben sich zurückgezogen!« Ein persischer Soldat meldete direkt einem römischen Offizier. Vor Jahren ein unmöglicher, ein undenkbarer Vorgang, doch Metellus, der keine Mühen gescheut hatte, die zum Glück recht logische Sprache der neuen Verbündeten Roms zu lernen, hatte sich angepasst.
»Wo ist der Arzt?«, fragte er.
»Draußen. Er versorgt …«
»Blutet dort jemand zu Tode?«
»Ich frage nach.«
Das kleine Grenzfort bot kaum 40 Mann Platz und es war ein willkommenes Ziel gewesen für eine starke Baekye-Patrouille, bewaffnet mit Gewehren. Ein Angriff aus der Ferne, der relativen Sicherheit einer guten Deckung, wohl wissend, dass weder Perser noch Römer die Erlaubnis hatten, auf die andere Seite vorzudringen, um eine passende Antwort zu geben.
Wut, da war sie wieder. Verdammt! Seit Imperator Haraldus tot war, ging alles den Bach runter. Es gab diese Momente, in denen rang Metellus um seine Selbstdisziplin. Er war Soldat. Dort war der Feind. Und sie saßen hier und ließen es zu, dass die engsten Verbündeten aus der Ferne niedergeschossen wurden, und durften nichts tun.
»Sie drücken auf die Arterie?«
Der Medicus kam an, erschöpft, voller Blutspritzer. Er schaute auf Jawed, dessen Augen ihren Fokus verloren hatten. Cornelius war ein alter Mann, stand am Ende seiner Dienstzeit und hatte sich, des Wahnsinns fette Beute, freiwillig zur gemeinsamen Grenzwache mit den Persern gemeldet. Wollte es noch einmal wissen, sich beweisen, etwas tun, bis er nicht mehr konnte oder man ihn nicht mehr haben wollte.
Das hatte er nun davon.
»Ja.«
»Bleiben Sie so. Auf den Tisch mit ihm. Wo ist mein Assistent?«
Männer kamen herein, schleppten Verwundete, manche mit Bandagen. Keinen hatte es so schwer erwischt wie den persischen Kommandanten, der zur falschen Zeit an der falschen Stelle des kleinen Wachturms gestanden hatte. Schicksal. Hinterhalt. Heimtücke.
Feigheit, dachte Metellus. Die des Feindes und die der eigenen Anführer.
Cornelius machte sich an die Arbeit. Die Medizin hatte fantastische Fortschritte gemacht. Früher wäre so eine Verwundung tödlich gewesen, früher waren die Felddoktoren lediglich bessere Metzger gewesen. Jetzt aber gab es die Neumann-Akademien im ganzen Imperium und eine, neu eröffnet, in Persepolis. Jetzt gab es Leute wie Cornelius, die Leute wie Jawed zusammenflickten, damit sie wieder auf Wachtürme klettern und aus der Ferne abgeknallt werden konnten wie ein Rehbock.
Die Wut. Metellus knirschte mit den Zähnen. Diese Regung lag in seinem Blut, in dem seines Vaters, seines Großvaters: gewalttätige Männer, die es nie geschafft hatten, sich zu beherrschen. Er war zur Armee gegangen, aus Angst davor, so zu werden wie sie. Doch die Anlage war da, der Fluch seiner Familie, und er drückte in seinem Zorn auf die Arterie, bis Cornelius’ Assistenz diese Pflicht übernahm und er für die Operation nicht mehr gebraucht wurde.
Nicht mehr gebraucht.
Er suchte nach heißem Wasser, wusch sich das Blut des Persers ab. Hörte Meldungen. Jaweds Stellvertreter war kein Idiot, er tat, was zu tun war, intelligent, ruhig, ein Mann, auf den man bauen konnte. Alle ließen Metellus das Blut abwaschen, keiner sprach ihn an. Der Römer merkte nicht, dass der eigentliche Grund seine von wildem Hass verzerrte Fratze war, ein Gesichtsausdruck, der allen, selbst den Hartgesottenen, Angst einflößte.
Dann trat er aus dem kleinen Gebäude ins Freie. Die Lage hatte sich beruhigt, aber alle Soldaten verharrten noch in Deckung. Der dritte Römer in diesem Grenzabschnitt, Hans Lucretius, kam auf ihn zu. Der Mann war seit zehn Jahren bei den Legionen, trug den Rang eines immunes und war vor allem deswegen für den Dienst ausgewählt worden, weil er aufgrund seiner Verwandtschaftsverhältnisse leidlich Persisch sprach. Dass sein Vater ihm aus Ergebenheit gegenüber dem Erbe der Zeitenwanderer einen Vornamen gegeben hatte, der mit Persien eher wenig zu tun hatte, war nur auf den ersten Blick überraschend. Das Römische Reich war und blieb ein Völkergemisch und die enge Kooperation mit Persien, das selbst viele Völkerschaften unter seiner Herrschaft vereinte, intensivierte diese Tendenz nur noch. Von der endlosen Schlange an Flüchtlingen, die aus dem nunmehr unter der Kontrolle Baekyes stehenden Indien nach Westen strömte, einmal ganz zu schweigen. Tatsächlich hatten die Grenzsoldaten mehr damit zu tun, die ankommenden Kriegsflüchtlinge in jene Regionen zu verweisen, wo sie Aufnahme fanden, anstatt die Grenze im engeren Sinne zu schützen.
Die großen, fatalen Fehler des Römischen Reiches zu Beginn der Völkerwanderung, das Versagen im Umgang mit den Goten, hatte dazu geführt, dass man diesmal gelernt hatte. Die Menschen aus dem indischen Subkontinent, Überlebende zerschlagener und einst mächtiger Großreiche, waren nur dann eine Gefahr, wenn man sie als solche behandelte. Tatsächlich meldeten sich viele, vor allem ehemalige Soldaten, nach kurzer Zeit freiwillig in den Militärdienst. Sie wurden gerne genommen. Erfahrungen mit einem Feind, der bisher nur aus der Ferne angriff, waren wertvoll.
»Hast du den Angriff gemeldet?«, fragte Metellus und sein Untergebener nickte.
»Ich habe sofort telegrafiert. Persepolis dürfte schon Bescheid wissen und Rom spätestens in einer Stunde.« Die größte technologische Anstrengung der letzten drei Jahre – neben der Bahnstrecke, die aus dem Imperium direkt nach Persepolis führte – war das Aufstellen der Telegrafenmasten gewesen. Die Grenzstationen damit zu verbinden, hatte einen immensen Aufwand bedeutet, aber wenn die Kommandeure der Großen Allianz, wie das Bündnis aus Rom, Aksum, Teotihuacán und Persien nunmehr genannt wurde, eines gelernt hatten, dann dies: In einem den Globus umspannenden Krieg waren Informationen alles und ohne Informationen war alles nichts. Die richtige Nachricht zur richtigen Zeit war wertvoller als zehn Legionen und die größten Kanonen und konnte über das Schicksal ganzer Nationen entscheiden. Also waren dies die Projekte gewesen, die man als Erstes angegangen war: Infrastruktur und Kommunikation.
Metellus befürwortete das. Er war ein vernünftiger, ein gebildeter Mann. Er war aber auch der Ansicht, dass es nach all den wunderbaren Informationen langsam Zeit für die Legionen und die Kanonen wurde. Er war mit dieser Ansicht gewiss nicht alleine, doch die vom Zorn genährte Ungeduld loderte in diesem Zenturio mit besonderer Intensität. Es war gut, dass er kein General war. Er hoffte, niemand kam je auf die Idee, ihn noch weiter zu befördern.
»Sag mir Bescheid, wenn es eine Antwort gibt.«
»Was für eine Antwort erwartet Ihr, großer Zenturio?«
Es gab einen guten Grund dafür, warum Hans Lucretius trotz seiner unbestreitbaren Talente niemals über den aktuellen Dienstgrad hinaus befördert worden war. Seine Vorgesetzten schwankten stets darin, ihn zu loben und seine Leistungen anzuerkennen und ihn für Wochen in eine Zelle zu sperren oder ordentlich verprügeln zu lassen. Letzteres war nach Abschaffung der Prügelstrafe nur noch möglich, wenn niemand zu genau hinsah, aber der Legionär hatte es sich mit seinem losen Mundwerk und seiner ironischen Art schon bei vielen verscherzt. Bei Metellus hatte er gute Karten, da dieser seine Händel selbst ausfocht und seine Beliebtheit höheren Ortes nicht zuletzt aufgrund seiner beständigen Eingaben, endlich diesen Krieg zum Feind zu tragen, begrenzt war.
»Ich erwarte gar nichts«, knurrte der Zenturio also nur. »Das übliche Gewinsel. Und ein Versprechen auf baldige Ablösung. Ich will keine verdammte Ablösung. Ich will die Dampfwagen bemannen, die Kanonen laden und die feigen Arschlöcher da drüben ausräuchern, bis sie ihre eigenen Kugeln fressen.«
Das war nur halb metaphorisch gemeint. Weiterhin war es schwierig, Kriegsgefangene zu nehmen, denn die Soldaten aus Baekye hatten die unangenehme Angewohnheit, sich lieber selbst zu töten, als dies geschehen zu lassen. Jene, die man festsetzte, erwiesen sich als schweigsam, störrisch und jederzeit bereit, ihre Häscher anzugreifen. Man musste ihren Mut und ihre Entschlossenheit bewundern und irgendwo in Metellus gab es eine solche Regung auch. Er war gar nicht darauf erpicht, sie alle festzunehmen. Er wollte vor allem eines: sie für das bestrafen, was sie taten. Nein, wenn er ehrlich war, lag der Grund für seine Absichten etwas tiefer. Er wollte seine Wut ausleben, er wollte dem Feind Gewalt antun, und das bis zur Selbstaufgabe.
Metellus wusste, dass dieser Drang ihm einst zum Verhängnis werden würde.
Er stand oft genug nahe am Abgrund und erkannte, wie dieser ihn anstarrte, mit der Verlockung, die sein Ende sein konnte. Er trat oft genug einen Schritt zurück, ließ die Selbstdisziplin obsiegen. Aber er wusste, dass die Verlockung niemals nachließ und er ihr mit Freuden nachgeben würde, wenn seine Befehle dies rechtfertigten.
Deswegen wollte er diese Befehle unbedingt. Deswegen war er so frustriert, weil sie nicht kamen.
»Herr, da tut sich was!«
Metellus fuhr aus seinen Gedanken hoch. Gewaltfantasien oder nicht, wenn die Pflicht rief, war er ganz da, schob die Emotionen beiseite, die ihn eben noch gebeutelt hatten. Jawed war außer Gefecht gesetzt, und obgleich er einen Stellvertreter hatte, war Metellus der Offizier mit der höchsten Seniorität, und die Kooperation zwischen Rom und Persien war in den letzten drei Jahren so eng geworden, dass die Kompetenzen sich mehr und mehr verschränkten. Das sofort begonnene Offiziersaustauschprogramm hatte schneller Früchte getragen als von seinen Kritikern erwartet.
Und so machte der persische Soldat erneut ihm Meldung. Er trug die eiserne Brustplatte eines Unsterblichen, der Elitetruppe des persischen Königs, die hier wie anderswo mit der Grenzsicherung beauftragt worden war. Eine bewusste Entscheidung, den Besten die schwere Aufgabe zu überantworten, im Falle des erwarteten Angriffes die Last der unmittelbaren Verteidigung aufzubürden.
»Was gibt es?«
»Bewegung aus Richtung des Feindes.«
Metellus war so schnell an der Balustrade, dass er gar nicht bewusst wahrnahm, wie er die hölzerne Leiter emporglitt und Deckung nahm. Jemand reichte ihm ein Fernrohr – mittlerweile auch aus persischer Produktion, da die hiesigen Glasbläser sich als äußerst talentiert erwiesen hatten – und er schaute in die angegebene Richtung.
»Da rennt einer«, murmelte er. »Ein Mann.«
»Er trägt die Uniform des Feindes«, hörte er den Soldaten neben sich sagen, ebenfalls mit einem Fernrohr bewaffnet.
»Das stimmt. Es gibt keine Überläufer unter den Männern aus Baekye.«
»Zumindest keinen, der lange genug gelebt hätte«, ergänzte der Soldat. Er senkte das Fernrohr. »Die Chinesen sagen, dass es durchaus Deserteure gäbe. Nur waren die schon tot, als man sie fand.«
»Wie weit hat er noch?«
»Einen Kilometer. Falls er vorher nicht erschossen wird.«
»Er hat einen guten Zeitpunkt gewählt, das muss man ihm lassen.«
Metellus runzelte die Stirn. Die mobilen Scharfschützen des Feindes hatten die Angewohnheit, sofort nach einem erfolgreichen Angriff die Position zu wechseln, um keinerlei Angriffsfläche für eventuelle Gegenreaktionen zu bekommen – wohl in der Unkenntnis über die Befehlslage, die den Grenztruppen so die Hände band. Das hieß, dass der Überläufer … wenn er denn einer war … exakt den richtigen Moment abgewartet hatte.
Er kannte sich aus.
Er baute darauf, dass der Tod einiger Perser ausreichend war, um sein eigenes Überleben zu sichern.
Das war wieder so eine Vorgehensweise, die Metellus wütend machte. Er kämpfte den Zorn nieder, er führte in dieser Situation zu nichts. Wenn es sich tatsächlich um die einmalige Chance handelte, einen Deserteur aufzunehmen, dann musste er sie nutzen, und machte er einen Fehler, würden seine Vorgesetzten dafür herzlich wenig Verständnis aufbringen.
»Schickt ihm eine Patrouille entgegen. Mit dem gepanzerten Dampfwagen.«
»Aber.«
»Los jetzt! Nehme ich auf meine Kappe. Sag einfach, der verrückte Römer habe es befohlen. Außerdem ist es ein römischer Dampfwagen. Ich habe quasi unmittelbare Befehlsgewalt.«
Das war natürlich ausgesprochener Blödsinn. Aber es half dem Perser, dem Befehl Folge zu leisten. Der große Dampfwagen stand ständig unter Dampf und es brauchte nicht lange, um das schnaufende Monstrum zu bemannen und auf den Weg zu schicken.
Das Tor des kleinen Kastells öffnete sich.
Wenn Jawed erwachte und wieder bei Sinnen war, würde er, mit etwas Glück, persönlich begutachten dürfen, wofür er geblutet hatte und beinahe gestorben war.
Metellus ballte die Hände zu Fäusten.
Hoffentlich war es die Sache wert!
2
»Die Zeichen sind unverkennbar.«
Huan Xuan, ehemaliger kaiserlicher Gesandter nach Mittelamerika und im Regelfall ein affektiertes Arschloch, hielt sich bei diesen Worten ein parfümiertes Tüchlein vor die Nase, als könne er den Gestank dräuenden Unheils dadurch von seiner feinfühligen Nase fernhalten. Es half gewiss, die möglicherweise unangenehmen Körperausdünstungen von Latinus zu überdecken, der nach einer viertägigen Reise zu Pferd und in einer Kutsche an den kaiserlichen Hof zurückgekehrt war, um seine eigenen Erkenntnisse mit dem zu teilen, was man mit etwas gutem Willen als imperialen Krisenstab bezeichnen konnte. Seit dem Tode von Erzkanzler Yu im letzten Jahr war der Vorsitz dieses Gremiums an den neuen Erzkanzler gefallen, besagten Huan Xuan, dessen Verdienste bei den Maya, seine hervorragenden familiären Beziehungen sowie machtpolitische Rücksichtlosigkeit dazu geführt hatten, vom Kaiser auf diese erlauchte Position berufen worden zu sein.
Außerdem roch er immer gut. Wer wusste schon, wie wichtig das hier tatsächlich war?
Latinus war sich nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung gewesen war. Xuan war ein kluger Mann. Er hatte unbestreitbar seine Qualitäten. Er war aber als Mensch nur schwer zu ertragen und seine Arroganz hatte sich eher verschlimmert, soweit Latinus das zu bewerten imstande war.
Es änderte nichts daran, dass er mit ihm zusammenarbeiten musste. Seine eigene Stellung als Botschafter Roms erlaubte ihm allerdings, so manches zu sagen, was sich die Unterlinge bei Hof nicht trauten. Er machte von dieser Möglichkeit aber nur sehr selten Gebrauch. Es half nicht, es sich mit wichtigen Leuten zu verscherzen.
Huan Xuan hielt sich für sehr wichtig.
Bedauerlicherweise entsprach diese Selbstsicht durchaus der Realität.
»Die Zeichen sind unverkennbar«, bekräftigte der Erzkanzler. Er stand neben der großen Weltkarte, die in einem Rahmen aufgespannt im Raum stand und auf deren ledriger Oberfläche mit kleinen Nadeln allerlei Stoffstücke und -fäden befestigt worden waren: Garnisonen, Truppenteile, Bewegungspfeile, Grenzlinien, gleichermaßen bestätigte wie angenommene, die strategische Gesamtlage. Auch weit im Westen gab es diese Markierungen. Die Funkverbindung wurde durch mehrere Relaisschiffe aufrechterhalten und ein Frachtdienst war eingerichtet worden, der zwischen den vier Reichen der Allianz verkehrte. Man war einigermaßen über das informiert, was auf der anderen Seite der Welt so passierte. Auch dort waren die Zeichen unverkennbar. Latinus kam nicht umhin, dieser Bewertung zuzustimmen.
Es verursachte eine dauerhafte, leichte Übelkeit bei ihm.
»Die nächste Offensive steht bevor«, bestätigte General Xi, der in etwa das gleiche Alter wie der Erzkanzler hatte und ein professioneller Soldat durch und durch war. Für Latinus etwas spröde, war der neu ernannte Oberbefehlshaber der kombinierten chinesisch-nigerianischen Streitkräfte dennoch weitaus besser zu ertragen als Xuan, vor allem deswegen, weil er nicht grundsätzlich jeden anderen Menschen in seiner Gegenwart für eher minderwertig hielt. Tatsächlich gab es für Xi weitaus einfachere Kategorien: nämlich Freund oder Feind. In beiderlei Hinsicht diskriminierte er nicht. Ob nun die Maya oder die Römer, die Perser oder die Aksumiten an seiner Seite kämpften – das ausschlaggebende Kriterium war »an seiner Seite«. Und wer sich erniedrigte und für Baekye stritt, ob gezwungen oder freiwillig, war es eben nicht. Latinus hatte seine Probleme mit dieser Sichtweise, aber auch hier bemühte er sich um Zurückhaltung. Mit Xi konnte er gut. Es half, den Erzkanzler besser zu ertragen, wenn der Haudegen anwesend war.
»Die Zeichen sind eindeutig«, ließ nun auch Latinus keinen Zweifel an der Einschätzung. Er zeigte auf die Karte. »Die letzten beiden Überwachungsflüge an der persischen Ostgrenze haben Truppenbewegungen hier und hier gezeigt. Nun sind diese Flüge auch schon drei Wochen her. An der Grenze selbst ist noch nichts erkennbar gewesen, vielleicht werden noch letzte Vorbereitungen abgewartet. Aber die Hinweise sind nicht zu übersehen.«
»Es würde auch die relative Ruhe an der chinesischen Front erklären«, sagte Xi nachdenklich. »Die Kämpfe haben sich in eine Art Stellungskrieg verwandelt. Einige meiner Offiziere sagen, dies wäre eine schöne Gelegenheit, selbst in die Offensive zu gehen.«
»Die Idee ist an sich nicht schlecht«, meinte Xuan. »Aber haben wir die Mittel dazu?«
»Nach den beiden letzten verlorenen Schlachten und der anschließenden … Frontbegradigung eher nicht.« Xi sagte es mit großer Fassung, obgleich diese Einschätzung an seinem Selbstwertgefühl nagen musste. Baekye hatte China in der Tat empfindliche Verluste beigebracht. Die chinesischen Streitkräfte mussten sich neu formieren, neue Rekruten ausbilden, neues Material heranschaffen und herstellen. Das erforderte einiges an Zeit und es erforderte mehr als nur Überredungskunst. Die Bevölkerung war der Lasten des langen Krieges müde und diese Müdigkeit machte sich überall bemerkbar. Der Kaiser konnte das eine Weile ignorieren, aber nicht ewig. Selbst eine so absolute Monarchie wie diese war irgendwann an ihren Grenzen angelangt, wenn die eigenen Untertanen nicht mehr mitmachten. Aktuell war die Angst vor der Invasion stark genug, um motivierend zu wirken. Latinus wagte allerdings keine Prognose, wie lange das noch ausreichend sein würde.
Die Stimmung im Volk war schlecht und der Unmut richtete sich in alle Richtungen.
»Das muss die Führung unserer Feinde wissen«, sagte Xuan. »Dort sieht man ein geeignetes Zeitfenster, um einen vermeintlich schwächeren Feind anzugreifen.« Er sah Latinus an. »Ich sagte vermeintlich«, fügte er beinahe als Entschuldigung hinzu.
»Es kann sein, dass diese Einschätzung nicht ganz falsch ist«, gab der Botschafter ungerührt zurück. Dass der Erzkanzler überhaupt bereit war, auf das von ihm verwendete Vokabular hinzuweisen, deutete darauf hin, dass er heute besonders sanftmütig war, eine Phase, die sehr selten zu beobachten war und meist auch schnell verging. »Unsere Armeen sind zwar frisch und motiviert, die Wirtschaft nicht geprägt durch einen langen Krieg und sowohl der persische König wie auch der Imperator mit ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung gesegnet, aber technologisch hängen wir hinter Baekye hinterher, weitaus mehr als China. Von unseren tapferen aksumitischen Verbündeten einmal ganz zu schweigen. Die können Soldaten stellen, ausrüsten aber müssen wir diese.«
»Wir helfen, dies auszugleichen.«
»Und diese Hilfe wird von uns mit großer Dankbarkeit entgegengenommen«, betonte Latinus und verneigte sich knapp vor dem Erzkanzler. »Aber die Zeit war kurz und die Aufgaben mannigfaltig. Ich befürchte, dass meine Aussage weiterhin zutreffend ist. Wir sind vorbereitet. Wir sind nicht bereit, aber vorbereitet. Besser kann ich es leider nicht zusammenfassen. Viel wichtiger ist, wie es unseren persischen Freunden ergeht. Wir müssen ihnen unsere neuesten Lageberichte gleich übermitteln.«
»Wir schicken regelmäßig Botschaften, die meisten über die See-Funkbrücke auf Kurzwelle«, sagte der General. »Sie sollten von unseren Befürchtungen informiert sein. Ihr Römer solltet sie auch auf dem Laufenden halten.«
Latinus nickte. Leider war sein Kollege, der römische Botschafter zu Persepolis, nicht für seine übergroße Effektivität bekannt, eine Einschätzung, die er in dieser Runde lieber für sich behielt.
Er sah die anderen abwartend an. Schweigen antwortete ihm und Latinus wusste, dass sie all dies in verschiedenen Variationen bereits durchgesprochen hatten, wenngleich in einer anderen Situation: Damals war der mögliche Angriff im Westen nur eine ferne Idee gewesen, die konkreter geworden war, als die indischen Teilreiche, trotz tapferer Gegenwehr, eines nach dem anderen gefallen waren. Ein großer, ein gigantischer Brocken, den Baekye daher auch gar nicht schluckte. Mit kleinen Vasallenstaaten gespickt, die man sofort geschickt gegeneinander ausgespielt hatte, und einem militärisch direkt kontrollierten Korridor durch Indien hindurch bis zur persischen Ostgrenze hatte Baekye langsam und beharrlich die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Krieges geschaffen.
Warum? Wozu? Die Frage blieb im Grunde unbeantwortet. Die Erklärung mochte in der fanatischen Staatsideologie liegen, die die Zeitreisenden aus der Zukunft importiert und auf ihre eigenen Leute in der Vergangenheit, dieser Gegenwart, oktroyiert hatten. Oder sie lag irgendwo anders. Baekye blieb, trotz aller Bemühungen, ein Enigma und daher auch immer gut für Überraschungen.
»Wir benötigen mehr Informationen«, fasste er dann das Problem in wenige Worte zusammen. Er blickte Xi an, der damit wohl gerechnet hatte. »Wir müssen die Aufklärungsflüge auch von hier aus beginnen. Wie weit sind wir?«
»Die chinesische Luftflotte ist einsatzbereit«, meldete Xi mit Stolz in der Stimme. Dies war ein Feld gewesen, in dem die Römer den Chinesen geholfen hatten, wodurch die Einseitigkeit des andauernden Technologietransfers zumindest ein wenig ausgeglichen worden war.
»Das ist eine gute Nachricht«, bestätigte Latinus. »Dann sollten wir sehen, wie wir zu umfassenden Aufklärungsergebnissen kommen, damit wir eine bessere Entscheidungsgrundlage haben.«
Es gab da einen Elefanten im Raum, den sie alle nicht erwähnten. Aufklärungsflüge hin oder her, das größte Problem war, dass es weder den Chinesen noch sonst jemandem bisher gelungen war, einen Agentenring oder auch nur einen Kreis von Informanten in Baekye zu etablieren, der es ihnen erlauben würde, handfeste Informationen aus dem Inneren des mysteriösen Reiches zu erlangen. Es schien, als gäbe es dort keine Verräter, oder den Experten war es noch nicht gelungen, sie zu finden oder mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Sie hatten viel versucht. Doch bisher ohne Erfolg. Latinus erwähnte es nicht, weil niemand mehr gerne darüber sprach. Denn es war frustrierend, auch nur daran zu denken, was richtig erfolgreiche Geheimdienstarbeit für ihre gemeinsamen Kriegsanstrengungen bedeuten würde, gelänge sie ihnen endlich.
Xuan räusperte sich. Er beendete damit die Diskussion über ein Thema, die sie alle nur in Gedanken geführt hatten, wohl wissend, dass es eines Anlasses bedurfte, zum nächsten überzugehen. Latinus war sich darüber im Klaren, dass das Unausgesprochene zurückkehren musste, allein schon deswegen, weil es immer mal wieder jemanden gab, der etwas dazu sagte. Naiv. Unbekümmert. Vielleicht ein wenig dumm. Solche Leute gab es.
»Wir müssen noch einmal über die Rolle von Teotihuacán reden«, sagte der Erzkanzler nun. »Ich höre eher unangenehme Neuigkeiten von unserem Freund Metzli.«
»Er ist unser Freund«, bestätigte Latinus. »Ist er doch?«
»Er ist vor allem sein eigener Freund«, sagte Xi bitter. »Aber er möchte jetzt auch Luftschiffe.« Der General sah in die Runde. »Was sollen wir ihm sagen?«
»Ist es eine offizielle Anfrage?«, fragte Latinus.
»Noch nicht. Eher ein Vorfühlen. Unsere Botschaft in Mutal hat bereits mehrfach entsprechende Dossiers gefunkt. Ach ja …« Xi verzog das Gesicht. »Kurzwellensender will er auch. Eigene. Mindestens ein Dutzend, für alle wichtigen Städte.«
Latinus unterdrückte ein Seufzen, mehr oder weniger offensichtlich. Metzli wollte so einiges. Es waren keine absurden Forderungen, nichts, was sich nicht logisch aus ihrer Situation ergab. Aber dennoch. Dennoch …
»Ist er bündnistreu? Gibt es Hinweise darauf, dass er mit dem Feind konferiert?«, fragte er dann. Er bekam natürlich seine eigenen Dossiers, aber es schadete nicht, deren Wahrheitsgehalt mit dem abzugleichen, was die Chinesen dachten.
»Es gibt keine offensichtlichen Hinweise«, sagte der Erzkanzler. »Aber er ist gewitzt – nein, verschlagen – und sehr selbstbewusst. Ich habe die größten Befürchtungen. Was werden Sie Ihrem Imperator empfehlen, Latinus?«
»Meine Ansichten sind zweitrangig. Ich werde allein die offizielle Haltung des chinesischen Hofes weitergeben.«
Xuan sah Xi an. »Was ist unsere offizielle Haltung, General?«
Sie fingen an, das Für und Wider abzuwägen. Es wurde eine lange Besprechung und sie kamen zu keinem Ergebnis.