Der Verfall der Ordnung

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Vael nickte. „Dann sollte ich den Hauptmann begleiten, damit der Bürgermeister die Wichtigkeit unseres Anliegens auch sofort versteht“, schlug sie vor. „Wo soll es denn dann hingehen?“

„Was schlagt Ihr vor?“, bat Shjen um die Meinung der Herrscherin.

Diese musste keinen Moment lang überlegen und sagte sofort: „Zu Male nach Yugotan.“

„Ich ziehe es in Erwägung“, wand sich die Lady aus einer vorschnellen Entscheidung. „Weshalb?“, wollte sie nun noch in Erfahrung bringen.

„Kaum jemand ist derart lösungsorientiert. Bisher wusste der König in Brack immer sehr früh über alles Bescheid. Ich würde gerne seinen Rat hören. Woran habt Ihr gedacht?“, informierte sich Vael.

„An die Hohepriesterin Ishilae“, gab Shjen knapp zurück. Sie konnte sich noch sehr gut an ihr damaliges Aufeinandertreffen mit der Herrin des Zauberwaldes erinnern. „Die Hochelfen haben Azazel schon zweimal eingekerkert. Wenn jemand weiß, was man gegen den Erzdämon tun kann, dann wohl sie.“

Enttäuscht senkte Vael ihr Haupt. „Ishilae ist an den Brunnen gebunden. Sie wob die mächtigsten Schutzzauber, als sie von dem Erdbeben erfuhr. Sie schien sehr früh schon erkannt zu haben, dass mehr hinter der Todeswelle steckte und bekam es derartig mit der Angst zu tun, dass sie sich in den Zauberwäldern einbunkerte.“

„Was wollt Ihr mir damit sagen?“

„Wir werden nicht hineinkommen“, präzisierte die Großkönigin ihre Erzählung. „Ich erfuhr es von der Hohepriesterin selbst, als wir Kontakt über die Elfensteine aufgenommen hatten.“

„Ängstliches Elfenpack!“, plärrte der Zwerg Tanrel vom Rücken seines Ponys herab und streichelte über das Bernsteinemblem auf seinem zinnernen Bierhumpen.

„Nachdem ich davon ausgehe, dass Ihr den Rat von Male nicht über den Elfenstein einholen könnt, da er seinen zurückgegeben hat, wie die meisten anderen Herrscher es auch taten, nach dem Krieg?“ Vael nickte betroffen. „Wird unser Ziel wohl Brack werden“, entschied Shjen nun doch, und schüttelte ihre Handgelenke über ihrem Haupt, womit sie allen bedeutete sich jetzt zu verteilen. Sofort kam Bewegung in die Sache, die Kutschen, die Fuhrwerke und die Pferde wurden neben der Stadt an die Mauern herangeschoben und an Holzgeländern befestigt, die Scharen aus Flüchtlingen wurden über die Marktgasse stadteinwärts gebracht und Shjen suchte sich gemeinsam mit Lizsan und Tanrel eine Schenke, während die anderen ein wenig Bummeln gingen.

Pochende, klirrende Hämmer durchfluteten die Klangwelt des Ortes, schnaufende Blasebälge atmeten tief, es roch nach Metall und frischem Brot. Auch der Honiggeruch von Met lag in der Luft, vermengte sich jedoch rasch mit dem Rauch des Essens zu einem bedrückenden Kohledampf wie in einem zwergischen Bergwerk. „Dieser Duft...“, sinnierte König Tanrel, während er hinter Lizsan und Shjen her stapfte.

Schnell kamen sie an ein Backsteinhaus, auf dem ein Holzschild mit einem eingebrannten Bierhumpen als Emblem von klimpernden Kettengliedern gehalten wurde. „Leider haben wir nur eine halbe Stunde!“ Der Zwerg wirkte wahrlich enttäuscht, und schrubbte schon lüstern auf seinem mitgebrachten Zinnbecher herum.


Die Zeit sollte wie im Fluge vergehen. Als sie sich dann vor den Toren von Brynn wieder eingefunden hatten, besprachen sie nur noch kurz die Lage, um sich schließlich, gleich nachdem sie die Hufe ihrer Pferde nochmals kontrolliert hatten, auf den Weg nach Nordwesten zu machen.

So traten sie ihn nun an, ihren Pfad ins Ungewisse, ihren Marsch in die Zukunft, ihren Ritt des Schicksals.

Lizsan Rûrden, der Elf, der Lehrer, der eingehüllt in einen grünen Baumwollmantel auf seinem braunen Schecken saß und sich immer noch fragte, ob es die richtige Entscheidung war, sein Versprechen, das er der Elfe des Blutes gegeben hatte, zu brechen.

Tak, der alte Bauer, der Wolfsgaukler, der stolz den Saum seines Pelzes am Hals mit einer silbernen Brosche zusammen geklemmt hatte; der einerseits zwar froh war, dass er schlussendlich doch mitgenommen wurde, aber andererseits auch wehmütig an seine geliebte Frau und seine beiden Kinder dachte, die er womöglich nie wieder sehen würde.

Vael, die Großkönigin der Reiche, die Herrscherin der gesamten Freien Welt, die in ihrem blau weiß karierten Bauernkleid, und mit ihrem zerkratzten Gesicht wirkte, als wäre sie eine Maid, die von ihrem herrischen Mann zu Hause geschlagen worden war, die aber trotzdem noch einen Hauch von majestätischer Erhabenheit und Würde versprühte, wie nur sie es vermochte.

Tanrel, der graue Zwerg, der König des Kessels, der es in der Schenke von Brynn geschafft hatte, in nur einer halben Stunde drei große Humpen des köstlichen Mets zu leeren, dem in der Stadt im Berg, in Trubal'Vir irgendetwas Schreckliches widerfahren sein musste und der immer noch verstört auf seinem Zinnbecher herum streichelte.

Kalef, der Hauptmann der Miliz, der begnadete Schildfechter, der gemeinsam mit seinen beiden Soldaten am Ende der Gruppe ritt, und es sich nicht nehmen ließ, den Aufpasser zu spielen, auch wenn er fühlte, dass er, trotz seines jahrelang bekleideten Amtes, hier fast schon zu den Unerfahreneren gehörte.

Und dann war da noch Shjen, die finstere Diebin, die erbarmungslose Anführerin, die zwar viel Wert auf die Meinungen von Vael und Lizsan zu legen schien, aber die zu keinem Zeitpunkt den Anschein erweckte, als würde sie einen Weg bestreiten, den sie selbst als nicht korrekt empfände.

Die Gruppe konnte unterschiedlicher kaum sein. Somit versprach ihre Reise auch äußerst kurzweilig zu werden, denn sie hatten sich untereinander viel zu erzählen. Oftmals richtete sich Tanrel an den Wolfsgaukler, fragte ihn, ob er sich nicht ihm zuliebe jetzt in einen Wolf verwandeln würde, damit er seinen Zweifel ablegen könnte. Doch Tak hielt sich wacker. Irgendwann wurde er von Lizsan endlich aus der prekären Situation befreit, indem der Elf erklärte, es wäre eine schmerzvolle Prozedur, die man dem alten Bauern nicht andauernd zumuten könnte.

Shjen belauschte die Gespräche und wunderte sich, wie ein weiser Zwerg, wie König Tanrel es war, ein so offensichtlich aufgetischtes Lügenmärchen glauben konnte; führte diesen Umstand dann allerdings rasch darauf zurück, dass der alte Tak mit seinem Wolfspelz und seiner ruhigen Art doch etwas Geheimnisvolles in sich wohnen hatte, dem auch die Lady im Moment noch keinen Namen geben konnte.

Großkönigin Vael ließ sich regelmäßig zu den Milizionären zurückfallen, um sich mit dem erfahrenen Hauptmann Kalef zu unterhalten, der laut eigenen Angaben Male, den König von Yugotan sehr gut kannte und somit einige Empfehlungen aussprach, wie man sich bei Hofe zu verhalten hatte. Vael hörte zwar aufmerksam zu, erinnerte sich aber an ihr letztes Aufeinandertreffen mit dem Herrscher von Brack, bei dem sie seine Hilfe ohne großes Gezeter schnell erhascht hatten. Ihr erschien es damals nicht sonderlich schwierig gewesen zu sein, sein Vertrauen zu gewinnen.

„Es wird nicht mehr lange hell sein“, erkannte Lizsan, der gerade ganz vorne neben Shjen ritt. „Plant Ihr irgendwo einzukehren?“

Die Lady schüttelte den Kopf und rupfte an ihrer Kapuze herum. „Wir werden abseits der Straße nächtigen und abwechselnd Wachen schieben“, bestimmte sie, „aber solange wir noch etwas sehen können, werden wir reiten.“

„Ihr wisst, dass wir nicht nur aus Soldaten bestehen?“, wies der Lehrer auf die müden Glieder einiger Gefährten hin.

„Ich zwinge niemanden mitzureisen“, erklärte Shjen trocken. „Die Umkehr steht den Schwachen offen.“

Jetzt schüttelte Lizsan enttäuscht sein Haupt. „Kein bisschen habt Ihr Euch verändert.“

„Weshalb auch?“, hielt die Lady dagegen. „Ich habe nie darum gebeten, in diesen Konflikt verwickelt zu werden. Mit Gewalt wurde ich dazu genötigt und nun stehe ich hier. Und lebe noch.“

„In den vielen Schlachten, in denen ich mit Euch gekämpft habe, hatte ich trotzdem nie die Hoffnung aufgegeben Euch... wie soll ich sagen...“

„Mich menschlicher zu machen?“, schlug Shjen mit einem Grinsen vor.

„Ja vielleicht“, gab Lizsan zu. „Mir war immer bewusst, dass die Menschen es Euch niemals Recht machen könnten, dass sie, egal wie sie handelten, immer gegen Euren Willen aufbegehrten. Hätten sie Euch mit Lob und Dank überschüttet, nach der Diktatur, hättet Ihr Euch vermutlich auch nicht wohl gefühlt, und hätten sie Euch als Abtrünnige und Egozentrikerin bezeichnet, hättet Ihr ihre Meinung auch lediglich verspottet.“

„Verblüffend, wie viel über jemanden gesprochen wird, wenn er gar nicht will, dass man über ihn spricht“, fasste die Lady zusammen. „Was wäre es denn, was mich menschlicher machen würde? Gespieltes Mitgefühl den Bettlern gegenüber, die zu keinem Zeitpunkt den Willen an den Tag legen, an ihrem erbärmlichen Leben etwas zu ändern? Aufgesetzte Barmherzigkeit für die, die in Gejammer und Flennerei versinken und sich darin suhlen wie Schweine? Oder geheuchelte Neugierde an dem Wohlergehen Anderer, die nur verbal am Gemütszustand ihres Gegenübers interessiert sind?“

Resignierend senkte der Lehrer sein Haupt. „Es ist nicht alles schlecht auf dieser Welt...“

„Nun ... Azazel hat sich kaum selbst in diese Welt katapultiert ... bestimmt waren es Menschen, die ihm erneut dabei geholfen haben“, lenkte Shjen das Gespräch wieder in Richtung ihrer Mission.

Leider musste Lizsan nicken. So ungern er es sich selbst eingestand, so gerne er nun noch Argumente für die Menschheit gefunden hätte, so sehr musste er auch erkennen, dass Shjen nicht unrecht hatte. Auch wenn es ihm sehr wohl bewusst war, dass man nicht alle in den selben Topf werfen sollte, vor allem, wenn er nun an seine geliebte Vael dachte, so hatte die Ansicht der finsteren Lady doch zumindest ihre Berechtigung.

 

„Wobei Azazel es auch immer sehr gut verstand, den Geist der Menschen zu manipulieren“, fügte nun auf einmal Vael hinzu, die plötzlich hinter ihnen ritt.

„Den schwachen Geist der unwissenden Menschen...“, korrigierte Shjen und beehrte die Königin nicht mal eines Blickes.

Unvermittelt musste Vael dabei an den gefallenen Diktator Nathanel denken, dessen Sinne damals auch von Azazel verdorben worden waren. „Ich denke nicht, dass Nathanel unwissend und schwach war...“, murmelte sie.

„Offenbar zu schwach und zu unwissend für Azazel...“, untermauerte Shjen ihre These. Mit der flachen Hand klopfte sie auf den breiten Hals ihres pechschwarzen Hengstes. Doch just stoppte sie ihre Bewegung. „Hört ihr das auch?“

Es lag ein Rauschen in der Luft. Links ihres Weges zierte ein verworrenes Wäldchen ihren Pfad. Die meist rötlichen Blätter wackelten im milden Wind. Das Rauschen jedoch schwoll an. „Es kommt näher“, erkannte die Lady, trieb ihr Ross zu einigen Rücktritten, vom Dickicht weg. „Bezieht Stellung“, flüsterte sie. Sofort zog sich Lizsan aus seinem Sattel, geleitete sein Pferd beiseite und zückte seinen Degen.

Kalef war auch abgestiegen. Mit erhobenem Schild stellte er sich vor die Großkönigin, während das Pony von Tanrel verängstigt schnaubte.

Angespannt suchten die Handarmbrüste von Shjen ein Ziel im Geäst. Voller Konzentration fuhren sie nach links, nach rechts und zurück. Bis auf das immer lauter werdende Rauschen herrschte nun Ruhe. Keiner wagte es einen Laut von sich zu geben. Äste brachen, Zweige knackten, ein Trommeln schlug ihnen entgegen, gleich einem tiefen, wachsenden Donner.

Und auch wenn man ihnen prophezeit hätte was nun geschah, hätten sie den Erzähler wohl verspottet, denn diese Realität könnte nicht einmal dem irren Gehirn eines findigen und kreativen Barden entspringen. Das Buschwerk schlug beiseite und offenbarte den Blick auf ein Schauspiel, das die acht Gefährten sich unter keinsten Umständen ausmalen hätten können.

Erst starrten sie auf mächtige Hufe, die nach den dünnen Unterschenkeln in muskelbepackte Vorderläufe übergingen, um schließlich in breite Schultern zu münden. Die geschwungenen, weißen Hörner der beiden, schwarzen Stiere lenkten von ihren ausdruckslosen, kugelrunden Augäpfeln ab, und von den breiten Nasenlöchern, die fauchend auffächerten. Die kurzen, aber umso kräftigeren Hälse der Bullen senkten sich. Fast hätte Shjen den Abzug gedrückt, fast hätte sie Bolzen in die Schädel der Tiere geschossen.

Doch da saßen, und das war das wahrlich Unfassbare, zwei riesige Elfen auf den strammen Rücken der mindestens fünf Zentner schweren Rinder, die offenbar keine Unze Fett zu haben schienen, nur Muskeln und Adern, dick wie kleine Äste.

„Da seid ihr ja“, erklang die liebliche Stimme vom Stier herab, die Indarî gehörte. Shjen verstaute ihre Armbrüste und wirkte als einzige unbeeindruckt.

„Was bei meinem Barte...“, erstaunte sich Tanrel, ohne seinen Blick von den beiden riesigen Bullen zu lassen. Seine Augäpfel schmerzten schon, denn auch das Zuschlagen seiner Lider verkniff er sich. „Das sind doch die beiden Statuen aus Trubal'Vir ... und sie reiten auf Stieren...“

„Sehr erfreut Euch wieder zu sehen“, grüßte Lizsan Rûrden, mit verhaltenem Ton, denn auch ihn ließ der Anblick nicht kalt.

„Wieder...?“, verwunderte sich Großkönigin Vael, und schaute ihren Geliebten kurz an.

„Ihr habt es also doch aus Sterlingholme geschafft“, änderte Shjen abrupt das Thema.

„So ist es“, erklärte Ryvân und strich zwischen den Hörnern seines Reittiers über dessen Kopf.

„Wir haben so lange gebraucht, weil wir noch ein Fortbewegungsmittel besorgt haben“, berichtete Indarî, hämisch grinsend.

„Unser Weg führt uns nach Yugotan“, gab Shjen preis. „Ihr könnt euch anschließen.“ Die Lady merkte, wie vierzehn Augen vollkommen entgeistert und erschrocken auf ihren Rücken gafften.

„Ihr kennt diese Wesen?“, brabbelte Kalef.

„Diese Wesen haben euch Menschen vor den Orks gerettet!“, erboste sich Ryvân. Sofort legte sich die sanfte Hand von Indarî auf seine Schulter.

„Ganz ruhig. Ryvân“, sprach sie klangvoll, „wir sind nicht feindlich gesinnt und wissen wie man mit Waffen umgeht. Ich denke es steht außer Frage, dass unsere Dienste euch hilfreich sein werden.“

Shjen nickte, drehte sich ihren sieben Mitreitern zu und kontrollierte deren Gemütszustände. „Ich traf sie in Sterlingholme“, erzählte sie nun, „ich fühle, dass sie für unsere Mission sehr wichtig sein können, nicht nur wegen ihrer Kampfkraft.“

Zweimal schepperten plötzlich die Hufe von Indarîs Bullen, als sie ihr Tier herumdrehte und sich zu Shjen herabbeugte. „Habt Ihr die Elfensteine geborgen?“

Die Lady nickte wieder.

„Sie machen mir trotzdem Angst...“, maulte Tanrel, „diese roten Augen...“, flüsterte er, gerade so, als würde er mit seinem Pony sprechen, und knuddelte verhalten seinen Bierkrug.

„Schön weiter den Humpen streicheln“, entgegnete Ryvân, der ihn offenbar gehört hatte, „irgendwann kommt vielleicht ein Geist heraus und erfüllt Euch Eure Wünsche.“

Shjen konnte sich ein kratzendes Auflachen nicht verkneifen, entsann sich dann aber schnell wieder ihrer Aufgabe: „Wir sollten weiter, solange es noch hell ist.“

Etwas verschroben stimmten die Reisenden ihr zu, ließen es sich aber nicht nehmen, gebührenden Abstand von den beiden Bullen zu halten, während sie nun mit gedämpfter Stimmung weiter nach Nordwesten ritten.


Bis sich die Sonne senkte, wurden nur mehr wenige Worte gewechselt. Emsig hatten die beiden Milizionäre, die Kalef im Schlepptau hatte, Holzscheite herbeigeschafft, um ein Lagerfeuer zu entfachen.

Noch war es nicht vollends dunkel. Ein Schleier, als wäre er aus Rubinen, lag auf dem Hügelland. Die kleine Baumgruppe, die sie gefunden hatten, um dort die Nacht zu verbringen, bot ihnen ausreichend Schutz und eine gute Übersicht. Es war praktisch nicht möglich, sich ihnen zu nähern, ohne schon an der Hangkante Aufsehen zu erregen.

Alle breiteten ihre Decken, ihre Felle und ihre Tücher im Kreis rund um die Feuerstelle aus, sodass sie es warm hatten, wenn der Mond zu regieren beginnen würde.

Lediglich Shjen und die beiden Elfen des Blutes hatten es sich etwas abseits von der Gruppe gemütlich gemacht. Das lag einerseits daran, dass die beiden großgewachsenen Spitzohren offenbar Unbehagen bei den Reisenden auslösten, andererseits aber daran, dass Shjen ohnehin einige sehr wichtige Information von den beiden haben wollte, die sie mit den anderen nicht unbedingt teilen wollte, da es wohl nur zu Unruhe und Besorgnis geführt hätte.

„Ihr sagtet mir, Ihr würdet diese fallenden Sterne nicht zum ersten Mal sehen?“, begann die Lady nun. Indarî, die an einen Baum angelehnt saß, rupfte an den Rabenfedern ihrer Pfeile herum, die in dem Köcher klemmten, den sie abgelegt hatte.

„Worauf wollt Ihr hinaus?“, forderte die Elfe eine genauere Formulierung der Frage, während Ryvân gelangweilt mit seiner Sichel auf einer Baumwurzel herumkratzte.

„Ich möchte den Grund wissen, weshalb das hier geschehen ist“, fuhr Shjen fort.

„Den kennen und kannten wir zu keinem Zeitpunkt“, stellte Indarî gleich mal klar. „Wir kämpften vor Tausenden von Jahren bereits gegen Azazel, und sein damaliger Angriff wurde auch von seinen fallenden Sternen eingeleitet.“

„Wie habt ihr ihn besiegt?“

„Werte Lady Shjen.“ Mitleidig lächelte die Elfe sie an. „Glaubt Ihr nicht, die Elfen des Blutes würden noch existieren, wenn wir ihn besiegt hätten?“

Etwas betroffen blickte die Lady zu Boden. Das Samenkorn der Hoffnung, das gerade aufgekeimt war, wurde soeben wieder zertreten. „Ihr denkt also, wir seien verloren?“

„Verloren ist man, wenn man aufgibt“, erklärte Indarî weise. Es knisterte, als ein Holzscheit im Lagerfeuer zerbarst. Zwischen den Ruhenden tänzelten Funken empor. „Wir waren nahe dran damals ... soviel weiß ich noch. Nur leider entzog die jahrelange Versteinerung viele Details meiner Erinnerung.“

„Das wäre dann ja auch zu einfach gewesen“, bedauerte Shjen grinsend ihr Schicksal. „Und was macht Azazel nun in Sterlingholme?“

Jetzt aber schien die Elfe etwas zu wissen, was von Bedeutung sein könnte. „Er beginnt mit der Entseelung.“

„Der Entseelung?“, hakte Shjen nach.

Indarî nickte. „Bei frisch Verstorbenen hat sich die Seele vom Körper noch nicht getrennt. Die Seelen dienen Azazel als eine Art...“ Sie stockte.

Und plötzlich fuhr Ryvân fort: „Eine Art Nahrung. Er wird dadurch stärker. Irgendetwas scheint Azazel zu beunruhigen. Er benötigt mehr Kraft, als er ohnehin schon besitzt, um es zu beseitigen.“

„Er frisst also gerade die Seelen der Menschen, um noch stärker zu werden, während wir davonlaufen?“, kombinierte Shjen etwas erschrocken.

„Seine derzeitige Macht“, nahm Indarî das Gespräch wieder auf, „ist für uns auch schon zu groß. Ich hoffe es lässt sich ein Weg finden, ihn aufzuhalten. Indessen müssen wir froh sein, solange er sich in Sterlingholme aufhält und uns gewähren lässt.“

„Wie lange wird die Entseelung denn in Anspruch nehmen?“

„Da muss ich wieder passen...“, gab Indarî enttäuscht zu, „hoffentlich jedoch lange genug, bis wir gefunden haben, wonach wir suchen...“

Nun stellten sich die feinen Härchen auf Shjens Unterarmen auf, denn sie erkannte gerade, dass, während sie mit ihrem kleinen Haufen noch nicht einmal ansatzweise eine Ahnung hatte, wonach sie überhaupt suchte, der Erzdämon in Sterlingholme immer mächtiger und mächtiger wurde. Vielleicht irgendwann zu mächtig.

Und so löste das Silber der Nacht den abendlichen Schein aus Rubinen ab.


Irgendwo zwischen den Grashalmen der Steppe von Indarien hörte man Grillen. Die Einöde wirkte wie versteinert. Schnelle Wolkenfetzen huschten über das Gestirn. Fjaeron erwachte, als sich unter das Zirpen ein blubberndes Gurgeln mischte.

Tunlichst vermied der alte Herr es allerdings, seine Lider aufzuschlagen und sich aufzurichten. Er begnügte sich mit angestrengtem Lauschen. Ein Flüstern drang an seine Ohren. Irgendjemand hielt sich im Lager auf. Ganz genau horchte er hin. Diese Stimme. Er kannte die Stimme.

Während er nun noch einige knirschende, vorsichtige Schritte ausmachen konnte, umfasste er sofort seinen Wanderstock, schlug die Felldecke beiseite und sprang aus seiner Schlafstätte.

Damit hatte der nächtliche Besuch wohl nicht gerechnet! Erschrocken drehte er sich um. Sein feuchtes Messer blitzte im Mondschein. „Wie kann das sein?“, empörte sich der Einbrecher. Sofort fiel Fjaeron auf, dass die Stimme zu Orian gehörte.

„Was macht Ihr da?“, stellte der alte Herr ihn zur Rede, die Spitze seines Stockes verurteilend auf den Diener von Mia gerichtet.

„Ganz ruhig, alter Mann“, sprach Orian, „es geht schnell, Ihr müsst nicht leiden.“

Aus dem Nichts sprang der zweite Mensch Fjaeron an. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Stock zwischen Hals und Messerklinge stecken. Nun taumelte er, mit dem Wütenden am Rücken über das rauchende, sterbende Lagerfeuer.

Die schwarzen Kohlebrocken fielen in sich zusammen. Funken stoben empor. Fjaeron wedelte umher, es wollte ihm aber nicht gelingen, seine Klette abzuwerfen. Als nun von vorne auch noch Orian auf ihn zugesprintet kam, ließ er sich plötzlich fallen.

Von der unerwarteten Bewegung überrascht, stürzte der Mann über seinen Kopf hinweg, nach vor, mitten in die schwache Glut der Feuerstelle. Vor Schmerzen brüllte er. Orian half ihm heraus, während eine schillernde Kugel gleich einem übergroßen Jadekristall zwischen ihnen detonierte.

Die magische Kraft sprengte die beiden auseinander. Sie wurden mit rudernden Händen in die Wiese geschleudert. Die Spitze des Wanderstockes sog den fluoreszierenden Schein wieder in sich auf. Schon hatten sich zwei Hochelfen erhoben, die von dem Lärm geweckt worden waren.

Die braune Robe von Fjaeron fächerte auseinander, als er mit einer Körperdrehung aus vollem Anlauf den Stab zwischen die Überreste des Feuers steckte. Aus der Nacht wurde auf einmal Tag.

Helligkeit durchflutete die Ebene. Ein gleichmäßiger Wind, der von Fjaeron ausging, legte alle Gräser rings um die Raststätte zu Boden. Unvorbereitet blieben die beiden Tunichtgute stehen und schützten sich mit ihren Unterarmen vor der enormen Grelle.

 

„Sie haben Ishia getötet!“, fiel Arani auf, die ihre blutverschmierte Schwester beiseite gerollt hatte. Dunkles Blut lief aus der Kehle und beschmierte die weiße Seide.

Fjaerons Augen verwandelten sich in schmale Schlitze, gebaren ein Antlitz des Zorns. „Ihr lächerlichen Ausgeburten der Hölle!“, brüllte er, und ließ seinen Stock einmal um seinen Körper kreiseln, um ihn anschließend erneut kräftig in die Erde zu rammen.

Vom Aufschlagpunkt ausgehend krachte es. Eine Felsspalte öffnete sich, brach sich ihren Weg mitten durch das Lager, krächzte vorwärts bis zu Orian und verschluckte diesen schließlich, ehe sie sich einfach wieder verschloss. Gedrungen hörte man den fallenden Menschen noch kreischen, doch zusehends wurde es leiser, bis es nicht mehr vernehmbar war.

Nun drehte sich Fjaeron um, packte seinen Stock und ließ seinen betagten Leib wieder von der Gehhilfe tragen. Er schleppte sich zu dem anderen Diener von Mia.

Mit schlotternden Knien und immer noch über den Kopf geschlagenen Händen bibberte das wertlose Stück Abfall vor sich hin, während sich der braune Zauberer immer näher zu ihm hinbewegte. „Denke nicht einmal an Flucht“, riet ihm Fjaeron und hatte ihn schließlich erreicht. „Was sollte das?“ Immer noch starrte er verständnislos und unerbittlich ernst auf den wimmernden Mann.

„Wir hatten keine Wahl...“, stotterte er.

„In wessen Auftrag habt Ihr gehandelt?“, informierte sich Fjaeron, ohne Regung in seinem Gesicht zu zeigen.

„Gnalgnalgnal...“, würgte er gequält hervor.

„Gnaljamjijak?“, schlug der alte Herr vor, und stieß auf ein Nicken. „Wieso?“

„Er … er hatte Angst, dass Ihr ausbrecht aus dem Käfig...“, murmelte der erbärmliche Mann, „darum hat er noch zwei enge Vertraute von Mia neben Euch in Käfige gesetzt ... damit wir es zu Ende bringen könnten, sollte das geschehen...“

Sprachlos lauschte Mia aus ein paar Schritten Entfernung. „Dieser verfluchte Häuptling...“, erboste sie sich. „Erst lässt er sich mit literweise Schlangenblut bestechen und dann wird er auch noch zur Marionette dieser Kirche...“

Das untere Ende von Fjaerons Stock schnellte empor. Ungebremst fuhr es zwischen die Beine des Verräters. Mit einem weibischen Aufschrei ging der Abschaum zu Boden und erhielt noch einen wuchtigen Hieb von der Seite auf seinen Kopf, sodass ihm sein Bewusstsein geraubt wurde.

Nun wandte sich Fjaeron von ihm ab und schaute Arani tief in die Augen. „Werte Hochelfen“, sprach er, „er gehört euch.“

„Habt Dank edler Fjaeron“, nickte die Elfe ihm zu. Mit gefalteten Händen neigte sie ihr Haupt.

Fjaeron schleppte sich jetzt an Mia heran, um sie zu trösten, während die beiden weißen Gestalten an ihm vorbeihuschten. „Geht es Euch gut?“, wollte er von der Königin der Katzen wissen.

„Mir fehlt nichts...“, stammelte sie in sich hinein. Doch diese Antwort war nur auf ihren physischen Zustand bezogen, denn es erschreckte sie zutiefst, dass ihre engen Vertrauten sich zu Abtrünnigen entwickelt hatten. „Ich kann nur noch nicht so ganz fassen, was aus dieser Welt geworden ist...“

Aufmunternd klopfte Fjaeron ihr auf die Schulter. „Solange wir noch leben, werte Königin Mia, werden wir alle unsere Kräfte dafür verwenden, die Welt wieder dahin zu biegen, wo wir sie haben möchten.“

„Große Worte, wenn man bedenkt, dass wir gerade drei von sieben Gefährten verloren haben“, schluchzte Mia verzweifelt.

„Lediglich eine Gefährtin.“ Fjaeron wies auf die Leiche von Ishia. „Eure beiden Freunde gehörten zum Feind.“

Betroffen nickte Mia. „Ich kann jedenfalls nicht mehr schlafen...“

„Vielleicht sollten wir dann weiterreisen.“ Der alte Herr schaute zu den beiden Elfenfrauen, die gerade die Sehnen über den Fersen des Menschen kappten. Angewidert biss Fjaeron auf seine Lippen.

Arani erhob sich. „So wie dieser Mensch einen Bison den Geiern vorgeworfen hätte, so werden es die Geier sein, die nun seinen Leib zerstückeln werden.“

„Ah ja...“ Fjaeron verzog seine Züge. „vermutlich ... nur fair.“ Nun schüttelte er sich und lehnte sich an seinen Stock. „Wie lange dauern eure Beerdigungsrituale?“

„Für unsere Ishia?“

„Ja.“

„Wir lassen ihre Seele aufsteigen. Das dauert höchstens eine Stunde“, erklärte Arani.

„Gut, dann können wir ja danach gleich wieder aufbrechen, oder?“ Die Hochelfe nickte, doch fiel ihr just etwas ein.

„Sagtet Ihr nicht etwas von Panterzeit?“

„Ich vergaß!“, empörte sich Fjaeron gestellt komisch. „Die Gruselgeschichte für die Kinder...“

Spöttisch nickte Arani, und begann nun mit dem Ritual der aufsteigenden Seele.


Balintus hielt sich seine Locken zurück, damit sie ihm nicht in die Augen fallen konnten und neigte sich über einen aufgeschwemmten Körper, der zu seinen Füßen mit dem Gesicht im Dreck lag. Mit seiner Schuhsohle drückte er den Schädel noch weiter in den Staub, um das Genick inspizieren zu können sowie die punktförmige Wunde, die etwa so groß war wie ein Fingernagel. „Ein Einschussloch...“, knurrte er leise.

Enttäuscht drehte er den schlaffen, fülligen Leib nun beiseite, um mit einem Blick in das leblose Gesicht die Identität von Tritus noch sicherstellen zu können, rollte ihn dann aber sofort wieder angewidert von sich weg.

Der Tod seines Kollegen traf ihn nicht merklich. Er verspürte keinerlei Mitleid für ihn; seine Enttäuschung rührte nur daher gehend, dass ihm auffiel, dass die Aufgabe des dicken Mönches somit nicht erfüllt worden war. „Nicht einmal für die einfachsten Taten kann man Euch heranziehen...“, warf Balintus dem Kadaver unzufrieden vor und schüttelte dabei verdrossen sein Haupt, während er sich aufrecht hinstellte, um den Hang hinab zu blicken.

Er stand auf den Überresten des Thronsaales von Sterlingholme, von dem aus, wäre die Frontmauer nicht eingerissen, er eigentlich nur auf edel verzierte Wandteppiche hätte blicken können. Doch ihm offenbarte sich eine Aussicht, die ihres Gleichen suchte. Die Metropole in dreierlei Formen der Zerstörung: Schutt, Asche und Überschwemmung.

Zu seiner Linken, im Osten, stand bis unter die Hausdächer schmutziges Wasser, das hölzerne Splitter, regungslose Körper und dunklen Schlamm ans Ufer schwappte. Das tiefer gelegene Armenviertel war vollkommen geflutet worden. Der Rädelsführer konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand dort unten diese geballte Kraft überlebt haben könnte.

Rechts von ihm, im Westen, erstreckte sich das Adelsviertel, durch das sich eine breite, brennende Schneise zog, die wohl auch den Großteil des Lebens dort ausgelöscht haben musste. Das kupferne Glimmen, das über dem Stadtteil lag, ging über in üppig dampfenden Rauch. Die Geräusche von knacksenden, brechenden Holzleisten und rauschend niedergehenden Wällen lagen mehrfach in der Luft.

In der Mitte der Stadt, im Marktviertel, im Süden also, türmten sich weiße, niedergegangene Hauswände, rote Dachschindeln, überall ragten dürre Metallstreben aus dem Schutt, sogar grünliche Sesselpolster und zerrissene Teppiche konnte man erkennen. Und eine wahrlich atemberaubende, schwarze Gesteinsscherbe, auf der Azazel in die Stadt gebracht worden war, lag auf den Mauerfundamenten.

Auf den Gassen der Perle der Reiche wuselte und zischte es. Serpenti und Höllenhunde durchstreiften in Scharen die Wege, um nach den letzten Überlebenden zu suchen, auch wenn ihre Ausbeute zusehends armseliger wurde, denn die Zeiten waren vorbei, in denen Menschen in Sterlingholme noch lebendig waren.

„Seine Aufgabe wurde offenbar nicht erfüllt“, vernahm Balintus hinter sich. Er musste dabei die Zähne zusammenbeißen, denn die Stimme von Azazel schmerzte so dermaßen in seinem Herzen, dass er fast in die Knie gegangen wäre.

„So ist es, großer Herrscher“, sprach er dann unterwürfig und wandte sich ihm zu. Vor ihm bäumte sich der etwa doppelt so große Erzdämon auf, bei dessen Anblick er hörbar schlucken musste. Seine Haut glich einer schwarzen Kruste wie die Landschaft eines Vulkans. Aus seinen Wirbeln stachen ellenlange Zacken heraus, die den Klingen von Kurzschwertern ähnelten. Seine Hände waren Klauen, die den Kopf eines Menschen wohl ohne große Probleme umfassen hätten können. Aus seiner Stirn schraubten sich, knapp über seinen leeren Augenhöhlen, geschwungene Hörner heraus, die sich fast bis an seinen Hinterkopf hinab bogen. Erst als Balintus sich hinkniete konnte er die breiten Hufe sehen, die seine Füße darstellten und von einer pelzigen Mähne ummantelt waren.