Der Anfang vom Rest des Lebens

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Kapitel 4

Isabell wurde von einem leisen Klicken wach und öffnete langsam die Augen. Es war Morgen. Sie hatte die ganze Nacht auf der Couch verbracht. Sie musste wie ein Stein geschlafen haben, da sie sich nicht erinnern konnte, aufgewacht zu sein. Dann hörte sie Motorengeräusche und schaute aus dem Fenster. Sie sah Nick, wie er wegfuhr.

»Wo fährt Nick denn jetzt hin? Und warum hat er mich nicht geweckt?«, fragte sich Isabell laut und etwas verärgert.

Isabell beschloss, unter die Dusche zu gehen und dann nochmal genau zu überlegen, was mit Nick los sein könnte. Denn irgendwie war er in den letzten Tagen und Wochen doch etwas seltsam.

Als sie mit einem Handtuch auf dem Kopf und einem weiteren Handtuch fest um ihren Körper gewickelt aus dem Bad ins Schlafzimmer kam, sah Isabell ihr Handy aufleuchten. Sie nahm es in die Hand und schaute nach. Sie hatte eine neue Nachricht, nein, zwei Nachrichten!

Die erste Nachricht war von Eve:

10:02

»Wie hat Nick der Inhalt der kleinen Tüte gefallen? «

Ein wenig genervt und die Augen rollend, wischte Isabell die Nachricht weg und nahm sich vor, darauf später oder gar nicht zu antworten.

Dann noch eine Nachricht. Diese war von Nick:

10:13

»Kommst du frühstücken? Der Tag ist viel zu schön, um sich zu streiten. Ich habe auch deine Lieblingsbrötchen geholt und Kaffee ist auch schon fertig.«

»Da war er also vorhin hingefahren«, dachte Isabell und konnte sich jetzt ein kleines Lächeln nicht mehr verkneifen. »Also doch alles gut und Nick ist nur ein wenig überarbeitet.«

Nick und Isabell frühstückten ganz in Ruhe. Danach beschlossen sie, dass trockene und sogar leicht sonnige Wetter auszunutzen. Nick ließ die Arbeit Arbeit sein und so machten Nick und Isabell zuerst einen ausgiebigen Spaziergang an der Küste. Nach fast fünf Kilometern an der frischen Luft wollten beide dann nur noch auf die Couch. Dort verbrachten sie den restlichen Nachmittag und schauten gemütlich einen Film bei einer leckeren Tasse Kaffee für Nick, einem heißen Tee für Isabell und ein wenig Gebäck, das Nick ebenfalls morgens vom Bäcker mitgebracht hatte. So ließen sie den Tag langsam ausklingen und gingen nicht all zu spät schlafen.

Es war Montag und Isabell wachte in dem Wissen auf, dass sie wieder ein Jahr älter geworden war. Sechsunddreißig Jahre waren für sie alt. Wo war die Zeit geblieben? Wo waren die letzten sechsunddreißig Jahre nur hin? Sie drehte sich zu Nick um und musste zum Erstaunen feststellen, dass er gar nicht mehr im Bett war. Isabell schaute auf den Wecker. Es war 09:52 Uhr. Nick musste schon lange zur Arbeit aufgebrochen sein. Isabell hatte sich heute extra freigenommen, weil sie keine Lust hatte, sich im Büro feiern zu lassen. Der erste Gedanke, den Isabell hatte, war Kaffee. Also zog sie sich ihren Bademantel an und ging runter in die Küche. Auf der Küchentheke stand ein Strauß mit weißen und rosa Rosen. Darunter lag auf einem Teller ein Cupcake mit der Aufschrift »Alles Gute». Daneben lag eine Karte.

Morgen Geburtstagskind

Ich wollte Dich nicht wecken.

Genieß den Tag voller Ruhe. Ich versuch nicht so spät zu Hause

zu sein. Ich habe für 19 Uhr einen Tisch reserviert.

Happy Birthday!

»Das werde ich«, sagte Isabell.

Sie wollte den Tag für sich haben und ihn in Ruhe ohne Stress verbringen. Schließlich war es nicht nur ihr Geburtstag, sondern auch der Todestag ihrer Mutter. Dadurch, dass sie kurz nach ihrer Geburt verstorben war, war der 23.09. umso bedeutender für Isabell. Dieser Tag schnürte ein enges gedankliches Band zu ihrer Mutter.

Nach dem Kaffee wollte Isabell als erstes ihre Mutter besuchen fahren. Brian, Isabells Vater, hatte sich damals für eine Verbrennung entschieden und so den Wunsch seiner Frau akzeptiert. Sie wollte, anders als Brian, nicht in einem Grab verrotten, sondern lieber Eins werden mit dem Meer. Da es kein Grab gab, an dem Isabell ihre Mutter hätte besuchen können, folgte sie an dem Tag immer einer alten Tradition, die sie früher zusammen mit ihrem Vater und später alleine durchführte. Isabell kaufte die Lieblingsblumen ihrer Mutter, weiße Chrysanthemen, und fuhr damit zur Küste. Genau an die Stelle, an der die Asche ihrer Mutter verstreut wurde. Isabell hatte immer ein Foto dabei, auf dem ihr Vater und ihre schwangere Mutter abgebildet waren. Sie hielt das Foto fest in der Hand, gedachte ihrer und gleichzeitig ihrem Vater und warf die Blumen ins Meer. Dann atmete Isabell die Küstenluft noch einmal ganz intensiv ein und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich denke an euch. Ich liebe euch. Ich trage euch in meinem Herzen.«

Wieder zu Hause angekommen, machte sich Isabell einen schönen Tag. Sie ging erst einmal gemütlich in die Badewanne und verwöhnte anschließend ihren Körper mit einer neuen Lotion, machte sich danach die Fuß- und Fingernägel und ihre Haare bekamen auch endlich mal wieder so viel Aufmerksamkeit, wie sie schon lange dringend nötig hatten. Im Anschluss an die Körperpflege folgte ein ausgedehntes Frühstück, wobei der Cupcake nur eine Nebenrolle einnahm. Ein kleiner Prosecco durfte auch nicht fehlen. Ans Telefon ging Isabell nur bei Eve und Peter. Alle anderen waren ihr an diesem Tag egal. Sie würde sich einfach am nächsten Tag zurückmelden und sich entschuldigen, dass sie das Handy nicht gehört hat.

Pünktlich um 18:30 Uhr saß Isabell mit einem Glas Weißwein auf einem der Barhocker in der Küche. Sie hatte sich ihr Haar locker hochgesteckt und sich ein langes, enges schwarzes Kleid angezogen. Für darunter hatte sich Isabell für die aufreizende Wäsche von Victoria’s Secret entschieden. Sie schaute langsam ungeduldig auf ihre goldene Armbanduhr. Es war bereits zehn vor sieben. Isabell versuchte, cool zu bleiben und trank noch einen Schluck Wein. Endlich konnte Isabell Scheinwerferlichter in der Einfahrt erkennen und hörte Nicks Wagen vorfahren. Dann knallte eine Autotür und hastig drehte sich der Schlüssel in der Eingangstür.

»ISSI?«, rief Nick, als er noch nicht ganz im Haus war.

»Ja Nick?«, antwortete Isabell fragend.

Nick schaute etwas verdutzt, als er seine Frau fertig angezogen und wartend in der Küche erblickte.

»Oh, du bist schon fertig?«

Isabell zeigte mit dem Kopf auf die große Wanduhr in der Küche und erwiderte nur: »Wir haben kurz vor sieben, Nick. Hattest du nicht einen Tisch für 19 Uhr reserviert?«

»Ja, das habe ich auch, Isabell. Ich habe bei Toni schon angerufen, dass wir ein paar Minuten später kommen. Es tut mir leid, dass ich so knapp dran bin.«

Nick ging auf Isabell zu, küsste sie auf den Mund und nahm sie in den Arm.

»Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag, Issi. Happy Birthday, meine Liebe.«

Isabell konnte Nick nicht mehr böse sein und genoss einfach nur die Umarmung ihres Mannes.

»Toll siehst du aus«, sagte Nick, als er seine Frau betrachtete. »Jetzt ist es mir etwas unangenehm, dass ich dich nur zu Toni ausführen will. Bis Preston reinzufahren, hätte ich heute einfach zeitlich nicht geschafft.«

»Ich dachte, ich hätte mich gerade verhört, Nick, als du sagtest, dass du bei Toni angerufen hast.«

Isabells Blick drückte Enttäuschung aus und sie schaute zu Boden.

»Ich mach es nächstes Jahr wieder gut, Issi. Nächstes Jahr werde ich dich wieder ganz schick ausführen. Ich verspreche es!«

»Na, dann bin ich ja mal gespannt. Das muss aber dann ein ganz schicker Laden sein. Ich erwarte großes für nächstes Jahr!«

Nach einem einfachen, aber leckeren Essen bei dem besten und einzigen Italiener in Fleetwood kamen Isabell und Nick am späten Abend wieder nach Hause.

Während Nick bereits im Bett lag, war Isabell noch einmal im Bad verschwunden, um nachzusehen, ob die neue Wäsche überall am richtigen Platz saß. Die Wäsche sah echt gut aus, allerdings war sie nicht unbedingt bequem. Nach einem letzten Blick in den Spiegel und einem kontrollierten Ein- und Ausatmen fasste sich Issi ein Herz und machte die Badezimmertür auf. Sie trug einen BH aus schwarzer Spitze und den dazu passenden String. Beides war verbunden mit mehreren dünnen Bändern aus roter Spitze. Dazu trug Isabell Nicks Geburtstagsgeschenk. Im Restaurant überreichte Nick Isabell eine kleine, längliche, schwarze Schachtel. In der Schachtel lag eine wunderschöne, silberne Kette. An der Kette hing ein Blütenanhänger, besetzt mit ein paar funkelnden Steinen.

»Du bist wunderschön, Issi«, flüsterte Nick fast, als Issi aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer eintrat.

Endlich, nach so langer Zeit, liebten Nick und Isabell sich wieder, als wenn es die letzten Wochen der Unstimmigkeiten nie gegeben hätte.

Nick lag auf dem Rücken, so dass Isabell in seinen Armen liegen konnte, mit dem Kopf auf seinem Oberkörper.

»Ich liebe dich, Nick.«

Nick drückte Isabell fest an sich und sagte: »Ich habe dich immer geliebt, Issi, und ich werde dich immer lieben. Egal, wie unsere Geschichte ausgeht. Ich hoffe, du wirst das nie vergessen!«

Etwas verwundert über die Art der Wortwahl, gab Isabell Nick noch einen Gutenachtkuss und drehte sich dann auf die rechte Seite, um in den Schlaf zu finden.

Isabell und Nick schliefen sofort ein.

Kapitel 5

Isabells Geburtstag lag inzwischen einige Wochen zurück und es war bereits Anfang November. Der Winter war mit voller Wucht über England hereingebrochen und schwere Stürme fegten die letzten zwei Wochen immer wieder über die kleinen Städte an der Küste. Isabell hatte ihren langen, flauschigen, beigen Strickpullover mit den dazu farblich abgestimmten warmen Wollsocken an. Die Beine nackt und ihr Haar lediglich kurz durchgekämmt und zu einem Dutt hochgebunden. Mit einer Tasse Kaffee in ihren Händen hatte sie es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Heute war zwar Samstag, aber Eve musste die Shoppingtour zu Isabells Bedauern absagen, da sie seit ein paar Tagen mit Grippe im Bett lag. Da Nick ebenfalls keine Zeit für Isabell aufbringen konnte, weil er mal wieder trotz Wochenende arbeiten war, obwohl er Isabell versprochen hatte, es ruhiger angehen zu lassen, hatte Isabell beschlossen, heute nichts, wirklich gar nichts zu machen außer zu faulenzen. Seit ihrem Geburtstag hatte sich nicht wirklich etwas geändert. Nick kam abends oft später als Isabell nach Hause oder war für ein paar Tage geschäftlich weg und gar nicht in England. Oft blieb nur der Sonntag übrig für gemeinsame Zeit. Allerdings war Nick meistens von der Woche so fertig, dass er viel schlief und sich vor dem Fernseher entspannte. Isabell bekam ihn dann nur sehr selten aus dem Haus bewegt.

 

Mittlerweile war es schon Nachmittag und sie kam ins Grübeln.

»Soll ich heute Abend mal was kochen? Aber was? Fisch, Fleisch oder einfach eine leckere Pasta? Oder doch besser etwas Essen gehen?«

Isabell nahm das Handy in die Hand und schrieb Nick.

15:36

»Hi Nick. Soll ich uns heute Abend mal was kochen, oder sollen wir bei Toni eine Pizza essen gehen?«

Isabell wartete ein paar Minuten auf eine Reaktion von Nick, aber es kam keine. Isabell entschied sich, unter die Dusche zu gehen. Denn ob Essen zu Hause oder außerhalb, frisch geduscht sollte sie auf jeden Fall sein.

Isabell ließ sich richtig viel Zeit und trödelte etwas vor sich hin. Sie duschte ausgiebig, rasierte sich überall am Körper, cremte sich im Anschluss ordentlich ein und verpasste ihren Haaren eine ordentliche Pflegekur.

Als sie sich ein Handtuch um den Kopf gebunden und ihren Bademantel angezogen hatte, ging sie ins Schlafzimmer und schaute auf ihr Handy.

Nick hatte endlich geantwortet.

15:57

»Hi Issi, es wird heute wahrscheinlich wieder etwas später. Der Geschäftsführer der neuen Filiale in Blackpool will mit mir noch essen gehen. Wir wollen für die Eröffnung in zwei Wochen noch ein paar Details besprechen. Nach der Eröffnung habe ich wieder mehr Zeit. Versprochen! Bis später.«

Isabell las die Nachricht und währenddessen konnte sie quasi spüren, wie ihre Wut in der Magengegend immer größer wurde. Dann drückte sie auf antworten und machte sich beim Schreiben Luft.

16:07

»Nicht Dein Ernst, Nick?! Herzlichen Dank fürs mal wieder alleine lassen. Du bist nur noch am Arbeiten!!! Vor ein paar Wochen hast du mir noch versprochen, dass du es ruhiger angehen lassen willst und zumindest wieder am Wochenende Zeit hast. Tolles Versprechen, Nick! So scheißegal kann ich dir doch nicht sein, oder? Mal sehen, ob ich überhaupt zu Hause bin, wenn du kommst.«

Isabella schmiss das Handy nach Absenden der Nachricht wütend aufs Bett. Kurz darauf folgte ein Signalton. In der Hoffnung, dass die Nachricht Nick zum Denken angeregt hatte, holte sie das Handy wieder und las die Nachricht von Nick.

16:09

»Issi. Jetzt krieg dich mal wieder ein. Ich muss nun mal viel arbeiten im Moment. Kann halt nicht jeder am Wochenende faulenzen, so wie du!!! Ich komme, wann ich komme …«

Isabells Puls war schlagartig auf hundertachtzig!

»So ein Arsch«, platzte es aus Isabell raus. Isabell musste sich zusammenreißen, aber sie entschloss sich, auf diese Nachricht nicht zu antworten und standhaft zu bleiben. Die nächste Nachricht ging nicht an Nick, sondern an Eve.

16:10

»Hallo liebste Freundin. Wie geht es Dir? Mein Mann meint, mich heute Abend wieder einmal alleine zu Hause verkümmern zu lassen. Ich weiß, Du bist krank, aber vielleicht trotzdem Lust auf Gesellschaft? Ich mach uns was zu essen und wir schauen einen Film. Hast Du nicht Lust? Bitte!!! «

Keine dreißig Sekunden vergingen und Isabell konnte schon sehen, dass Eve ihr zurückschrieb.

16:13

»Hi meine Liebe. Ich bin leider immer noch total krank und schlafe eigentlich nur die ganze Zeit. Cathleen ist bis morgen früh noch bei meinen Eltern und ich bin froh, wenn ich mich in Ruhe erholen kann. Ich weiß nicht, was Cathleen hier wieder angeschleppt hat. Sie war in der letzten Woche so krank mit starkem Husten, Schnupfen und Gliederschmerzen. Und jetzt habe ich es voll abbekommen! Wir können das gerne für nächstes Wochenende in Angriff nehmen, da bin ich bestimmt wieder fit.«

16:15

»Ach Menno. So ein Pech aber auch. Hatte gehofft, dass es Dir schon besser geht. Schade! Na, dann gute Besserung und melde Dich, wenn Du wieder fit bist. Kuss an mein Patenkind, die ich übrigens auch schon gefühlt ewig nicht mehr gesehen habe «

16:17

»Sorry. War so viel los! Holen wir bald nach! Versprochen«

Das hieß, dass es Eve echt schlecht gehen musste. Normalerweise hätte Isabell sich einen dummen Kommentar hierzu anhören dürfen.

»Und was mach ich jetzt so alleine? Was bestellen oder Dinner for One kochen?«, überlegte Isabell.

Isabell beschloss, einkaufen zu gehen und nach langer Pause mal wieder richtig zu kochen, auch wenn es nur für sie sein sollte.

Isabell setzte sich in ihren Austin Healey und fuhr zu dem einzigen Supermarkt in Fleetwood, der am späten Samstagnachmittag noch geöffnet hatte. Im Laden angekommen schnappte sich Isabell einen kleinen Tragekorb direkt an der Tür und ging zielstrebig in die Obst- und Gemüseabteilung. Eine frische Zucchini hier sowie frische Tomaten und Auberginen da. Alles, was sie gerne aß und sie mit einer leckeren Pasta kombinieren konnte, landete im Einkaufskorb. Eine Packung bunte Tagliatelle und ein halbes Kilo frische Garnelen und ruck zuck war ihr Einkaufskorb voll. Isabell überlegte, ob noch irgendetwas fehlte.

»Wein? Ich brauche noch Wein!«

Isabell ging zum Weinregal und suchte sich zwei Flaschen von ihrem Lieblingswein aus. Als sie die zweite Flasche Wein gerade in den Korb gelegt hatte, klingelte ihr Handy. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Suchens fiel Isabell ein, dass sie ihr Handy nicht in der Handtasche, sondern in ihrer Manteltasche hatte. Sie sah auf dem Display ihres Handys Nicks Nummer aufleuchten. Isabell überlegte, ob sie überhaupt ans Telefon gehen sollte. Nach dieser beschissenen Nachricht von Nick wollte sie eigentlich erst einmal nicht mit ihm sprechen. Also drückte sie ihn kurzerhand weg und steckte das Handy zurück in die Manteltasche. Dann klingelte ihr Handy erneut und wieder war Nicks Nummer auf dem Display zu sehen. Isabell verdrehte die Augen, entschloss sich aber dieses Mal, ranzugehen. Jetzt war sie neugierig, was Nick zu sagen hatte.

»Nick! Was willst du? Ich bin gerade einkaufen und habe eigentlich gar keine Lust, mit dir zu sprechen.«

Am Ende der anderen Leitung war eine Männerstimme zu hören, aber es war nicht die von Nick.

»Hallo? Ist da Isabell Johnson?«

»Ja, am Apparat. Aber wer sind Sie und warum rufen Sie mich von dem Telefon meines Mannes an?«

»Mein Name ist Dr. Smith. Ich arbeite am Blackpool Victoria Hospital. Es geht um Ihren Mann. Hören Sie mir zu, Mrs. Johnson?«, fragte die fremde Stimme.

Isabell stand regungslos vor dem Weinregal und lauschte der Stimme am Telefon.

»Ja«, antwortete Isabell.

Mehr brachte sie nicht heraus. Was war los? Was war passiert?

»Ihr Mann hatte einen schweren Herzinfarkt. Wir haben ihn versorgt und er liegt jetzt auf der Intensivstation bei uns. Aber es sieht nicht gut aus. Er verliert immer wieder das Bewusstsein. Haben Sie die Möglichkeit, schnellstmöglich zu kommen?«

Isabell antwortete nur wieder mit einem gebrechlichem: »Ja. Ich bin gleich da.«

Mit fürsorglichem, väterlichem Tonfall sagte die Stimme: »Fahren Sie bitte vorsichtig, Mrs. Johnson!«

Isabell legte auf. Sie hatte die Worte gehört und auch verstanden, aber sie verstand nicht, was die Stimme ihr versucht hatte zu erklären.

»Nick schafft es vielleicht nicht? Es sieht nicht gut aus?«, kam leise über ihre Lippen. Sie begann zu zittern und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie verlor für einen kurzen Moment das Gleichgewicht und ließ den Einkaufskorb zu Boden fallen. Ein lautes Klirren war im ganzen Markt zu hören. Die beiden Weinflaschen zersprangen in viele kleine Glasscherben, die sich überall auf dem Boden verteilten. Eine Verkäuferin schaute in den Gang und kam auf Isabell mit hoch gerissenen Armen zu gelaufen.

»Wie sieht es denn hier aus? Was ist denn passiert?«

Nachdem der Blick der Verkäuferin vom Boden auf Isabell fiel, schwang ihre Aufgeregtheit in Sorge um. Isabell hielt sich mit einer Hand am Regal fest und reagierte gar nicht auf die Verkäuferin.

»Geht es Ihnen gut? Kann ich helfen?«

Isabell hob den Kopf und schüttelte diesen nur langsam und antwortete: »Ich muss ins Krankenhaus. Ich muss sofort ins Krankenhaus. Mein Mann! Ich muss ins Krankenhaus.«

Isabell wühlte hektisch in ihrer Handtasche und zog einen 20-Pfund-Schein hervor und drückte der Verkäuferin diesen in die Hand.

»Ich hoffe, das reicht für die Weinflaschen. Bitte entschuldigen Sie das Chaos!«

Kaum gesagt, war Isabell schon fast an der Ausgangstür.

Isabell nahm den schnellsten Weg, den sie kannte, in Richtung Krankenhaus. Die Tränen liefen ihr über beide Wangen und sie versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren und sich zusammenzureißen. Aber so sehr sie es auch versuchte, konnte sie es nicht. Sie war am ganzen Körper am Zittern und ihre Gedanken waren nur bei Nick.

»Was hatte er an, als er ging?

Wann habe ich ihn überhaupt das letzte Mal gesehen? War das heute Morgen oder gestern Abend?

Ich weiß es nicht mehr.

Was habe ich ihm das letzte Mal gesagt?

Was hat er mir gesagt?

Was ist passiert?

Wo war er?

Was ist nur passiert?

Hat er sich über mich aufgeregt?

Über meine letzte SMS?

Bin ich etwa schuld?

Oh nein, ich bin schuld!

Oh nein. Nick, es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«

Isabell fuhr viel zu schnell, als sie in die Zufahrtstraße zum Krankenhaus abbog. Nur mit einer Vollbremsung und quietschenden Reifen kam sie gerade noch hinter dem Krankenwagen zum Stehen, der vor der Notaufnahme parkte. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie dort überhaupt stehenbleiben dürfte, stürzte Isabell aus dem Wagen, durch zwei große Schiebetüren, die sich automatisch öffneten, in Richtung Aufnahme. Am Tresen stand eine Krankenschwester, die sich sofort der suchenden und sichtlich aufgelösten Isabell annahm und sie ansprach.

»Kann ich Ihnen helfen, Miss? Sind Sie verletzt?«, fragte die Krankenschwester sorgend und trat vor den Tresen zu Isabell.

»Wo ist mein Mann? Ich muss zu meinem Mann!«

Die Schwester versuchte, die hilflos wirkende Isabell zu beruhigen und fragte weiter.

»Miss, wie heißt Ihr Mann? Ich versuche, ihn zu finden? Wie heißt Ihr Mann, Miss?«

»Nick. Nick Johnson!«

Als die Krankenschwester den Namen hörte, veränderte sich ihr Blick und sie schaute plötzlich bestürzt.

Mit dennoch gefasster Stimme antwortete sie: »Mrs. Johnson. Ich werde mich um Sie kümmern und sofort nach Ihrem Mann sehen lassen. Bitte setzen Sie sich doch hier auf die Bank.«

»OK«, sagte Isabell und versuchte, sich selber zu beruhigen.

Die Krankenschwester führte Isabell zu einer Sitzbank, die neben dem Tresen stand.

»Kommen Sie! Setzen Sie sich so lange und versuchen, ein wenig durchzuatmen.«

Ohne Isabell von der Seite zu weichen, gab sie gleichzeitig einer Kollegin, die am anderen Ende des Korridors stand, ein hastiges Handzeichen. Die andere Krankenschwester reagierte sofort und kam zu den beiden gelaufen. Als sie eintraf, gab die bei Isabell wartende Krankenschwester der anderen leise eine Instruktion.

»Hol schnell Dr. Smith. Das ist der eingelieferte Herzinfarkt vorhin. Sag, dass seine Frau hier ist.«

 

Nach wenigen Minuten eilte ein älterer Arzt auf Isabell zu. Als Isabell ihn sah, stand sie zügig auf und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Mrs. Johnson?«

»Ja, das bin ich! Was ist mit meinem Mann? Wo ist er? Wie geht es ihm?«

»Mein Name ist Dr. Smith. Ich habe mich um Ihren Mann gekümmert, als er vor wenigen Stunden eingeliefert wurde.«

Dr. Smith machte ein Handzeichen in Richtung der Sitzbank und forderte Isabell auf, sich mit ihm hinzusetzen. Isabell folgte seiner Aufforderung und schaute ihn ungeduldig an.

»Mrs. Johnson. Wie ich Ihnen bereits am Telefon mitgeteilt habe, wurde Ihr Mann mit einem schweren Herzinfarkt eingeliefert. Er hat gekämpft und wir konnten ihn vorerst stabilisieren. Dann habe ich Sie angerufen.«

»Und jetzt?«, fragte Isabell, »Kann ich zu ihm?«

Der Arzt atmete tief durch und es fiel ihm erkennbar schwer, was er zu sagen hatte. Er legte seine Hand auf Isabells und fuhr fort.

»Mrs. Johnson. Es tut mir leid! Es tut mir wirklich unendlich leid. Er hat es nicht geschafft.«

Isabell schüttelte den Kopf und verstand nicht, was der Arzt ihr da gerade versuchte zu sagen.

»Was heißt nicht geschafft? Sie sagten doch, dass er stabil ist.«

»Das war er auch, vorerst. Ich habe Ihnen am Telefon gesagt, dass es nicht gut aussieht. Man kann nie wissen, was für Schäden ein solch schwerer Infarkt an sich schon mit sich bringt. Und dann nach unserem Telefonat erlitt er einen erneuten Herzinfarkt. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Er ist vor fünfzehn Minuten verstorben.«

»Was? … Nick ist tot?«, die Worte kamen nur sehr langsam über ihre Lippen. Ihre Stimme versagte bei dem erneuten Ausspruch. »Nick … ist tot?«

Die Tränen schossen ihr in die Augen und sie begann erneut, am ganzen Körper zu zittern.

»Mrs. Johnson. Ich weiß, was das für eine schlimme Nachricht ist. Sie brauchen Zeit, um das erst einmal zu verarbeiten. Kann ich jemanden anrufen, der Sie abholt und sich in den nächsten Stunden um Sie kümmern kann?«

Rückartig stand Isabell auf und blickte sich suchend um.

»Ich will zu ihm. Ich will zu meinem Mann.«

Dr. Smith legte Isabell behutsam die Hand auf die Schulter und drückte sie ganz leicht wieder auf den Stuhl zurück.

»Mrs. Johnson. Sie können jederzeit zu Ihrem Mann. Aber jetzt sollten Sie sich erst einmal ausruhen. Wen kann ich anrufen für Sie?«

Isabell zog wortlos ihr Handy aus der Tasche und blätterte den Kontakt von Eve auf und legte es Dr. Smith in die Hand. Dann merkte Isabell nur noch, wie alles um sie herum auf einmal schwarz wurde und sie in sich zusammenbrach. Die Stimmen um sie herum wurden immer verzerrter und verstummten nach und nach.

Isabell kam langsam wieder zu sich. Sie lag in einem Bett und spürte einen warmen Händedruck.

»Isabell. Ich bin es. Ich bin hier.«

Isabell erkannte Eves Stimme, noch bevor sie Eves Gesicht sah.

»Eve? Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus! Dr. Smith hat mich angerufen.«

Sofort schossen die Tränen wieder in Isabells Augen.

»Oh mein Gott!!! Es ist wahr? Nick ist tot???«

Eve nahm ihre Freundin fest in den Arm und fing ebenfalls an zu weinen.

»Ja. Es tut mir so leid!! Er ist tot!«

Eine ganze Weile lagen sich Eve und Isabell in den Armen und weinten, bis irgendwann Isabell die Umarmung löste und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.

»Ich will zu ihm!«, sagte sie dann bestimmend.

»Nein, Isabell. Nicht mehr heute! Du bist erschöpft und musst er einmal wieder zu dir kommen. Ich nehme dich jetzt erst einmal mit nach Hause. Morgen kommen wir wieder und dann gehen wir zu ihm.«

Eve schaute Isabell an und wartete auf eine Geste der Zustimmung. Es dauerte einen Moment, aber dann nickte Isabell und Eve nahm ihre Freundin erneut in den Arm. Dann half sie ihr aufzustehen und sie verließen das Krankenhaus.

Isabell wurde von mehreren aufeinanderfolgenden Niesern wach und hörte dann eine Tür ins Schloss fallen. Langsam schlug Isabell die Augen auf. Sie wusste nicht sofort, wo sie war. Dann stieg ihr ein bekannter Geruch in der Nase. Sie blickte neben sich und sah Cathleen. Cathleen lag eingerollt wie ein kleines Würmchen neben ihr, mit ihrem Lieblingsteddy Benjamin im Arm. Sie war tief und fest am Schlafen. Sie war bei Eve zu Hause! Aber warum? Dann fiel ihr wieder ein, was passiert war. Tränen machten sich wieder über ihrem Gesicht breit und sie fing an zu schluchzen. »Nein, nein. Das darf nicht wahr sein. Er darf nicht tot sein. NEIN!!!«

In dem Moment kam Eve ins Zimmer und eilte direkt zu ihrer Freundin.

»Ich bin da, Isabell. Ich bin da! Es tut mir so leid, meine Liebe. Es tut mir so unendlich leid. Weine. Weine, so viel wie du willst. Ich bin da!!«

Eve und Isabell lagen eng umschlungen mehrere Stunden im Bett neben Cathleen, ohne ein Wort zu reden. Cathleen wachte zwischendurch immer mal wieder auf, verhielt sich aber ganz still und leise. Eve hatte ihr bereits schonend versucht zu erklären, was passiert war. Cathleen wirkte traurig, versuchte aber offensichtlich, für ihre Tante stark zu sein. Sie hatte sich zu Isabell gedreht und an sie gekuschelt. Ihren Teddy hatte Cathleen zwischen sich und Isabell gelegt und immer, wenn Isabell wieder in Tränen ausbrach, streichelte Cathleen ihr mit der Tatze von Benjamin über das Gesicht, um so ihre Tränen zu trocknen und sie zu trösten.

»Eve?«, fragte Isabell und richtete ihren Kopf ein wenig dabei auf.

»Ja, meine Liebe?«

»Ist er wirklich fort?«

»Ja, Isabell. Er ist gegangen!«

Eve stand langsam auf und ging Richtung Tür und sagte dabei: »Ich mach uns jetzt mal etwas Warmes zu trinken und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen. Wir müssen jetzt alle etwas essen!«

»Eve?«

»Ja?«

»Ich möchte zu ihm. Können wir zu Nick fahren?«

»Ja, können wir. Dr. Smith hat gesagt, wir können jederzeit kommen, wenn du dich verabschieden möchtest.«

»Ja das möchte ich.«

»Wir fahren gleich, nachdem wir etwas gegessen haben und ich die Nachbarin erreicht habe, damit sie auf Cathleen aufpassen kann.«

Isabell schaute auf Cathleen, die wieder eingeschlafen war.

»Hat sie es verstanden?«

»Ich glaube ja. Sie ist noch zu klein, um wirklich verstehen zu können, was das alles bedeutet. Ich habe es ihr direkt gesagt, als meine Eltern sie heute Morgen gebracht haben.«

Isabell saß auf dem Beifahrersitz von Eves Auto.

Sie fuhren langsam in die Einfahrt zum Krankenhaus hoch und plötzlich tauchten die Bilder der letzten Nacht vor ihrem geistigen Auge auf. Überall war Dunkelheit. Dann flackerten in der Ferne verschwommen die Lichter des Krankenhauses auf und der davorstehenden Krankenwagen. Dann sah Isabell die Gesichter von Dr. Smith und den Krankenschwestern vor sich. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Eve stellte den Motor ab, nachdem sie den Wagen auf dem Besucherparkplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Notaufnahme geparkt hatte. Isabell wirkte wie erstarrt. Eve legte ihrer Freundin die Hand auf den Schoß und versuchte, sie mit dieser Geste zu beruhigen.

»Isabell, bist du bereit?«

Isabell schluckte und versuchte, nicht wieder in Tränen auszubrechen.

»Bereit? Wie kann ich dafür bereit sein, Eve? Gestern war ich noch verheiratet.«

Isabell schaute auf ihren Ehering. Dann drehte sie ihn mit ihrem linken Daumen und Zeigefinger hin und her. Die Steine auf ihrem Ring begannen, nacheinander zu funkeln. Dann sammelten sich erneut Tränen in ihren Augen.

»Heute bin ich Witwe.«

Eve beugte sich zu Isabell und gab ihr so die Möglichkeit, sich an ihrer Schulter anzulehnen.

»Lass es raus! Wir haben alle Zeit der Welt.«

Eine ganze Weile saßen die beiden im Auto. Isabell am Schluchzen und Weinen und Eve, die ihre Freundin beruhigend über den Kopf streichelte. Nachdem sich Isabell in ihrem Autositz wieder aufgerichtet hatte und sich die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte, versuchte sie, langsam wieder ihre Gedanken zu ordnen.

»Wann hast du mich gestern abgeholt?«

»Es muss so gegen zehn Uhr gewesen sein. Dr. Smith rief mich an und erzählte mir, was passiert ist. Ich bin sofort zu Hause los und ins Krankenhaus gekommen. Du warst noch ziemlich weggetreten, als ich bei dir eintraf. Dr. Smith berichtete mir, dass sie dir wegen deinem Zusammenbruch eine Spritze zur Beruhigung gegeben haben.«

»Dr. Smith?«

»Ja, Dr. Smith. Er war sehr in Sorge um dich. Dann war er so lieb und hat mir auch noch ein Mittel für meine Kopf- und Gliederschmerzen gegeben. Ich muss wohl auch nicht ganz so gut ausgesehen haben, als ich hier eingetroffen bin.«

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