Loe raamatut: «Love is pain»

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Eine Geschichte – Meine Geschichte

Ein Teil dieser Geschichte entstand schon im Jahre 98/99 noch auf einer Schreibmaschine niedergeschrieben. Die Rechtschreibfehler verursachen Augenkrebs und alles ist aneinandergereiht. Korrekturband war damals sehr teuer und ich arm, das ganze Geld war schon für die Schreibmaschine draufgegangen.

All die Jahre schlummerte der Text im Keller. Hin und wieder bekam ich ihn vor die Linse, aber hab es in all den Jahren nie weiter als bis Seite 10 geschafft zu lesen. Es ging nicht, ich wollte es nicht wahrhaben.

Nach meinem Zusammenbruch vor zwei Jahren, wollte ich mich dem stellen und hab es immerhin bis Seite 60 geschafft, wenn auch die letzten 20 mehr oder weniger quergelesen.

Nach meinem Besuch bei B fing es an. Wie von selbst. Inspiriert durch den Verlust von Jack, dem Mann meiner Träume, den ich sehr kurz „hatte“ und der Erkenntnis, wie sehr meine Gegenwart mit meiner Vergangenheit verbunden ist, entstand diese Geschichte. Es ist ein Tagebuch, vier Monate meines Lebens mit Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen in der Gegenwart, die teilweise in die Vergangenheit führen. Das hier sind Ausschnitte, Erfahrungen, Erlebnisse, Wunden meines Lebens.

Die Namen sind frei erfunden. Woher ich komme, wo ich lebe, spielt keine Rolle. Es geht einfach nur um mich. Dies hier ist meine Geschichte. Wie ich wurde, was ich bin. Was ich tue, um die zu werden, die ich sein will. Eine Frau, die nach aussen die Rolle einer starken, unabhängigen, witzigen, intelligenten, charmanten Frau spielt.

Ich gebe ein Bild ab, das gar nicht existiert. In Wahrheit bin ich völlig verloren. Ich hab mich verloren. Höchste Zeit, dass ich mich finde.

Um einen Weg von tausend Kilometern zu bewältigen, muss man erst mal den ersten Schritt machen. Der Weg zurück zu mir selbst ist lang und diese Geschichte aufzuschreiben, war ein weiterer Schritt zu mir selbst.

Eine Stadt am Fluss, 2016

Inhalt

Eine Geschichte – Meine Geschichte

Erster Teil

Ich, das Wrack

Wie in Trance

Neuanfang

Online

Die Hölle zum Zweiten

Ich steh meinen Mann

Meilensteine

Auf der Couch

Süchtig

Ich denk an dich

Seelenverwandte

Suche Freunde

Einen Monat später

Love is pain

Die Kunst des Lügens

Junkie auf Entzug holt sich einen Schuss

Und ewig sollst du büssen

Der letzte Kuss

Der Wolf

Ein Tag verändert das ganze Leben

Unzertrennlich

Manipulation

Lauf Weg!

Angst

Ein bisschen Ruhe

Der Groschen fällt

Puh, das war knapp

Gier

Mutterinstinkt

Engel

Dann geh ich eben drauf

Durchatmen

Ich muss mich finden

Vertraute

Er ist wieder da

Danke für meine Freiheit, mein Leben

Dritter Teil

Willkommen in der Gegenwart

Wind

Es hat alles einen Grund

Ich bin auch wichtig

Schwestern

Wie weiter?

Manchmal muss man sich trennen

Dominosteine

Geduld

Das Ende einer Geschichte

Dank

Für O., meine verlorene Liebe

Meine Inspiration

Erster Teil

Ich, das Wrack

Wie in Trance

Ich öffne die Tür, stelle die Einkäufe ab, ziehe Jacke, Schuhe und Uhr aus. Sobald ich zur Tür reinkomme, muss die Uhr weg. Den ganzen Tag bin ich mir gar nicht bewusst, dass ich eine anhabe, aber sobald ich meine Wohnung betrete, stört mich das Band um das Handgelenk, sie muss sofort weg. Ich renne auf die Toilette, meine Blase hat die Grösse einer Haselnuss, ständig muss ich auf die Toilette rennen. Erst dann bringe ich die Einkäufe in die Küche, räume alles ein, setz mich hin.

Feierabend. Genüsslich eine Rauchen. Wobei, genüsslich ist es schon seit einiger Zeit nicht mehr, ich kann kaum noch atmen, der Husten erinnert an einen Minenarbeiter und Lust hab ich auch keine mehr, aber ich zünde mir schon fast alle halbe Stunde eine an, weil ich nicht weiss, was ich sonst tun könnte.

Ich öffne den Laptop, der immer auf dem Küchentisch steht und nur für Updates runtergefahren wird, suche erst mal nach Jack. Eine Gewohnheit. Nachsehen, ob er neue Platten zum Verkauf hochgeladen hat. Nicht, dass ich etwas kaufen will, ich schaue nur nach, ob er in der Zwischenzeit drauf war, das würde mir zeigen, wie er ein paar Minuten seines Tages verbracht hat.

Nein, seit heute Morgen und dann wieder am Nachmittag als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hat sich bei seinen Angeboten oder Kommentaren nichts verändert, er ist ja schliesslich am Arbeiten. Das hält mich nicht davon ab, mehrmals täglich draufzuschauen. Dann spiele ich eine Weile mein Früchtchenspiel, verbrauche die fünf Leben. Nicht, dass ich es noch gerne spiele, es langweilt mich schon lange, aber es beschäftigt mich eine Weile.

Ich logg mich in die Quatschbox ein, schaue nach, ob Mike, Adi, Alain oder Chatana online waren oder sind. Nein, keine Veränderung in den letzten zwei Stunden. Nicht, dass es mich wirklich noch interessiert, aber auch das beschäftig mich für einen Moment. Ich kann kurz mal an etwas anderes denken als an meinen Schmerz. Noch kurz Partnerbörse checken, ob jemand geschrieben hat. Ich schreibe sowieso niemandem zurück, lese und lösche alle Anfragen. Das Abo ist herausgeschmissenes Geld, aber immerhin sind wieder ein paar Minuten um.

Die zweite Zigarette ist auch schon verraucht. Heute muss ich nicht kochen, Matteo geht ins Training. Da er vorher nicht essen kann, koche ich montags und mittwochs nicht. Ich hab mir vorgenommen, heute Abend auch ins Fitnessstudio zu gehen, montags und mittwochs ist praktisch, da ich ja eh nicht kochen muss, aber dann frag ich mich, wozu noch? Ich muss nicht mehr schlank und straff aussehen, in nächster Zeit wird mich sowieso kein Mann nackt sehen.

Ich hab die letzten Wochen drei bis vier Mal die Woche trainiert, die Aussicht auf Sex mit Jack, war der beste Motivator, den ich je hatte. Aber Jack will mich nicht mehr. Es ist vorbei. Momentan kann ich mir gar nicht vorstellen, einen anderen Mann zu küssen, geschweige denn, scharf auf ihn zu werden und Sex zu haben. Ich verschiebe das Training auf Mittwoch, heute bin ich eh etwas verschnupft und müde.

Steh seufzend auf, schlürfe ins Wohnzimmer, setzte mich auf mein geliebtes, breites, braunes Sofa mit den vielen beigen Kissen. Ich liebe mein Sofa, aber das sieht man dem leider auch an. Schon lange möchte ich ein Neues, wenn auch am liebsten das gleiche Modell, in der gleichen Farbe.

Ich setz mich in den Schneidersitz und dann lasse ich die Tränen fliessen, die sich schon den ganzen Tag in meinen Augen gesammelt haben. Als hätte ich auf einen Knopf gedrückt und es sprudelt alles aus mir raus. Innerlich jauchze und schreie ich „Ich vermisse dich so sehr. Ich halt‘s nicht mehr aus!“ Nach ein paar Minuten versiegt der Tränenfluss. Der Tank ist leer. Das ist meine neuste Methode, abends die Wimperntusche abzuschminken, sehr effektiv, es bleiben keine Reste übrig.

Ich wisch das Gesicht, putz die Nase, schalte den Fernseher ein und starre meine neue Wohnwand an. Sie ist gross, hässlich, passt nicht in meine Wohnung, passt nicht zum restlichen Mobiliar, passt nicht zu mir. Was für ein Fehlkauf.

Die letzte war schon alt und leider dunkelbraun. Furchtbar, die sah nie abgestaubt aus. Auf dunkler Fläche ist der Staub immer da, das hat mich all die Jahre genervt, trotzdem hat sie zum Rest der Wohnung gepasst. Aber bei der hier hab ich ordentlich danebengegriffen.

Zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, ich war verliebt und die Hormone spielten verrückt. Die Welt war voller bunter Schmetterlinge, die meinen Blick getrübt haben. Ich sass im Büro und stellte mir vor, wie ich Jack zu mir nach Hause einlade, dafür brauche ich natürlich unbedingt eine neue Wohnwand, ich schämte mich für die Alte. Vor sieben Jahren habe ich das Wohnzimmer neu möbliert, nun ist es höchste Zeit, alles zu ersetzen, moderner zu gestalten. So hab ich rumgesurft, eine gefunden, gleich online bestellt, ich hab ja kein Auto, um hinzufahren. Dummer Fehler, unglaublich dummer Fehler, ich weiss. Die wurde auch gleich drei Tage später geliefert und aufgebaut. Ich hab Geld, das ich eigentlich gar nicht habe, für so was zum Fenster rausgeschmissen. Nicht nur, dass sie nicht passt, Jack wird sie nun auch nie sehen, weil er nie zu mir nach Hause kommen wird. Genauso wenig, wie die neue Kaffeemaschine. Die alte war schon ziemlich verbraucht und ich hab eine neue bestellt, damit ich mich wegen der Alten nicht schämen muss, wenn ich Jack einen Kaffee mache. Die Neue steht seit Tagen, immer noch ungeöffnet, auf dem Küchenfussboden. Wozu auspacken, ich werd für Jack nie Kaffee kochen.

Ich zappe rum, schaue, ohne etwas zu sehen. Für Nachrichten hab ich kein Gehör, ich weiss nicht, was in den letzten Tagen auf der Welt geschehen ist, meine eigene ist wieder mal zusammengebrochen. Da morgens in der Küche und tagsüber im Büro immer das Radio läuft, hab ich mit halben Ohr mitbekommen, dass es Anschläge in Brüssel gegeben hat. Aber die Information ging durch mich hindurch. Sonst war ich immer gut informiert, hab tagsüber die Zeitungen gelesen, Kommentare, Bücher, viel gesurft. Jetzt ist da kein Platz mehr für den Rest der Welt. Wozu all dieses Wissen? Was nützt es schon?

Was ändert es an der Tatsache, dass ich kurz geglaubt hab, endlich auch mal richtig Glück zu haben, nur um dann festzustellen, dass ich wie gewöhnlich auf die Schnauze falle. Für Glück bin ich nicht gemacht. Ich hab keine Lust mehr aufzustehen, mich erholen, Staub abklopfen und weitergehen.

Liegen bleiben. Wozu aufstehen, ich fall ja doch wieder hin. Wozu wissen, wozu lernen, wozu bilden? Hat doch eh alles keinen Sinn.

Ich beschliesse, ein bisschen spazieren zu gehen. Kopfhörer rein, Musik an, laufen. Da kann ich in meine Fantasiewelt eintauchen. Da kann ich die sein, die ich will. Dort kann ich ihn noch küssen, seine Nähe spüren, mit ihm reden und lachen. In dieser Traumwelt ist er noch da und liebt mich. In der Realität ist nichts.

Aber ich kann nicht mehr abtauchen, so wie ich es früher immer konnte. Dieses Mal scheint die Flucht in den Tagtraum nicht zu gelingen, da ist diese Traurigkeit. Dieses Mal sitzt sie zu tief, um ignoriert oder überspielt zu werden.

Traurig war ich schon sehr oft in meinem Leben. Diesmal ist es wohl einfach einmal zu viel. Diesmal seh ich keinen Sinn mehr, aufzustehen. Matteo wird bald 20 Jahre alt, er braucht mich nicht mehr. Wie soll ich mich noch motivieren, zu funktionieren?

Daraus besteht mein ganzes Leben, aus funktionieren. Nur stellt sich nun die Frage, wofür denn? Vor mir ist nichts. Nichts worauf ich mich freue, nichts was ich noch erreichen möchte, nichts was mich interessiert, nichts wofür es sich noch zu kämpfen lohnt. Nichts. Nichts. Nichts.

Ich nehme die Hörer raus, laufe ohne Musik weiter. Das konnte ich früher nie, nicht mal ein paar Meter. Jetzt kann ich die Scheinwelt nicht mehr ertragen. Sie spendet mir keinen Trost, weil ich weiss, ich muss aus ihr in das Nichts der Realität zurückkehren. Ich laufe in den Wald. Ich hab vor kurzem einen Baum zuoberst entdeckt. Man kann sich gut hinsetzen, an ihn anlehnen, die Aussicht über die Felder geniessen und der Sonne abends beim Untergehen zusehen. Ich muss sowieso mal ein ernstes Wörtchen mit Gott reden, scheint mir ein geeigneter Platz für unser Gespräch zu sein.

Seit gestern habe ich eine Wut auf Gott. Ich hab ihn nie angezweifelt. Seit ich denken kann, weiss ich, fühle ich, es gibt einen Gott. Ich hatte mit den Religionen meine Mühe, schon als Kind, was mir viele Schläge im Religionsunterricht einbrachte. Aber an Gott hab ich nie gezweifelt. Ich hab mit meiner und allen anderen Religionen gehadert, aber nie mit Gott. Er ist immer da, er ist einfach da, das weiss ich. Aber jetzt bin ich wütend auf ihn.

Gott hat mich vergessen. Ich laufe irgendwo unter „Ferner liefen“. Der Teufel muss gar nichts tun. Er kann einfach ruhig dasitzen und zusehen, wie ich in sein Nichts falle. Mit 10 habe ich gehofft, wenn ich gross werde, wird alles gut. Mit 20 habe ich Angst, Schläge, Demütigung, Scham ertragen und gehofft, bald wird alles gut. Mit 30 hab ich gedacht, wenn ich meine Schulden zurückzahle und ein bisschen zur Ruhe komme, mich bemühe, wird alles gut. Jetzt mit fast 40 weiss ich, es wird nie gut. Es ist einfach nur ein anderes Schlecht.

Es war es nie und wird es nie sein. Dieses „Alles wird gut“ ist zureden, damit man nicht zusammenbricht. Ich wünschte, meine Eltern hätten nie Kinder gekriegt. So was wie die, sind unfähig, Kinder grosszuziehen. Meine Mutter kann sich glücklich preisen. Ihr Wunsch „hoffentlich wirst du nie glücklich“ hat sich vollends erfüllt. Voilà. Zufrieden?!?!

Aber ihr wird geholfen. Sie bittet und der Wunsch wird erfüllt. Was für eine Ausgeburt der Hölle bin ich dann, wenn ich mein Leben lang bitte und flehe und was? Nichts! Ich hab das grosse Los „Nichts“ gezogen. Wozu wurde ich überhaupt erschaffen? Weiss ich doch nicht. Gott hatte wohl grad einen lustigen Tag und wollte mal eine Witzfigur kreieren. Einen Hamster, der strampelt und strampelt und immer weiter im Schlamm versinkt, bis er untergeht.

Mich! Ich hab nach den Sternen gegriffen, wo ich doch wissen müsste, dass Glück nicht für mich vorbestimmt ist. Das ist nur den Guten vorbehalten, aber nicht mir. Ich gehörte und gehöre nicht in diesen exklusiven Kreis. Ich bin und war schon immer die Witzfigur, das sonderbare Ding, dass mit Kopfhörern herumläuft, träumt, auf der Schaukel bis spät in die Nacht vor sich hinträumt, sie würde eines Tages geliebt werden. Mit 39 laufe ich noch herum und träume, würde geliebt werden. Nimm die Kopfhörer raus, sieh dir die Realität an, du wirst niemals geliebt! Sieh der Wahrheit in die Augen. Das hast du nicht verdient, du bist nicht gut, du bist die Ausgeburt der Hölle.

Ja, ich hab in meinem Leben unglaublich viele Fehler begangen, aber die liegen weit zurück, ich hab doch daraus gelernt und mich weiterentwickelt. Seitdem hab ich kein Gesetz gebrochen, hab mir nichts zuschulden kommen lassen, hab keine verheirateten Liebhaber, nicht mal unverheiratete, gehabt. Hab niemandem ein Bein gestellt, damit er fällt, trat auf niemanden, der schon am Boden lag, versuche immer ehrlich, offen und gut zu sein. Ich kann nicht so ein schlechter Mensch sein, dass ich einfach keine Liebe verdient habe.

Aber ich fühl mich, wie der schlechteste Mensch, den es gibt, weil Liebe fast mein ganzes Leben lang einen Bogen um mich macht. Gute Menschen haben immer mal Glück, sie werden geliebt, nur ich nicht.

Doch Gott antwortet nicht. Er hat mich längst vergessen. So oft hat er mich beschützt, um mich am Ende zu vergessen. Rauch noch eine während dieses einseitigen Gesprächs, gehe wieder nach Hause. Dusche, esse ein Brötchen mit Marmelade, zappe im TV rum, bis es Zeit ist, schlafen zu gehen.

Ein weiterer Tag ist geschafft, durchkreuzen. Als wäre irgendwann in der Zukunft ein Termin festgelegt und wenn ich den erreiche, ist alles gut. Ich muss es nur irgendwie bis dahin schaffen, am besten schlafend. Ich lebe nicht in der Gegenwart. Entweder in der Vergangenheit oder in der sich nie erfüllenden Zukunft, aber sehr selten in der Gegenwart. In der Gegenwart ist nun mal nichts.

23 Uhr ist Schlafenszeit. Ich drehe mich noch bis 1 Uhr morgens hin und her, bis ich endlich in einen traumlosen Schlaf falle.

Neuanfang

Der Handy-Wecker klingelt. Ich stell ihn ab. 10 Minuten später klingelt er wieder. So geht das weiter, über eine Stunde lang. Nun muss ich aufstehen, ein weiterer Arbeitstag steht an. Als erstes geht es immer in die Küche, Kaffee aufsetzen. Nicht mit der neuen oder alten Kaffeemaschine, ich trinke nur türkischen Kaffee, schon seit Jahren. Die Maschine ist nur für Gäste, die ich sehr selten habe. Eigentlich gar keine mehr. Ich trinke meinen Kaffee, rauche und spiele mein Bauernhofspiel.

Vor einem Jahr hab ich das heruntergeladen. Damals auf Adis Rat, mir nicht den Kopf zu zerbrechen, hab ich nach einer Ablenkung gesucht und dieses Spiel heruntergeladen und wurde süchtig. Mittlerweile ist es keine Sucht mehr sondern Gewohnheit und Zeitvertreib. Manchmal spiele ich jede halbe Stunde und manchmal den ganzen Tag nicht. Jetzt ist es wieder Ablenkung, wenn auch keine gute. Ich bin eh schon spät dran, aber das ist egal. Im Büro wartet sowieso nichts, das erledigt werden muss. Ich muss einfach präsent sein.

Erstmal gemütlich ins Bad schlürfen, das übliche Morgenritual. Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrt, kann man der Welt da draussen nicht präsentieren. Meine grün-braunen Augen sehen aufgedunsen und müde aus. Es ist ein helleres grün. Das ist es immer, wenn ich traurig bin. Wenn ich wütend werde, dann sind sie dunkler. Mein dünnes, schnellfettendes, dunkelbraunes Haar hängt schlaff über die Schultern, ich sollte dringend nachschneiden und die Farbe auffrischen. Mein bleiches Gesicht hat durch den Gewichtsverlust in den letzten zwei Jahren immerhin eine schönere Form bekommen, Konturen. Die dünnen Lippen hängen nach unten. Haben sich seit Tagen nicht mehr nach oben, zu einem echten Lächeln verzogen. Make-Up muss sein, die Falten um die Augen kaschieren, die Unebenheiten der Haut ausgleichen. Ich hab keine Lust mich zu schminken und schick anzuziehen, aber ich muss funktionieren. Ausserhalb meiner Wände soll niemand sehen, dass ich leide. Immerhin hat es was Gutes, meine Figur gefällt mir mittlerweile ganz gut, ich hab abgenommen, hab einfach keinen Hunger. Dummerweise habe ich auch an den Brüsten abgenommen. Das war das Einzige, was mich an mir noch nie gestört hat, ich mochte meine Brüste, aber die sind nun weg.

Präsentabel verlasse ich die Wohnung, natürlich mit Musikbegleitung, aber es funktioniert einfach nicht mehr. An der Tramstation stell ich sie wieder ab. Der Weg zum Büro ist nicht weit. Da angekommen, schalte ich meinen PC an, gebe das Passwort ein und gehe auf die Terrasse einen Kaffee trinken und rauchen. Danach gehe ich erst mal auf die Toilette und Wasser holen, bevor ich mich an meinen Arbeitsplatz setze und als erstes die Mailbox öffne und dann alle anderen Programme, die ich gar nicht brauche, aber es sieht so aus, als hätte ich zu tun, falls jemand zu mir kommt. Jeden Morgen das gleiche Ritual.

Meist fange ich mit dem Tagebuch an. Ich schreibe, was ich letzten Abend gemacht und wie ich mich gefühlt hab. Jeden Tag schreibe und schreibe ich, mit irgendwas muss ich mich den ganzen Tag beschäftigen. Ich hab es auch angefangen, in der Hoffnung, mir die Schmerzen von der Seele zu schreiben und gut ist. Aber es hat in den ganzen zwei Jahren nicht geklappt. Vor kurzem hab ich einen Blog angefangen, ich wollte mir ein bisschen die Zeit vertreiben und schrieb im Blog über meine Erfahrungen mit Dating-Apps. Es sollte lustig sein. Aber dann trat Jack in mein Leben, stellte alles auf den Kopf und der Blog wurde zu meiner virtuellen Klagemauer. 50 Follower hab ich schon, die sich mein Gejammer antun, weitere lesen wohl mit.

Nach meinem Tagebucheintrag, dass den ganzen Tag über, mit Gedanken und Gefühlen gefüllt wird, kümmere ich mich um Blogeinträge. Ich lese auch die Blogs der anderen. Es tröstet mich, zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die leidet. Es gibt da draussen noch mehr, die sich ihren Schmerz anonym von der Seele schreiben. In so manchem Beitrag erkenne ich mich wieder.

Die Stunde bis zur nächsten Zigarette dauert ewig. Mittlerweile gehe ich schon rauchen, bevor eine Stunde um ist. Ich kann mich eh auf nichts konzentrieren, nicht dass es da etwas gäbe, worauf ich mich konzentrieren müsste.

Das war so nicht geplant. Was für Hoffnungen hab ich in diesen Job gesetzt.

Sommer 2013

Ich habe gerade meine Weiterbildung erfolgreich hinter mich gebracht. Natürlich bin ich sehr stolz auf meine Leistung, die ich trotz Vollzeitjob, Kind und Haushalt, Mitarbeiter führen, geschafft hab. Aber was soll ich nun damit anfangen? Wie soll es weitergehen?

Mein Chef, Bjarne, ruft mich an und meint, in einem anderen Projekt wird eine Stelle frei und man hat bei ihm angefragt, ob ich wohl Interesse daran hätte. Ich antworte, wenn sie gut bezahlen, why not. Ich rufe Liv, den Projektleiter an, um mich über die Details zu informieren. Mehr Lohn, weniger Mitarbeiter, schöneres Büro. Ich weiss, dass alle neuen Verträge nur befristet sind, Sparmassnahmen. Liv sagt, für mich gilt das nicht, ich werde selbstverständlich einen unbefristeten erhalten. Gut, klingt doch ganz gut, ich werde ihm noch ein offizielles Bewerbungsschreiben zukommen lassen. Das schreibe ich dann auch gleich nach unserem Gespräch und schicke es per Mail, ich muss mich ja nicht lang und breit erklären, die kennen mich alle seit Jahren und mein Dossier haben sie ja auch. Meine Bewerbung ist in fünf Minuten erledigt.

Ich freue mich. Klar weiss ich, dass ich als Mitarbeiterin, als Führungsperson sowohl gefürchtet, wie auch geschätzt werde. Es ehrt mich, dass sie mich haben wollen. Ich hab keine leichte Zeit hinter mir.

Nach meiner dreijährigen Ausbildung zur Kauffrau habe ich hier als Arbeitslose im Programm angefangen, damit ich ein bisschen Erfahrung sammle. Immerhin sammle ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr Berufserfahrung, aber nicht im Büro. Ich hab in der Teppichfabrik Musterkataloge geklebt, hab in Restaurants und Bars Neben- wie Hauptberuflich gearbeitet, als Lagermitarbeiterin Kisten geschleppt, als Kassiererin im Einkaufszentrum gearbeitet und anderer Leute Büros und Wohnungen geputzt bis ich meinen Abschluss hatte. Hochverschuldet und 100 Bewerbungen später, kam ich ins Programm, weil mich keiner einstellen wollte, ich hatte keine Berufserfahrung.

Nach fünf Monaten bekam ich da eine Stelle in einem Projekt, zwar befristet, aber immerhin mit Bezahlung. Der Lohn war gut, ich hab nur leider nichts davon gehabt, da ich drei Jahre Schuldenanhäufung abstottern musste. Aber ich konnte gleich ans nächste Projekt als Gruppenchefin anknüpfen, noch bessere Bezahlung, aber brachte mir weiterhin nicht viel. Auch diese Stelle war befristet, doch ich konnte wieder zum nächsten Projekt als Gruppenchefin anschliessen. Dann bot mir Bjarne eine Festanstellung als Leiterin an. Noch bessere Bezahlung und nun konnte ich davon auch profitieren. Meine Schulden waren mittlerweile getilgt. Er liess mir freie Hand obwohl ich überhaupt keine Erfahrung hatte, aber er traute mir diese Aufgabe zu. Es war ein neues Projekt, wir starten mal und schauen wohin es führt.

Der Anfang war hart, ich musste kämpfen, ich musste mich beweisen, ich musste viel einstecken. Aber ich gab nicht auf. Ich lernte, ich entwickelte mich, ich wurde immer besser.

Ich hab Bjarne versprochen, ganz sicher 4 Jahre zu bleiben. Hab mein Versprechen erfüllt und nun? Dieses Projekt war mein Baby und es sass noch nicht fest im Sattel, ich konnte es noch nicht verlassen. Mein Gefühl sagte mir, es ist noch nicht soweit. Aber mein Baby füllte mich nicht mehr aus. Ich war zeitlich und organisatorisch im Stress und unter Druck, immerhin hatte ich zwischen 10 bis 30 Leute zu führen, aber meine grauen Zellen kamen kaum noch auf Touren. Ich stöberte nach Weiterbildungen, um mein Hirn wieder zu aktivieren. Alle möglichen Kurse hab ich mir angeschaut, sogar einen Strickkurs liess ich mir durch den Kopf gehen, aber nichts fühlte sich richtig an. Bis ich auf die Idee mit der Matur kam und sofort meldete sich mein Gefühl „Das ist es!“ Also meldete ich mich sofort an und zog das Ding nebenbei durch. Sehr erfolgreich.

Nun kommt dieses Angebot zur rechten Zeit. Ich bin soweit. Ich hab alles für mein Baby gegeben, jetzt steht es auf eigenen Füssen, ich bin stolz darauf, aber es ist Zeit, dass wir uns trennen und ich mich einer neuen Herausforderung widme. Ich habe fertig.

Auf dem Nachhauseweg kommen mir plötzlich Zweifel auf. Will ich das wirklich auch weiterhin machen? Auch wenn es ein anderes Projekt ist, die Materie kenne ich und die fordert mich schon lange nicht mehr, ich kann längst alles auswendig. Will ich weiterhin pendeln und drei Stunden täglich für den Arbeitsweg aufwenden, nach 9 Jahren habe ich schon zu viele Stunden nur im Zug verbracht. Will ich überhaupt weiterhin die Chefin sein, weiterhin Verantwortung für andere tragen? Verantwortung trage ich schon seit ich existiere, immer ist irgendjemand da, um den ich mich kümmern muss. Ich wünsche mir, einfach mal nur noch für mich selbst verantwortlich zu sein.

Je länger der Abend fortschreitet desto klarer sehe ich. Ich bin nicht nur mit meinem Baby fertig, ich bin auch mit diesem Arbeitgeber, mit diesem Arbeitsort, mit Chef spielen fertig. Ich bin einfach fertig damit. Mein Gefühl ist sich sicher. Ich scanne alle Bewerbungsunterlagen ein und schicke sie mir ins Büro.

Nach vielen Jahren öffne ich am nächsten Morgen wieder mal den Stellenanzeiger. Ich sehe eine ausgeschriebene Stelle als Projektleiterin. „Die suchen mich“ schiesst mir durch den Kopf. Ich ändere das Bewerbungsschreiben für Liv kurz ab und sende die Bewerbung elektronisch ab, noch ein Ausdruck der Stellenbeschreibung und das war’s, nach ein paar Minuten ist meine Bewerbung unterwegs.

Zwei Tage später such ich mein Handy und ziehe den Ausdruck aus meiner Handtasche, lese mal richtig, worauf ich mich da beworben habe und lache laut auf „Ja, man kann’s ja mal versuchen.“ Ich bin für diese Stelle überhaupt nicht qualifiziert, hab wohl ein bisschen nach den Sternen gegriffen. Ich schmeiss den Ausdruck weg.

Intern lädt man mich zu einem Vorstellungsgespräch ein und kurz vor dem Gespräch, bekomme ich eine Einladung zu diesem Vorstellungsgespräch als Projektleiterin. Ich falle aus allen Wolken, damit hab ich nicht gerechnet, vor allem ist mir meine schlechte Bewerbung so peinlich. Leider weiss ich nicht mal mehr genau, worum es überhaupt geht, den Ausdruck hab ich weggeworfen und online ist es bereits überall zurückgezogen. Ich bin verzweifelt die Suchmaschinen am Abklappern, da taucht Phil, ein Arbeitskollege, auf. Ich erkläre ihm panisch mein Dilemma, ich hab ein Vorstellungsgespräch und weiss gar nicht mehr, um was es geht. Fünf Minuten später schickt er mir eine Mail mit der Stellenbeschreibung. Wie klein die Welt ist, werde ich später herausfinden.

Beim Vorstellungsgespräch mit Liv und Maurizio heisst es plötzlich, der unbefristete Vertrag ist nicht möglich. Maurizio sagt, er hätte alles versucht, aber es geht nicht. Er fragt mich, ob ich noch was offen habe und ich sage, ich habe noch ein Vorstellungsgespräch in der Stadt am Fluss. Maurizio grinst frech, ich kann seine Gedanken hören „Ja, ja das wollen einige hier schon seit Jahren.“ Allein seines frechen Grinsens wegen, wünsche ich mir die neue Stelle. Ich überlege kurz und sage Liv, einen befristeten Vertrag kann ich nicht annehmen.

Ich hab eine Woche frei und in dieser Zeit ist auch mein Vorstellungsgespräch. Ich bin unglaublich aufgeregt, alles zureden hilft nichts. Ich sitze in meiner Küche, rauche eine nach der anderen und kann mich einfach nicht beruhigen. Für einen Moment halte ich inne und höre auf mein Gefühl. „Du wirst beide Stellen erhalten“. Das beruhigt mich, aber schon pfuscht der Kopf wieder rein und ich bin wieder mit den Nerven am Ende. Immer dieser Kampf zwischen Verstand und Gefühl.

Endlich ist es soweit. Ich werde von Caro herzlich begrüsst, in einen Raum mit vielen Tischen geführt. Zwischen mir, Caro links, Franz rechts und Robert gegenüber, sind etliche Meter, ich muss fast schreien. Robert erzählt, ich seh ihn an, ich schaue Franz an und denke, hier will ich nicht arbeiten. Mit so vertrockneten Pflaumen halte ich es auf gar keinen Fall aus. Ich lass ihn reden, nicke hier und da, hoffe es ist bald vorbei. Im Kopf formuliere ich schon meine Absage. Gleich morgen oder soll ich so tun als hätte ich darüber nachgedacht und erst nächste Woche absagen?

Dann bin ich an der Reihe mit erzählen. Ja das kann ich. Sie stellen Fragen, ich antworte gewissenhaft, aber auch mit einer Prise Humor. Die beiden tauen auf, sogar der verstockte Franz lacht. Die Stimmung hebt sich und ich denke, geht doch. Sie können tatsächlich auch anders. Robert war von meinem Maturzeugnis so beeindruckt und wollte die Person, die das hingekriegt hat, mal kennenlernen. Nach dem Gespräch weiss ich, die Stelle gehört mir. Ich bin mir so sicher. Ich bin mir auch sicher, dass ich sie annehmen muss, es ist sehr wichtig für mich. Warum, weiss ich nicht, nur dass mein Instinkt mir sagt, ich muss.

Am Montag geh ich wieder zur Arbeit. Bjarne ruft mich in sein Büro, er ist ganz aufgeregt und zappelt herum. Ich verstehe nicht, was los ist. Wir haben uns nur ein paar Tage nicht gesehen und nicht Jahre, ich schaue ihn ausdruckslos an. Er schaut mich verwirrt an, weil ich ihn ausdruckslos anschaue. So stehen wir beide einen Moment verwirrt da bis er ruft „Du gehst!“ Verwirrt frage ich „Wohin?“ „Du hast doch die Stelle bei Liv bekommen“ ruft er aus. „Hab ich das? Davon weiss ich nichts.“ Er ist überrascht, denn er war ja auch im Urlaub. Ich erzähle ihm von dem befristeten Vertrag, dass ich abgelehnt habe und seitdem nichts mehr gehört habe und auch von meinem Vorstellungsgespräch, von dem ich denke, dass ich die Stelle bekomme. Er meint, für meine Stelle sei schon ein Vorstellungsgespräch für 10 Uhr angesetzt. „Würdest du bitte warten, bis ich weg bin, bevor du meinen Stuhl besetzt!“ rufe ich aus.

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