Loe raamatut: «Pläne sind zum Ändern da»
Dorina Kasten
PLÄNE SIND
ZUM ÄNDERN DA
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Personen und Handlung des Romans sind frei erfunden.
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Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelfoto: Small old railway station in rural area © pyty (FOTOLIA)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Für Bernd
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Über das Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Teil I
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil II
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Teil III
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Prolog
Als Nora auf den Hof fuhr, sah sie Ralfs roten Pick-up vor dem Pferdestall stehen. Die Fahrertür war offen. Da hatte er es wohl eilig, dachte sie beiläufig und stieg aus.
Im Stall schien es dunkel zu sein. Die schwere Holztür mit der schönen, alten Schnitzerei war nur angelehnt. Vor Jahren hatte sie das auffällige Stück bei einem Trödler entdeckt und mithilfe ihres Kollegen restauriert. Angeblich stammte die Tür von einem niedersächsischen Bauernhof. Sie bestand aus zwei Teilen, und man nannte sie Klöntür. Der obere Teil ließ sich separat öffnen. Bei schlechtem Wetter, wenn die Pferde nicht auf die Weide gelassen wurden, konnten sie wenigstens hinausschauen. Jetzt aber war Sommer, und die beiden Stuten blieben auch nachts draußen.
Nora wollte die Tür schließen. Da hörte sie ein Geräusch, ein lautes Rascheln im Stroh. War noch eine Katze drinnen? Oder etwa der Marder, der neuerdings auf dem Dachboden hauste? Sie packte die dreizackige Heugabel, die an der Wand lehnte, öffnete die Tür ganz und trat ein. Stallgeruch schlug ihr entgegen und sie musste gegen das Halbdunkel blinzeln. Das Bild, das sich ihr im nächsten Augenblick bot, war bizarr. Einige Sekunden lang starrte sie ungläubig auf das Paar, das sich zu ihren Füßen im Stroh wälzte. Unfähig zu schreien, sog sie scharf die Luft ein. Sie wollte nicht glauben, was sie sah, nämlich, dass der halbnackte Mann da unten im Stroh ihr Mann war. Ihr Ralf, leicht übergewichtig, saß rittlings auf einer Frau. Sie schloss kurz die Augen, weil sie hoffte, das Bild würde verschwinden. Währenddessen kämpfte sie gegen die aufsteigende Übelkeit an, die eiskalten Schweiß in ihre Poren trieb. „Der Klassiker!“, stöhnte sie lautlos. Jetzt fehlte nur noch, dass er sagen würde: „Ich kann dir das erklären. Es ist nicht so, wie es aussieht.“
Sie stierte auf ihn herab, zu gelähmt, um irgendein Wort hervorzubringen. Auf die Heugabel gestützt, gelang es ihr nicht, den Blick von dem Paar abzuwenden. Ihre natürliche Scham schien ihr in dieser Ausnahmesituation abhandengekommen zu sein, stellte sie irritiert fest.
„Ich kann dir das erklären…“, ertönte es von unten.
Sie warf die Heugabel weg und erbrach sich ins Stroh. Dann ergriff sie die Flucht.
Teil I
1
„Igitt! Was für ein Schietwetter!“, fluchte Nora leise vor sich hin. Als sie den Motor abstellte und die Arme des Scheibenwischers ihres alten Golfs aufhörten, verzweifelt zu rudern, war die Frontscheibe sofort regenblind. Der Mai fing ja gut an! Sie stieg aus dem Auto, bemüht, nicht gleich in eine Pfütze zu treten und spannte den Schirm auf. Besser, sie gewöhnte sich schon mal daran. Auf Island würde es auch nicht anders sein: wenig Sonne, viel Regen und Wind, Norddeutschland in verschärfter Variante sozusagen. Trotzdem klopfte ihr Herz bei dem Gedanken daran sofort etwas schneller. In gut fünf Monaten war es endlich soweit. Ihre Auszeit oder modern ausgedrückt, ihr Sabbatical, sollte beginnen. Die erste Station ihrer Reise war Reykjavik. Sie hatte nicht lange überlegt, als Ralf eine gemeinsame Weltreise vorgeschlagen hatte. Er war fest entschlossen, seine Tierarztpraxis zu verkaufen und sich fortan nur noch der Pferdezucht zu widmen. Sie wusste, dass ihm dieser Schritt nicht leichtfallen würde. So von hundert auf null, das ging eben nicht, hatte er ihr erklärt. Früher oder später musste es sein, und letztendlich hatte er genug von der schweren Arbeit eines Landtierarztes, die durchaus körperliche Spuren hinterlassen hatte. Nora fand auch, dass er seine Knochen den tretenden Rindern und ausschlagenden Pferden genug hingehalten hatte. Von seichten Vorabendserien war die Realität des Berufes weit entfernt. Sollte er in tausend Jahren ausgegraben werden, so prophezeite sie ihm, würden die Archäologen denken, sie hätten angesichts der Verletzungen einen Ritter vor sich. Ihr Ritter, ja, das war er eigentlich noch immer.
Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, damals vor dreißig Jahren. Er war als junger Absolvent in ihr Heimatdorf gekommen und hatte seine langjährige Beziehung am Studienort zurückgelassen. Nora hatte gerade ihre von Anfang an verkorkste Verlobung gelöst und war mit ihren Eltern zum Dorffasching gegangen, fest entschlossen, sich gut zu amüsieren. Der Fasching im alten Feuerwehrhaus war legendär. Jung und Alt kamen dort zusammen, extra angereiste ehemalige Einwohner und auch ein paar Leute aus benachbarten Orten füllten bald die Tanzfläche.
Nora hatte sich als Burgfräulein verkleidet, ziemlich einfallslos angesichts des Mottos „Mittelalter“, und sich nach etlichen Tänzen mit Kollegen ihres Vaters allein an die Bar gesetzt, gegenüber der Eingangstür. Sie trank einen Wermut und wollte wieder aufstehen, weil es zog. Da sah sie ihn hereinkommen: groß, das dunkle Haar kurzgeschnitten, runde Brille, in einem komischen, zu kurzen Umhang und mit einem zum Ritterhelm umfunktionierten Motorradhelm unter dem Arm. Sie hatte ihn angestarrt wie eine Erscheinung. Ihre Augen schossen Blitze in seine Richtung ab; ihr Gehirn sendete unablässig eine Botschaft: Das ist er!
Erleichtert registrierte sie, dass er sich neben sie auf den schäbigen, ungepolsterten Barhocker setzte. „Bin ich zu spät?“, hatte er lächelnd gefragt.
„Genau richtig.“
Von da an waren sie unzertrennlich. Keine acht Wochen später wusste Nora, dass sie schwanger war...
„Guten Morgen, Nora!“ Der Gruß des Hausmeisters riss sie aus ihren Gedanken. „Warum guckst du denn so verbiestert? Hast du etwa wieder geträumt, dass die Ausstellung nicht fertig wird?“
Das hatte sie in letzter Zeit tatsächlich. Sie reichte ihm die Hand. „Guten Morgen, Lindemann! Sie muss wohl fertig werden, was? Viel Zeit haben wir ja nicht mehr. Kannst du mir heute noch ein paar Kartons ins Büro bringen? Ich will schon einige Sachen einpacken, die nicht gebraucht werden, wenn ich weg bin.“
„Für dich doch immer, bin gegen zehn da“, versprach er.
Nun hatte sie es plötzlich eilig. Wie konnte sie nur so in Gedanken versinken? Eigentlich sollte sie andere Dinge bedenken, als ihre Ehe, die doch eigentlich ganz gut lief. Mit schnellen Schritten verließ sie den Parkplatz und eilte zum Verwaltungseingang der Galerie.
2
„Jawohl, Frau Barkow, das machen wir so. Ja, ich habe Ihre E-Mail schon gelesen. Wir sehen uns dann nächste Woche. Schönen Tag noch!“ Günther Börner legte den Hörer auf und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Diese Frau schlief wohl nie. Ihre erste E-Mail war heute Morgen um fünf gekommen. Ihm war heiß. Und das nicht nur wegen der Heizung, die, obwohl es schon Mai war, noch immer lief. Er musste unbedingt Lindemann deswegen Bescheid sagen. Andererseits, dann beschwerten sich wieder die Frauen. Die froren ja dauernd. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und ließ sich schwerfällig auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Komischerweise stand er jedes Mal auf, wenn die Bürgermeisterin anrief. Und das kam in letzter Zeit oft vor. Seit sie vor einem Jahr ins Amt gewählt worden war, schien sie einen Narren an der Galerie gefressen zu haben. Das war ihm einerseits unheimlich, andererseits schmeichelte es ihm. Sie galt als ziemlich kaltschnäuzig und wurde von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung nur die „Schneekönigin“ genannt. Nach der Schließung des hiesigen Stadtmuseums - offiziell von der Bauaufsicht, hinter vorgehaltener Hand jedoch war davon die Rede, das Gebäude zu verkaufen - war es ihre Idee gewesen, dessen nicht allzu umfangreichen Fundus in die Städtische Galerie zu integrieren. Freilich musste Börner zwei Räume der Galerie, die in einer Jugendstilvilla untergebracht war, nun für die neue Dauerausstellung zur Stadtgeschichte abzweigen, aber im Grunde fand er den Gedanken gar nicht mal so übel. Ständig hatte sich das Stadtparlament über sinkende Besucherzahlen bei ihm beschwert und größeres Engagement gefordert. Wenn er allerdings mehr Geld für Sonderausstellungen und Marketing brauchte, beriefen die Abgeordneten sich darauf, dass Kultur ja schließlich keine Pflichtaufgabe sei. Darüber konnte er sich jedes Mal wieder neu empören. Ja, was glaubten denn die Damen und Herren, wie man zu mehr Besuchern kam? Mit der geplanten neuen Präsentation der Stadtgeschichte eröffneten sich nun aber ganz andere Möglichkeiten. Plötzlich stellte die Stadtverwaltung Förderanträge und warb Sponsorengelder ein. Ihm sollte das nur recht sein.
Er lehnte sich etwas in seinem Schreibtischstuhl zurück, legte die Hände auf den üppigen Bauch, über dem sich das zu eng gewordene, nicht ganz saubere Hemd spannte und lächelte versonnen. Bis jetzt waren sie ganz gut im Plan. Sein Blick fiel auf seinen Schreibtisch. Da stapelte sich mal wieder die Post, wie er zerknirscht registrierte. Der schöne Jugendstilschreibtisch, der noch aus der Ersteinrichtung der Villa stammte und den die ehemaligen Besitzer zurückgelassen hatten, war mit Katalogen, Schriftstücken und Einladungen zu Ausstellungseröffnungen übersäht. Er rieb sich das Kinn und betrachtete das Chaos. Im nächsten Moment fiel ihm die E-Mail der Bürgermeisterin wieder ein. Er hatte sie noch gar nicht zu Ende gelesen. Gut, dass sie nicht nach Einzelheiten gefragt hatte. Er scrollte im Text weiter nach unten und überflog die Zeilen. Dann stutzte er. Der Termin für die Eröffnung der neuen stadtgeschichtlichen Abteilung passte dem Minister nicht, deshalb hatte die Schneekönigin ihn einfach um vier Wochen vorverlegt und ihm das in ihrer gestrigen E-Mail mitgeteilt, schrieb sie. Angeblich habe er zugestimmt. Da bis heute Morgen um acht Uhr keine Antwort von ihm eingegangen sei, habe sie das als Einverständnis gewertet und den Minister informiert, der seinerseits nun sein Kommen zugesagt habe. Das meinte sie also vorhin mit ihrem „Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Dr. Börner“. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte ihn aufs Kreuz gelegt! Na ja, genau genommen hätte er einfach nur ihre E-Mails lesen müssen. Ganz abgesehen davon, auch ohne diesen billigen Trick hätte sie das Eröffnungsdatum willkürlich festlegen können.
Er schwitzte und fuhr sich mit der Rechten über den fast kahlen Schädel. Hastig lockerte er den Schlipsknoten. Der ganze Plan geriet durcheinander; es war fraglich, ob sie das schaffen konnten. Nora würde außer sich sein. Ratlos blickte er aus dem Fenster.
Es regnete noch immer. Die Turmuhr von St. Josef zeigte halb zehn. Noras Teamsitzung hatte wohl schon begonnen. Besser, er beichtete ihr gleich das Dilemma. Wie sie reagieren würde, mochte er sich nicht vorstellen. Dabei konnte er doch gar nichts dafür! Er hasste es, zwischen Baum und Borke zu stehen. Es kam ja kaum infrage, der Schneekönigin öffentlich die Schuld zu geben. Er stöhnte.
Jetzt brauchte er eine Stärkung. Er drehte seinen Stuhl herum zum Bücherregal. Mit der linken Hand zog er zwei Bände des Thieme/Becker heraus und griff mit der rechten in die Lücke. Die Flasche war noch halbvoll. Er goss einen Schluck in seine Teetasse und stellte Flasche und Bücher zurück. Dann füllte er die Tasse mit schwarzem Tee auf und trank.
3
Nora nippte an ihrem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Sie behielt den Schluck einen Moment lang im Mund, um den leicht bitteren Koffeingeschmack auf der Zunge zu haben. Es war warm in ihrem nicht allzu geräumigen Büro. Sie zog ihre Strickjacke aus, stand auf und öffnete das Fenster. Anschließend setzte sie sich wieder zu ihren Kollegen und ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen. Im Gegensatz zu ihrem Chef bevorzugte sie moderne Büromöbel. Nur ihr Bücherregal war eine Biedermeier-Vitrine. An den Wänden hingen alle verfügbaren Pferdebilder, die der Galerie-Fundus hergab. Na, und? Es konnte jeder wissen, dass sie eine Pferdenärrin war. Sie hatte Andrea, die Magazinmeisterin, die sowieso immer über Platzmangel in den Depoträumen klagte, zu dieser Extrawurst überredet. Normalerweise hatten die Gemälde, die nicht ausgestellt waren, im Magazin zu sein. Auf ihrem Schreibtisch stand gar die Skulptur eines berühmten Zuchthengstes von einem ebenso berühmten Künstler. Sie freute sich jeden Tag an der kleinen Figur und war sich sicher, dass hier der beste Platz dafür war, sowohl für den Bronzehengst als auch für sie.
Seit mehr als vierzehn Jahren arbeitete sie jetzt schon in der Neustädter Galerie und war für die große Gemäldesammlung verantwortlich. Schon gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein rühriger Verein zu sammeln begonnen und war in die Villa gezogen. Kurze Zeit später übernahm die Stadt die Galerie. So etwas passierte heute leider nur noch umgekehrt. Im Fundus waren bis auf einige Werke international bekannter Künstler vor allem die sogenannten Lokalmatadoren vertreten, einheimische Malerinnen und Maler von mehr oder weniger guter Qualität, dafür aber beliebt bei den hiesigen Museumsbesuchern.
Nora wandte sich wieder ihren Kollegen zu. Seit einer halben Stunde saßen sie zusammen und berieten wie fast jede Woche über die Arbeit an der neuen Ausstellung.
Ihr Chef hatte die Teamleitung für den Ausstellungsaufbau Nora übertragen. „Du hast das richtige Händchen dafür, glaub mir!“, hatte er ihr geschmeichelt. Das war gar nicht nötig, denn er konnte das schließlich bestimmen. „Als Kulturwissenschaftlerin bist du genau die Richtige für die praktische Durchführung und kannst Leute motivieren. Komm schon! Du schaffst das! Du bist ordentlich, stets gut vorbereitet, und dein Arbeitszimmer ist aufgeräumt.“ Als ob davon der Erfolg einer Ausstellung abhängen würde! Aber es stimmte, in so einer Möhle, wie sie bei ihm herrschte, konnte sie nicht denken.
Heute allerdings war der große Besprechungstisch mit Raumplänen, Papieren und Notizbüchern übersät. Dazwischen standen Tassen und die große Keksdose aus Blech, die Nora stets auffüllte.
Johannes, ihr Praktikant, berichtete von seinem Besuch bei der Grafikerin. Sie war froh, dass er ausgerechnet jetzt ein Praktikum bei ihr absolvierte. Er war vor zwei Jahren, als Student, schon einmal für sechs Wochen dagewesen. Nun hatte er bereits seinen Bachelor in der Tasche und wollte die Zeit bis zu seinem geplanten Masterstudium damit verbringen, Berufserfahrung zu sammeln. Glücklicherweise konnte er aus den plötzlich fließenden Fördermitteln ein Honorar bekommen. Johannes war ein stiller, junger Mann, keine dreiundzwanzig Jahre, mit wilden schwarzen Locken, die nach allen Seiten abstanden. Nur, wenn er von einem Kunstwerk fasziniert war, kam er aus sich heraus und gestikulierte heftig. Dann wurden die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern immer größer, als ob er sicherstellen wollte, dass die Begeisterungsfunken, die sie versprühten, sein Gegenüber auch tatsächlich erreichten. Er alberte nie herum und beteiligte sich auch nicht an den allgemeinen Witzeleien beim Frühstück. Aber dann und wann kam eine wirklich humorvolle Bemerkung von ihm, sodass ihn alle erstaunt ansahen und lachen mussten. Sie würde ihn vermissen, wenn seine Zeit hier um war.
„Wann ist denn der späteste Abgabetermin für die Texte, Johannes? Haben Sie mit Frau Krentz darüber gesprochen?“, fragte Nora nun etwas ungeduldig und wippte mit dem Fuß auf und ab.
Ihr Praktikant hatte sich gerade über die umfangreiche und moderne Technik ausgelassen, die der Grafikerin zur Verfügung stand. Er räusperte sich und spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. „Bis zum ersten Juli sollten wir alles abgeschickt haben, Frau Schönemann. Sie bringt die Texte dann in Form und mailt sie zum Übersetzungsbüro. Dann müssen wir wieder Korrektur lesen, die Texte endgültig absegnen, und dann gehen sie in Druck. Aber bis Mitte Oktober schaffen wir das dicke, meinte sie.“
„Hoffen wir’s!“, schaltete sich der Restaurator ein.
Leo, Noras Lieblingskollege, hatte bis jetzt geschwiegen, sich aber eifrig Notizen gemacht. Er steckte sein Heft in die Tasche seines blauen Kittels, den er auch trug, wenn er nicht in seiner Werkstatt war. „Wenn ihr den Transportplan für die Leihgaben macht, denkt daran, dass ich die beiden Gemälde aus Privatbesitz noch restaurieren muss. Zwei Monate werde ich schon brauchen. Größere Schäden sind’s ja nicht, aber wer weiß, was noch zutage kommt, wenn ich erst mal angefangen habe.“ Den Leihvertrag für die beiden Gemälde, zwei Bürgermeisterporträts aus dem achtzehnten Jahrhundert, hatte Nora einem Autohausbesitzer abgeschwatzt. Sie passten wunderbar in die Darstellung der Stadtgeschichte. Anfangs wollte er sie nicht als Dauerleihgabe hergeben, aber die Aussicht darauf, dass sie in der Galerie kostenlos restauriert werden sollten und sein Name als Leihgeber genannt würde, hatte ihn schließlich überzeugt. „Den Transportplan macht Andrea, da kannst du ganz beruhigt sein, Leo.“
Sie wandte sich der jungen Magazinmeisterin mit dem schwer zu bändigenden, blonden Kraushaar zu, die sofort in den Kalender schaute und mit ihrer hellen, leicht kieksenden Stimme antwortete: „Sobald ich die Rückmeldung von der Kunsttransportfirma habe, sag ich dir Bescheid. Die beiden Bilder werden eh zuerst geholt, weil das Autohaus abseits der anderen Routen liegt.“ Auf Andrea konnte sie sich verlassen. Sie hatte schon mehrmals bewiesen, dass sie logistisches Talent besaß. Sie arbeitete nur fünfzehn Stunden pro Woche für die Galerie, man hatte aber stets das Gefühl, dass sie immer da sei.
Zwei der drei Depots waren außerhalb der Villa untergebracht. In allen herrschte eine mustergültige Ordnung, die selbst Nora manchmal unheimlich war und in ihrer Branche wohl ihresgleichen suchte.
„Dann haben wir für heute alles besprochen“, hob Nora die Runde auf. „Ich stelle noch mal die Aufgaben für jeden zusammen und passe den Zeitplan an. Ich schicke euch alles per E-Mail. Wir treffen uns nächste Woche wieder.“
Als auch die anderen sich erhoben, klopfte es an die Tür. Noch ehe Nora „Herein!“ rufen konnte, hatte Günther Börner den Raum betreten. „Setzt euch wieder hin, Leute!“ Damit ließ er sich selbst auf den erstbesten Stuhl sinken und zerrte an seinem Schlipsknoten.
Nora kannte ihn lange genug, um zu ahnen, dass jetzt nichts Gutes kam.
Er war rot und verschwitzt, wahrscheinlich vom Treppensteigen und hatte das unvermeidliche Eukalyptusbonbon zwischen den Zähnen. „Es ist also so …“, begann er umständlich, „dass wir eine Planänderung haben. Der, äh, Eröffnungstermin ist verschoben worden.“
Na toll, dachte Nora, hoffentlich nicht bis nach meiner Abreise!
„Macht doch nichts“, flüsterte Johannes ihr zu, „dann schaffen wir das erst recht, wenn wir noch ein bisschen mehr Zeit haben.“
„Genau genommen“, fuhr ihr Chef fort, „um vier Wochen nach vorn.“
„Waaas?“, riefen alle fast gleichzeitig und redeten durcheinander.
Börner hob die Hände: „Ich kann da auch nichts machen“, meinte er bedauernd, „die Schnee…äh die Bürgermeisterin hat das so festgelegt, weil der Minister später keine Zeit mehr hat. Und wir wollen doch, dass er kommt. Schließlich ist das alles ganz hoch angebunden.“
Nora war sprachlos. Sie überschlug kurz den Zeitplan, den sie gerade festgelegt hatten und ahnte, dass es ganz knapp werden würde. Zu viele Wochen hatten sie schon mit der Konzeption vertrödelt, die andauernd erneut den finanziellen Vorgaben angepasst werden musste. Die Bürgermeisterin hatte wirklich überhaupt keine Ahnung, wie viel Arbeit in so einer Ausstellungsvorbereitung steckte. Woher auch?
Da alle anderen schwiegen und sie ansahen, wandte sie sich an Günther: „Du musst ihr klarmachen, dass das so nicht geht! Rede noch mal mit ihr, vielleicht kann der Minister ja was anderes absagen, und du schlägst wenigstens zwei Wochen raus! Das können die doch nicht einfach mit uns machen!“, nun wurde sie richtig wütend. Sie riss die Augen auf und hob unwillkürlich ihre Stimme. „Das ist alles ganz knapp kalkuliert, und außerdem will sie doch, dass wir Qualität abliefern“, appellierte sie an sein Verständnis. „Rufst du sie noch mal an?“
Er war schon an der Tür. „Versprochen!“, kam es über seine Schulter. Es klang halbherzig. Vielleicht war es auch etwas naiv anzunehmen, ein Minister würde seine Pläne ihretwegen ändern. Im Grunde wusste sie, dass Günther die Einmischung der Bürgermeisterin hinnehmen würde. Eher würde er seine Leute oder sich selbst antreiben, als dass er eine Entscheidung der Obrigkeit infrage stellte. Dauernd hatte er Angst, anzuecken und sagte zu allem Ja und Amen. Sie seufzte.