»An die Arbeit, Mary, an die Arbeit«, rief der Verwaltungsdirektor, mit einer Reitgerte seine Frau leicht an der Schulter berührend.
Mrs. Turton erhob sich etwas hilflos. »Was soll ich denn nur tun? Oh, diese purdah-Frauen! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass auch nur eine von ihnen auftauchen würde. Du lieber Himmel!«
Auf einem dritten Viertel des Gartengeländes hatten sich ein paar Inderinnen zusammengetan, und zwar in der Nähe eines ländlichen Sommerhäuschens, in dem die weniger Entschlossenen bereits Zuflucht genommen hatten. Die Übrigen hatten der ganzen Gesellschaft den Rücken gekehrt und ihr Gesicht in einer Hecke vergraben. In einiger Entfernung von ihnen standen ihre männlichen Angehörigen und warteten gespannt den Ausgang des Abenteuers ab – ein vielsagender Anblick: eine Insel, die, beim Flutwechsel sichtbar geworden, an Größe immer mehr zunehmen musste.
»Meiner Meinung nach sollten sie zu mir herüberkommen.«
»Na, mach schon, Mary, gib dir einen Ruck!«
»Ich will auf keinen Fall einem der Männer die Hand reichen, es sei denn, dem Nawab Bahadur – wenn es unbedingt sein muss.«
»Wen haben wir denn schon hier?« Mr. Turton ließ den Blick über die Reihen der Gäste gleiten. »Hm, hm. Ganz, wie zu erwarten war. Ich kann mir denken, warum Soundso hier ist – er braucht mich für einen Kontrakt, und der da möchte sich um des mohurram willen lieb Kind bei mir machen, und dort ist der Astrologe, der die städtischen Bauvorschriften umgehen möchte, und der da ist der parsi und der – hallo, da rast er, pardauz, mitten in unsere Stockrosen hinein! Zog den linken Zügel anstatt des rechten. Wie immer!«
»Das Einfahren hätte ihnen niemals gestattet werden sollen – es bekommt ihnen nicht«, sagte Mrs. Turton, die sich endlich in Richtung des Sommerpavillons in Bewegung gesetzt hatte, begleitet von Mrs. Moore, Miss Quested und einem Terrier. »Keine Ahnung, warum sie überhaupt kommen. Für sie ist das Ganze nicht weniger peinlich als für uns. Sprechen Sie einmal darüber mit Mrs. McBryde. Auf Wunsch ihres Mannes hatte sie purdah-Gesellschaften zu geben, bis sie streikte.«
»Aber das hier ist doch keine purdah-Gesellschaft«, versuchte Miss Quested richtigzustellen.
»So? Wirklich nicht?«, lautete die hochmütige Entgegnung.
»Seien Sie doch bitte so nett, uns zu sagen, wer diese Damen sind«, bemerkte Mrs. Moore.
»Sie sind denen ohnehin gesellschaftlich überlegen. Vergessen Sie das bitte nicht. Mit Ausnahme einiger weniger Ranis sind Sie allen Inderinnen überlegen, und selbst die sind Ihnen nur ebenbürtig!« Ein paar Schritte vortretend, reichte sie den Besucherinnen die Hand und äußerte auf Urdu ein paar Begrüßungsworte. Sie hatte den Dialekt erlernt, aber lediglich in der Absicht, sich mit ihren Dienern verständigen zu können. Darum kannte sie keine der höflicheren Wendungen, und von den Verbalformen nur die des Imperativs. Sobald ihre kleine Ansprache beendet war, wandte sie sich ihren Begleiterinnen zu: »War es das, was Ihnen vorgeschwebt hat?«
»Bitte, sagen Sie doch den Damen, wir wünschten, wir könnten uns in ihrer Sprache mit ihnen unterhalten, und wir wären eben erst in ihr Land gekommen.«
»Vielleicht sprechen wir dafür aber Ihre Sprache ein wenig«, sagte eine der Inderinnen.
»Nanu – sie versteht!«, rief Mrs. Turton aus.
»Eastbourne, Piccadilly, High Park Corner«, rezitierte eine der anderen Damen.
»O ja, sie sprechen Englisch.«
»Nun können wir uns wenigstens unterhalten – wie reizend!«, rief Adela, und ihr Gesicht hellte sich auf.
»Sie kennt auch Paris«, warf einer der in der Nähe stehenden Männer ein.
»Ja, zweifellos ist sie auf der Durchreise auch durch Paris gekommen«, bemerkte Mrs. Turton, als beschriebe sie die Wanderbewegung von Zugvögeln. Ihr Verhalten war noch kühler geworden, seit sie entdeckt hatte, dass einige ihrer Gesprächspartnerinnen europäisiert waren und sie, Mrs. Turton, infolgedessen nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen mochten.
»Die kleinere Dame, sie ist meine Frau. Es ist Mrs. Bhattacharya«, erklärte der männliche Zuschauer. »Die größere Dame ist meine Schwester, Mrs. Das.«
Sowohl die kleinere wie die größere Dame zupften sich den Sari zurecht und lächelten. Ihren Bewegungen war etwas merkwürdig Unentschiedenes eigen. Es war, als suchten sie nach einer neuen Formel, die ihnen bisher sowohl der Westen wie der Osten vorenthalten hatte. Als Mrs. Bhattacharyas Mann das Wort ergriff, kehrte sie sich von ihm ab, doch machte es ihr nichts aus, ihren Blick auf die anderen Männer zu richten. Ja, alle Damen waren unsicher. Sie senkten den Kopf und hoben ihn wieder, kicherten, machten zur Unterstreichung alles Gesagten winzige Gesten der Verzweiflung oder Zerknirschung und tätschelten den Terrier oder zuckten vor ihm zurück. Miss Quested hatte nun endlich die ersehnte Gelegenheit: vor ihr standen freundliche Inder, und sie versuchte, sie zum Sprechen zu bringen – freilich ohne jeden Erfolg. Immer wieder rannte sie vergeblich gegen die stets nur ein Echo zurückwerfenden Wände ihrer Höflichkeit an. Wenn sie selbst etwas sagte, das wie ein Kompliment klang, antwortete ihr nur ein abwehrendes Gemurmel, das zum Gemurmel der Betrübnis wurde, als sie einmal ihr Taschentuch fallen ließ. Dann nahm sie selbst von jeder eigenen Bemühung Abstand, um zu sehen, ob nicht vielleicht das einige Wirkung tat, aber auch die anderen verhielten sich abwartend. Mrs. Moores Bemühungen waren gleichfalls zur Erfolglosigkeit verurteilt. Mrs. Turton beobachtete beide mit unbeteiligter Miene. Sie hatte vom ersten Augenblick an gewusst, wie unsinnig die ganze Veranstaltung war.
Beim Abschied hatte Mrs. Moore einen plötzlichen Einfall. Sie fragte impulsiv Mrs. Bhattacharya, deren Gesicht ihr gefiel: »Würden Sie uns wohl erlauben, Sie irgendwann einmal zu besuchen?«
»Und wann?«, erwiderte diese, sich anmutig verneigend.
»Wann immer es Ihnen passt.«
»Es passt mir jeden Tag.«
»Also vielleicht Donnerstag …«
»Aber gewiss.«
»Es würde wirklich ein Vergnügen für mich sein. Um welche Zeit wohl am besten?«
»Jederzeit.«
»Sagen Sie uns doch bitte, wann es Ihnen am angenehmsten wäre. Wir sind in Ihrem Lande noch fremd und kennen die Besuchsstunden nicht«, bemerkte Miss Quested.
Auch Mrs. Bhattacharya schien sie nicht zu kennen. Aber ihre Gebärde schien zu besagen, dass, solange es überhaupt einen Wochentag namens Donnerstag gab, sie gewusst habe, dass Engländerinnen gerade an einem solchen zu Besuch zu ihr kommen würden, und sie sich darum an jedem Donnerstag zu Hause hielte. Sie zeigte sich sehr erfreut und keineswegs überrascht. »Wir fahren heute noch nach Kalkutta«, setzte sie hinzu.
»Ja, wirklich?«, fragte Adela, die zunächst die Bedeutung dieser Mitteilung nicht ganz ermaß. Dann rief sie aus: »Aber dann treffen wir Sie ja gar nicht mehr an?«
Mrs. Bhattacharya stellte diese Tatsache nicht in Abrede. Aber aus der Entfernung rief Mr. Bhattacharya: »O ja, natürlich, kommen Sie nur am Donnerstag zu uns.«
»Aber dann sind Sie doch in Kalkutta?«
»Nein, nein, keineswegs.« Er rief rasch seiner Frau ein paar Worte auf Bengali zu. »Wir erwarten Sie also Donnerstag.«
»Donnerstag …«, echote seine Frau.
»Sie sind doch nicht etwa auf den schrecklichen Gedanken gekommen, um unseretwillen Ihre Reise zu verschieben?«, rief Mrs. Moore aus.
»Aber nein, natürlich nicht – das liegt uns ganz fern.« Er lachte. »Ich fürchte doch. O bitte – es täte mir wirklich leid.«
Alle Umstehenden lachten nun, ohne aber im Geringsten den Eindruck zu erwecken, dass sie irgendeinen Lapsus begangen hatte. Es folgte eine etwas gestaltlose Auseinandersetzung, in deren Verlauf Mrs. Turton, still vor sich hinlächelnd, den Rückzug antrat. Man kam schließlich überein, dass der Besuch tatsächlich am Donnerstag stattfinden sollte, aber so früh am Morgen wie möglich, damit die Pläne der Bhattacharyas so wenig wie möglich beeinträchtigt würden, und dass Mr. Bhattacharya ihnen mitsamt ein paar Dienern, die ihnen den Weg zeigen sollten, seine Kutsche schicken werde, sie abzuholen. Wusste er denn, wo sie wohnten? O ja, natürlich wusste er das, er wusste alles und jedes, und wieder brach er in Lachen aus. Mitten im Flattergewirbel von Komplimenten und lächelnden Blicken verabschiedeten sich schließlich alle, während aus dem Sommerpavillon wie drei buntgefiederte Schwalben drei Damen herausschossen, die sich dem Empfang bisher ferngehalten hatten und sich mit über der Brust gekreuzten Armen vor ihnen verneigten.
Inzwischen hatte auch der Verwaltungsdirektor die Runde gemacht. Er erging sich in liebenswürdigen Bemerkungen und ein paar Scherzen, die aus voller Kehle belacht wurden. Aber von fast jedem seiner Gäste war ihm auch das Sündenregister bekannt, und darum verhielt er sich etwas unverbindlich. Wenn im einen Falle irgendwelche Gaunerei vorlag, dann im anderen Schleichhandel mit bhang, oder aber eine Weibergeschichte oder noch Schlimmeres. Und selbst die Vertreter der Elite wollten ihm bei dieser Gelegenheit irgendetwas abhandeln. Er war überzeugt, dass eine Bridge-Party mehr Nutzen als Schaden stiften würde – andernfalls hätte er ja auch keine veranstaltet –, aber er gab sich auch keinen übertriebenen Illusionen hin und zog sich im geeigneten Augenblick wieder auf die englische Rasenseite zurück. Der Eindruck, den er bei seinen Gästen hinterlassen hatte, war höchst vielfältiger Art. Manche von ihnen, vor allem die weniger wohlhabenden, wenig anglisierten, waren aufrichtig dankbar. Von einem so hohen Beamten angesprochen zu werden, musste ihnen zeitlebens zustattenkommen. Es war ihnen einerlei, wie lange sie herumstanden oder wie wenig sich auch ereignen mochte, und als die Uhr sieben schlug, mussten sie sich hinauskomplimentieren lassen. Andere waren mit einigen Vorbehalten dankbar. Der Nawab Bahadur, dem sowohl seine eigene Person wie seine ehrenvolle Aufnahme völlig gleichgültig war, zeigte sich in Gedanken an die Freundlichkeit, der die Einladung entsprungen sein mochte, gerührt. Er kannte auch alle damit zusammenhängenden Schwierigkeiten. Auch Hamidullah war der Meinung, der Verwaltungsdirektor habe sich höchst geschickt aus der Affäre gezogen. Andere jedoch waren so zynisch wie Mahmoud Ali. Sie waren fest überzeugt, dass Turton die Gesellschaft nur auf Druck vonseiten seiner Vorgesetzten gegeben hatte und dass er sich die ganze Zeit über in ohnmächtiger Wut verzehrte. Sie steckten mit dieser Überzeugung auch andere an, die sonst sehr viel vernünftiger dachten. Und doch war selbst Mahmoud Ali froh, gekommen zu sein. Jeder Schrein hat etwas Faszinierendes an sich, und erst recht ein solcher, der so selten geöffnet wird, und es bereitete ihm besonderes Vergnügen, das Ritual eines englischen Klubs aus nächster Nähe studieren und es später seinen Freunden gegenüber parodieren zu können.
Der Beamte, der nach Mr. Turton am besten abschnitt, war Mr. Fielding, der Prinzipal des kleinen Beamtenseminars. Es war ihm erst wenig von dem ganzen Distrikt und noch weniger von den Sünden seiner Bewohner bekannt, und darum befand er sich auch in einer etwas weniger zynischen Gemütsverfassung. Sportlich gestählt und stets frohgestimmt, schoss er hierhin und dorthin und leistete sich zahllose kleine Schnitzer, die die Eltern seiner Zöglinge zu vertuschen suchten, denn er war besonders beliebt. Als Erfrischungen angeboten wurden, wanderte er nicht wieder auf die englische Rasenseite zurück, sondern verbrannte sich den Gaumen lieber mit gram. Er unterhielt sich mit jedem und kostete von allem. Abgesehen von manchem, was ihn fremdartig anmutete, erfuhr er auf diese Weise, dass die neuen Damen aus England einen höchst günstigen Eindruck hinterlassen hatten, und dass die Höflichkeit, die sich in ihrem Wunsch, Mrs. Bhattacharya einen Gastbesuch abzustatten, kundtat, nicht nur sie allein, sondern alle Inder entzückt hatte, die davon zu hören bekamen. Sie entzückte auch Mr. Fielding. Zwar kannte er die neuen Damen erst flüchtig, aber er war doch entschlossen, ihnen zu sagen, wie viel Freude sie auch ihm durch ihre Freundlichkeit bereitet hatten.
Er fand die jüngere von beiden allein. Sie betrachtete gerade durch einen Einschnitt in der Kaktushecke die fernen Marabarhügel, die, wie es bei Sonnenuntergang auch sonst gewöhnlich geschah, immer näher rückten. Sollte der Sonnenuntergang noch länger währen: würden sie nicht sogar die Stadt erreichen? Aber ein tropischer Sonnenuntergang, das ist etwas Rasches, Unvermitteltes. Fielding berichtete Miss Quested, was er von den anderen zu hören bekommen hatte, und sie zeigte sich derart darüber erfreut und dankte ihm mit so überschwenglicher Herzlichkeit, dass er sie und die andere Dame zu sich zum Tee einlud.
»Ich würde wirklich gern kommen, und Mrs. Moore bestimmt auch.«
»Allerdings führe ich eine Art Eremitendasein.«
»Etwas Besseres kann man an diesem Ort wohl kaum tun.«
»Wegen meiner Arbeit und allem, was damit zusammenhängt, komme ich auch nicht oft in den Klub.«
»Ich weiß, ich weiß, und wir kommen umgekehrt nicht viel aus ihm heraus … Ich beneide Sie geradezu, dass Sie mit Indern zusammenarbeiten können.«
»Hätten Sie wohl Lust, den einen oder anderen kennenzulernen?«
»Große Lust – das habe ich mir nämlich grade gewünscht. Die heutige Gesellschaft hat mich ganz krank gemacht. Ich habe den Eindruck, als wären meine Landsleute hier draußen völlig verrückt. Gäste einladen und sie nicht wie Gäste behandeln! Sie und Mr. Turton und vielleicht noch Mr. McBryde sind die Einzigen, die ihnen so etwas wie die übliche Höflichkeit bezeigt haben. Aber für die anderen schäme ich mich geradezu, und im Laufe des Nachmittags ist es nur immer noch schlimmer geworden.«
Das war es allerdings wirklich. An sich hatten die englischen Männer sehr viel entgegenkommender sein wollen, waren aber daran verhindert worden durch die englischen Frauen, die sie zu unterhalten, denen sie Tee zu bringen und in Bezug auf Hunde und dergleichen gute Ratschläge zu erteilen hatten. Als das Tennisspiel begann, wurde die Scheidewand zwischen den beiden Parteien geradezu undurchdringlich. Man hatte gehofft, ein paar Spiele zwischen West und Ost zustande zu bringen, was aber rasch vergessen wurde, und die Tennisplätze waren bald von den üblichen Klubpaaren in Beschlag genommen. Auch Fielding war darüber empört, äußerte jedoch nichts zu der jungen Dame, denn er glaubte, in ihrer Entrüstung einen theoretischen Unterton wahrzunehmen. War sie wohl an indischer Musik interessiert? An seinem Seminar war ein alter Professor tätig, der singen konnte.
»Oh, das ist gerade das, was wir hören wollten. Und kennen Sie Dr. Aziz?«
»Ich bin über ihn im Bilde, aber ich kenne ihn nicht persönlich. Soll ich ihn gleichfalls mit einladen?«
»Mrs. Moore meint, er wäre so nett.«
»Na schön, Miss Quested. Würde es Ihnen am Donnerstag passen?«
»Ausgezeichnet. Morgens besuchen wir die Inderin. Alles Hübsche kommt offenbar am Donnerstag zusammen.«
»Allerdings werde ich den Richter nicht bitten, mitzukommen. Soviel ich weiß, ist er um diese Zeit besonders beschäftigt.«
»Ja, Ronny ist stets etwas überlastet«, erwiderte sie, den Blick auf die Felsenhügel gerichtet. Wie reizvoll sie plötzlich waren! Aber sie blieben ihr unerreichbar. Vor ihr Auge schob sich, wie eine Kulisse, das Bild ihrer künftigen Ehe. Abend für Abend würde sie mit Ronny dem Klub einen kurzen Besuch abstatten und dann zum Umziehen nach Hause fahren. Sie würden immer wieder nur die Lesleys und die Callendars und die Turtons und die Burtons sehen, sie einladen, von ihnen eingeladen werden, während das wahre Indien unmerklich an ihnen vorüberglitt. Gewiss würde etwas von seiner Farbe bleiben – dem festlich bunten Gewimmel der Vögel am frühen Morgen, den braunen Leibern, den weißen Turbanen und Götterbildern, deren Fleisch scharlachrot oder blau war –, bleiben auch etwas von seiner Bewegung, solange es Massen in den Basaren, Badende in den künstlichen Teichen gab. Auf dem Sitz eines kleinen Jagdwagens thronend, würde sie sich an beidem erfreuen. Aber das, was an echter Kraft hinter aller Farbe, aller Bewegung wirksam war, musste sich ihr in noch stärkerem Maße entziehen als jetzt. Stets würde sie von Indien nur die flimmernde Außenfläche gewahren, aber nichts von seinem innersten Wesen, und es war offenbar dieses Wesen, von dem Mrs. Moore in einem einzigen kurzen Augenblick etwas erschaut hatte.
Und wie konnte es anders sein: nach wenigen Minuten fuhren sie tatsächlich aus dem Klub nach Hause, ja, und sie zogen sich um, und zum Essen stellten Miss Derek und die McBrydes sich ein, und das Menü bestand aus Juliennesuppe mit kugelharten Büchsenschoten, Landbrot, das keines war, Fischen mit weit verästelten Gräten, angeblich Flundern, Kotelett mit weiteren Büchsenschoten, Biskuitauflauf, Sardinen auf Toast: das typische Menü Anglo-Indiens. Je nachdem, ob man auf der Stufenleiter öffentlicher Ämter zufällig eine Sprosse emporgeklettert oder heruntergerutscht war, mochte ein bestimmter Gang hinzugefügt oder ausgelassen werden, mochten die Schoten mehr oder minder unverdaulich, Sardinen und Wermut auch von einer anderen Firma importiert worden sein – die Überlieferung als solche blieb bestehen: die Kost von Leuten, die in der Verbannung lebten, zubereitet von Dienern, die nichts vom Kochen verstanden. Adela gedachte der jungen Leute, die vor ihr nach Indien gekommen waren, ein Dampfer voller als der andere. Man hatte ihnen das gleiche Essen, die gleichen Ideen vorgesetzt, hatte sie auf die gleiche lächelnde Weise zurechtgewiesen, bis sie sich an die gesellschaftlich zulässigen Themen hielten und ihrerseits andere zurechtzuweisen begannen. »Ich werde einmal ganz anders sein«, dachte sie, denn sie war selber noch jung. Und doch wusste sie, dass sie stets gegen etwas würde ankämpfen müssen, das gleichzeitig tückisch und zäh war, und dazu brauchte sie Verbündete. Sie musste in Tschandrapur ein paar Menschen um sich haben, die das Gleiche empfanden wie sie, und sie war froh, solche Leute in Mr. Fielding und der Inderin mit dem unaussprechlichen Namen bereits gefunden zu haben. Auf jeden Fall hatte sie einen Anfang gemacht, und im Laufe der nächsten Tage musste sie schon klarer erkennen, wo sie eigentlich hingehörte.
Miss Derek – sie war Gesellschafterin bei der Maharani eines etwas abgelegenen indischen Fürstenstaates. Sie war umgänglich und heiter und rief mit der Geschichte ihres Urlaubs allgemeines Gelächter hervor. Sie hatte diesen Urlaub nicht genommen, weil ihr die Maharani ihn großmütig gewährt hatte, sondern weil sie ihn nach ihrer eigenen Meinung verdiente. Nun wollte sie sich aber außerdem den Wagen des Maharadschas nehmen. Dieser Wagen hatte seinen Herrn auf eine Zusammenkunft der Landesfürsten in Delhi begleitet, und sie hatte bereits einen großartigen Plan geschmiedet, sich bei seinem Rücktransport an einem bestimmten Eisenbahnknotenpunkt dieses Wagens zu bemächtigen. Auf höchst belustigende Weise glossierte sie auch die Bridge-Party; ja, sie betrachtete die gesamte indische Halbinsel als Schauplatz für eine komische Oper. »Wenn man hier kein Auge für die lächerliche Seite an den Menschen hat, ist man geliefert«, erklärte Miss Derek. Mrs. McBryde – sie war es, die einmal Krankenschwester gewesen war – rief ein ums andere Mal: »O Nancy, das ist ja zum Totlachen! Das ist ja urkomisch, Nancy! Ich wünschte, ich könnte auch alles so sehen!« Mr. McBryde äußerte dafür umso weniger. Es war offenbar ein ganz netter Mann.
Als die Gäste sich verabschiedet hatten und Adela zu Bett gegangen war, kam es nochmals zu einer längeren Unterredung zwischen Mutter und Sohn. Er brauchte an sich ihren Rat und Beistand, verwahrte sich aber gleichzeitig gegen alle Einmischung ihrerseits. »Spricht sich eigentlich Adela manchmal ein bisschen mit dir aus?«, begann er. »Ich bin derart mit Arbeit überhäuft, dass ich sie nicht so oft und so lange zu sehen bekomme, wie ich mir gewünscht hätte, aber ich hoffe wenigstens, dass sie sich einigermaßen wohlfühlt.«
»Adela und ich sprechen immerzu von Indien. Übrigens, Lieber, da du gerade die Rede darauf bringst – du hast schon recht. Du solltest etwas häufiger mit ihr zusammensein.«
»Ja, vielleicht, aber dann würden die Leute klatschen.«
»Nun, sie müssen gelegentlich etwas zum Klatschen haben. Lass sie doch!«
»Die Leute benehmen sich hier so merkwürdig, ganz anders als bei uns daheim – man steht hier, wie der Burrah Sahib es einmal ausgedrückt hat, immer im Rampenlicht. Ein kleines törichtes Beispiel: Adela ging nur bis zum äußeren Rand des Klubgeländes, und Fielding ging ihr nach. Ich sah, dass Mrs. Callendar es beobachtete. Die Turtons halten hier jeden Neuankömmling so lange unter Beobachtung, bis sie völlig sicher sind, dass er zu ihnen passt.«
»Ich glaube nicht, dass Adela jemals zu ihnen passen wird – sie hat einen viel zu ausgeprägten Charakter.«
»Gewiss, das ist gerade das Bemerkenswerte an ihr«, sagte Ronny nachdenklich. Mrs. Moore wurde nicht ganz klug aus ihm. Da sie in London lebte, wo jede Einmischung ins Privatleben verpönt war, konnte sie nicht begreifen, dass es in dem anscheinend so geheimnisvollen Indien etwas wie Privatleben gar nicht gab und dass infolgedessen die Konventionen sehr viel mehr Macht besaßen. »Sie fühlt sich doch nicht etwa bedrückt?«, fuhr er fort.
»Frag sie nur ruhig, frag sie selbst, mein lieber Junge.«
»Wahrscheinlich hat sie allerhand Beunruhigendes von der Hitze gehört. Aber ich werde sie natürlich im April immer ins Gebirge schicken – ich gehöre nicht zu den Männern, die ihre Frauen im Flachland schmoren lassen.«
»Oh, es ist wohl kaum das Wetter, das ihr zu schaffen macht.«
»In Indien zählt nichts anderes als das Wetter, liebe Mutter. Es ist das A und O des täglichen Lebens.«
»Jawohl, das hat Mr. McBryde auch gesagt, aber es sind doch wohl eher die Anglo-Inder selber, die Adela auf die Nerven fallen. Sie ist der Meinung, dass sie sich den Indern gegenüber nicht freundlich genug verhalten.«
»Was habe ich dir gesagt?«, rief er aus, seine gewöhnliche Sanftmut verleugnend. »Es ist mir schon während der ganzen letzten Woche aufgefallen. Das bringt nur eine Frau fertig – sich über irgendeine völlig nebensächliche Frage so den Kopf zu zerbrechen.«
In ihrer Überraschung verlor Mrs. Moore Adela aus dem Auge. »Eine ganz nebensächliche Frage, eine nebensächliche Frage?«, wiederholte sie. »Wie kann so etwas nebensächlich sein?«
»Wir sind doch nicht gerade zu dem Zweck hier im Land, uns freundlich zu verhalten.«
»Wie meinst du das?«
»Ganz wörtlich. Wir sind hier, um Recht zu sprechen und Frieden zu wahren. So empfinde ich es wenigstens. Indien ist kein bürgerliches Wohnzimmer.«
»So empfindet ein Gott«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben, aber es war weniger seine Empfindung als sein Ton, was sie aufbrachte.
Er versuchte, seinen Gleichmut wiederzufinden. »Indien hat es nun mal mit den Göttern«, sagte er.
»Und die Engländer haben es mit dem Wunsch, die Götter zu spielen.«
»Das ist doch alles überflüssiges Gerede. Wir sind nun mal hier, und wir bleiben hier, und das Land hat sich mit uns abzufinden, ob wir nun Götter sind oder nicht. Ach«, brach es etwas kläglich aus ihm hervor. »Was sollte ich denn nach deiner und Adelas Meinung hier tun? Mich mit meinen eigenen Standesgenossen, meinen eigenen Leuten überwerfen und mich stattdessen in Bewunderung für die Inder ergehen? Auf die äußere Macht, in diesem Land Gutes zu tun, verzichten, weil mein Verhalten nicht freundlich genug ist? Keiner von euch beiden versteht, was Arbeiten heißt, sonst würdest du nicht solchen Unsinn zusammenschwatzen. Es ist gar nicht schön, so etwas zu sagen, aber gelegentlich muss man’s tun. Es ist fast schon ein bisschen krankhaft, wie ihr beide euch aufführt – Adela und du. Ich habe euch heute im Klub beobachtet – und der Verwaltungsdirektor hatte sich doch so viel Mühe gemacht, euch zu unterhalten! Ich bin zum Arbeiten hier, bitte schön!, und außerdem dazu, dies elende Land mit aller Gewalt zusammenzuhalten. Ich bin kein Missionar und kein Abgeordneter der Arbeiterpartei und kein verwaschen-sentimentaler Schreiberling, der für alles Verständnis hat. Ich bin Regierungsbeamter, also das, was ich nach deinem Wunsch gerade sein sollte, das ist alles. Wir sind nicht hier in Indien, um nett zu sein, und wir haben auch nicht die Absicht, nett zu sein. Wir haben etwas viel Wichtigeres zu tun.«
Ronny sprach in aller Aufrichtigkeit. Tag um Tag tat er auf dem Richterstuhl sein Bestes, um herauszufinden, welche von zwei unwahren Aussagen die weniger unwahre war, um furchtlos Recht zu sprechen und um, von Lügnern und Schmeichlern umstellt, den Schwachen vor dem weniger Schwachen, den Stammelnden vor dem Zungenfertigen zu schützen. An jenem Morgen hatte er einen bei der Eisenbahn angestellten Schalterbeamten verurteilen müssen, der Pilgern für ihre Fahrkarte zu viel abverlangt hatte; und weiter einen Afghanen, der versucht hatte, ein Mädchen zu vergewaltigen. Dafür erwartete er keine Dankbarkeit, keine Anerkennung. Der Schalterbeamte wie der Afghane würden wohl auch Berufung einlegen, vor der nächsten Verhandlung die Entlastungszeugen bestechen und zuletzt sogar eine Revision des Urteils erwirken. Er tat nur seine Pflicht. Was er aber erwarten durfte, war Verständnis vonseiten seiner Landsleute, und das wurde ihm, von Neuankömmlingen abgesehen, auch nicht vorenthalten. Er hatte wohl ein Anrecht darauf, am Ende eines anstrengenden Tages mit Bridge-Partys verschont zu bleiben und stattdessen mit seinesgleichen Tennis zu spielen oder in einem Liegestuhl die Beine langzustrecken.
Ja, Ronny sprach mit ehrlicher Überzeugung – wenn er nur, dachte seine Mutter, auch mit etwas weniger Schwung gesprochen hätte! Wie sehr Ronny die Schwierigkeiten seiner Lage auskostete! Wie nachdrücklich er immer wieder darauf hinwies, dass er nicht in Indien war, um sich angenehm zu machen; ja, wenn er nur weniger Genugtuung darüber empfunden hätte! Er erinnerte sie an den Ronny aus der Zeit der Public-School. Keine Spur mehr von jugendlicher Menschenfreundlichkeit. Er sprach wie ein gescheiter und verbitterter Junge. Die Worte als solche hätten womöglich einen gewissen Eindruck auf sie nicht verfehlt, aber als sie ihren selbstgefälligen Klang vernahm, als sie sah, wie unterhalb der kleinen rötlichen Nase so selbstzufrieden, so sachkundig die Lippen auf- und zuschnappten, hatte sie die völlig unmotivierte Empfindung, dass damit noch lange nicht das letzte Wort über Indien gesprochen war. Ein einziger Beiklang des Bedauerns – nicht etwa des gespielten Ersatzbedauerns, sondern des echten Bedauerns, das von Herzen kommt –: er wäre ein anderer Mann gewesen und das britische Empire ein anderes politisches Gebilde.
»Ich bestreite das, ja, ich verlange sogar, dass du mir zustimmst«, sagte sie und ließ dabei die Ringe aneinanderklirren. »Wir Engländer sind hier im Land, um nett zu sein.«
»Wie willst du das denn beweisen, Mutter?«, fragte er, nunmehr aber wieder in leiserem Ton, denn er schämte sich seiner Gereiztheit.
»Weil Indien mit zum Erdball gehört. Und weil wir von Gott auf die Erde gestellt sind, um nett zueinander zu sein. Gott … ist … die Liebe.« Sie zögerte ein wenig, weil sie spürte, wie sehr dieses Argument seiner eigenen Überzeugung zuwiderlief, aber irgendetwas nötigte sie, fortzufahren. »Gott hat uns auf die Erde gestellt, damit wir unseren Nächsten lieben und es ihm auch beweisen, und Gott ist allgegenwärtig, sogar in Indien, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass wir es ihm auch recht machen.«