Ronny hatte eine etwas düstere und ein wenig besorgte Miene aufgesetzt. Er kannte diese religiösen Anwandlungen seiner Mutter und wusste, dass sie bei ihr Symptom für inneres Unwohlsein waren. Besonders häufig waren sie nach dem Tod seines Stiefvaters gewesen. Er dachte: »Ganz offensichtlich macht sich ihr Alter bemerkbar, und ich sollte keines ihrer Worte allzu tragisch nehmen.«
»Schon unser Bestreben, nett zueinander zu sein, ist Gott willkommen … Ja, selbst das ehrliche, wenn auch ohnmächtige Bestreben darf Seines Segens gewiss sein. Vermutlich versagt jeder von uns einmal. Aber es gibt so viele Arten des Versagens. Nur auf den guten Willen kommt es an und nochmals den guten Willen. Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete …«
Er wartete, bis sie mit Zitieren fertig war, und sagte dann leise: »Das verstehe ich schon. Aber nun sollte ich mich wieder an meine Akten machen, und du willst zu Bett gehen.«
»Ja, zweifellos, zweifellos.« Ein paar Minuten saßen beide noch beisammen, aber die Unterhaltung hatte einen etwas unwirklichen Charakter angenommen, seit das Christentum mit hereingezogen war. Ronny hatte nichts gegen Religion einzuwenden, solange sie sich damit begnügte, der Nationalhymne eine höhere Weihe zu verleihen, aber er setzte sich gegen sie zur Wehr, sobald sie versuchte, Einfluss auf sein Leben zu nehmen. Dann pflegte er in ehrerbietigem und doch entschiedenem Ton zu erklären: »Ich glaube kaum, dass es viel Sinn hat, über so etwas zu reden – jeder Mensch hat sich schließlich seine eigene Religion zurechtzuzimmern«, und jeder Mensch, der sich zufällig dabei in Hörweite befand, pflegte »hört, hört« zu murmeln.
Mrs. Moore spürte, dass es ein Irrtum ihrerseits gewesen war, Gott in dem Gespräch zu erwähnen, aber je älter sie wurde, desto schwerer fiel es ihr, Ihn zu umgehen. Seit sie indischen Boden betreten, hatte der Gedanke an Ihn sie unaufhörlich beschäftigt, auch wenn Er merkwürdigerweise ihrem Gemüt ein wenig die Befriedigung schuldig blieb. Immer wieder hatte sie Seinen Namen im Munde zu führen – den höchsten aller ihr bekannten Namen –, aber niemals hatte sie es mit geringerem Erfolg getan. Über dem sichtbaren Himmel schien sich stets noch ein anderer Himmel zu wölben, hinter dem fernsten Echo noch eine Stille zu breiten. Und später bereute sie sogar, sich nicht an das wirklich ernsthafte Thema gehalten zu haben, das schließlich der eigentliche Anlass zu ihrem Besuch in Indien gewesen war – nämlich die Beziehung zwischen Ronny und Adela. Würden beide es fertigbringen, sich durch ein Verlöbnis aneinander zu binden?
6
Aziz hatte an der Bridge-Party nicht teilgenommen. Unmittelbar nach der Begegnung mit Mrs. Moore sah er sich anderweitig beansprucht. Im Krankenhaus wurden ein paar chirurgische Fälle eingeliefert, die ihn unaufhörlich in Atem hielten. Er war nicht länger Außenseiter oder Dichter, sondern fachkundiger Mediziner und als solcher höchst unternehmungslustig, ganz vom Gedanken an seine Operationen erfüllt, von denen er später seinen Freunden zahllose Einzelheiten in die schaudernden Ohren flüsterte. Bisweilen schlug sein Beruf ihn völlig in Bann, aber seine Arbeit musste unbedingt aufregend sein. Wissenschaftlich geschult war seine Hand, nicht sein Geist. Das Skalpell war sein Lieblingsinstrument, und er wusste es ungemein geschickt zu handhaben. Nicht weniger Vergnügen fand er daran, den Patienten die neuesten Seren in die Adern zu pumpen. Aber mit der Eintönigkeit von Disziplin und Hygiene konnte er sich niemals befreunden, und wenn er etwa einen Patienten zum Schutz gegen Unterleibstyphus geimpft hatte, brachte er es fertig, aus dem Haus zu schlüpfen und selber unfiltriertes Wasser zu trinken. »Was kann man auch von einem solchen Mann anderes erwarten?«, fragte der unnachsichtige Major Callendar. »Kein Grips und kein Mumm.« Aber im Grunde seines Herzens zweifelte er nicht daran, dass die alte Mrs. Grayford noch am Leben wäre, hätte im vergangenen Jahr nicht er, sondern Aziz ihr den Blinddarm herausgeschnitten. Was ihn natürlich seinem Untergebenen gegenüber nicht eben gnädiger stimmte.
Am Morgen nach dem Moscheebesuch kam es, wie zuvor schon so oft, zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden. Der Major, der die halbe Nacht durchgearbeitet hatte, wollte von Aziz wissen, warum zum Teufel er auf seinen Bescheid hin nicht gleich zur Stelle gewesen wäre.
»Verzeihung, Sir, aber ich war gleich zur Stelle. Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt, aber vor dem Kuhspital platzte einer der Reifen. Ich habe also erst eine Tonga auftreiben müssen.«
»Vor dem Kuhspital? Und wie sind Sie überhaupt dort hingekommen?«
»Wie bitte?«
»Gerechter Himmel! Wenn ich hier wohne« – er bohrte eine Fußspitze in den Kies –, »und Sie wohnen da – keine zehn Minuten weit weg –, und das Kuhspital liegt ein ganzes Stück weiter auf der anderen Seite – da wie kommen Sie dann auf dem Weg zu mir überhaupt daran vorbei? Nun tun Sie zur Abwechslung mal was!«
Wütend stelzte er davon, ohne Aziz’ Entschuldigung abzuwarten, die an sich ganz plausibel gewesen wäre: da das Kuhspital mitten auf der nächsten Verbindungslinie zwischen Hamidullahs Haus und dem seinen lag, war Aziz selbstverständlich daran vorbeigekommen. Callendar konnte niemals begreifen, warum gebildete Inder einander ständig besuchten und so viel Mühe darauf verwandten, ein neues soziales Gewebe zu knüpfen. Kastenvorstellungen oder ähnliche Vorurteile mussten ihnen das ja ohnehin unmöglich machen. Der Major wusste lediglich, dass keiner der Inder ihm je die Wahrheit sagte, auch wenn er nun schon an die zwanzig Jahre im Lande war.
Aziz folgte ihm mit belustigtem Blick. Wenn er hoch gestimmt war, betrachtete er die Engländer als eine komische Welteinrichtung, wie es ihm auch Vergnügen machte, sich von ihnen missverstehen zu lassen. Aber das war eine Art des Belustigtseins, die nur seine Stimmung, seine Nerven betraf und die einem einzigen Zwischenfall oder auch nur dem normalen Verlauf der Zeit nicht standhalten mochte. Sie war ganz verschieden von der inneren Heiterkeit seines Wesens, die erst dann nach außen trat, wenn er mit Menschen zusammensein durfte, denen er wirklich traute. Ein etwas unbotmäßiger Vergleich, Mrs. Callendar betreffend, kam ihm plötzlich in den Sinn. »Das muss ich Mahmoud Ali erzählen – wie der lachen wird!«, dachte er. Dann machte er sich an die Arbeit. Er war tüchtig, er war unentbehrlich, und das wusste er. Und während er mit beruflichem Geschick seiner Tätigkeit nachging, entfiel ihm der besagte Vergleich.
Im Lauf jener angenehmen, arbeitsreichen Tage kam es ihm zu Ohren, dass der Verwaltungsdirektor eine Gesellschaft veranstaltete und dass der Nawab Bahadur die Parole ausgegeben hatte, dass jedermann daran teilzunehmen habe. Sein eigener Kollege, Dr. Panna Lal, war bei dem bloßen Gedanken an die Veranstaltung in helles Entzücken geraten und bestand darauf, dass sie beide zusammen in seinem neuen Einspänner hinfahren sollten – was ihnen auch beiden zupassgekommen wäre. Aziz wäre die unwürdige Vorfahrt mit dem Fahrrad oder die kostspielige Einfahrt in einem Mietfuhrwerk erspart geblieben, und Dr. Panna Lal, der etwas ältlich und furchtsam war, hätte Hilfe beim Kutschieren gehabt. Er bedurfte deren eigentlich nicht, so gut wie nicht, aber er fürchtete sich vor den Autos und der unbekannten Kurve bei der Einfahrt ins Klubgrundstück. »Es mag sich eine Katastrophe ereignen«, sagte er in höflichem Ton, »aber auf jeden Fall werden wir hinfahren, selbst wenn wir nicht mehr zurückkehren sollten.« Und mit etwas weniger zweifelhafter Logik fügte er hinzu: »Es wird bestimmt einen guten Eindruck machen, wenn wir Ärzte gleichzeitig anlangen.«
Als aber der große Augenblick da war, wurde Aziz von Unlust gepackt, und er beschloss, daheimzubleiben. Einmal fühlte er sich nach der soeben zu Ende gekommenen Phase fieberhafter Berufstätigkeit sehr viel unabhängiger und stärker, zum anderen fiel das Datum der Einladung mit der alljährlichen Wiederkehr des Todestags seiner Frau zusammen. Sie war kurze Zeit, nachdem er ihr sein Herz erschlossen hatte, von ihm gegangen. Zunächst hatte sie nicht viel für ihn bedeutet. Nicht unbeeinflusst von westlichen Gefühlsvorstellungen, hatte er sich innerlich der Verbindung mit einer Frau widersetzt, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Und was schlimmer war: als er sie endlich erblickte, fühlte er sich enttäuscht, und das erste Kind mit ihr hatte er im Zustand bloßer sinnlicher Begehrlichkeit gezeugt. Erst nach der Geburt des Kindes begann alles anders zu werden. Was ihn zuletzt an seine Frau kettete, war ihre Liebe zu ihm, ihre Anhänglichkeit, die mehr war als bloße Unterwürfigkeit, war ihr Bemühen, sich geistig bereits für die Aufhebung der strengen purdah-Vorschriften zu wappnen, zu der es womöglich noch zu ihren Lebzeiten kommen würde. Sie war klug und trotzdem in einem altmodischen Sinne anmutig. Und allmählich verlor sich bei ihm das Gefühl, dass seine Angehörigen für ihn eine falsche Wahl getroffen hatten. Sinnliche Freuden – nun, selbst wenn er sie gekostet hätte, sie würden nach Ablauf eines Jahres ihren Reiz für ihn verloren haben, und stattdessen war ihm etwas zuteil geworden, was an Wert immer mehr zu gewinnen schien, je länger beide zusammenlebten. Sie gebar ihm einen Sohn … aber als sie einem zweiten Sohn das Leben schenkte, starb sie. Und nun erst begriff er, was er an ihr verloren hatte, begriff, dass keine Frau jemals wieder an ihre Stelle treten könnte, in gewissem Sinne vielleicht nur noch ein männlicher Freund. Sie war von ihm gegangen, keiner zweiten vergleichbar – und war solche Empfindung für die Einzigartigkeit eines andern Wesens nicht Liebe? Er ging seinen Vergnügungen nach, er vergaß sie sogar bisweilen: dann wieder war es ihm, als sei mit ihr alle Schönheit und Freude der Welt ins Paradies entwichen, und er spielte mit dem Gedanken an Selbstmord. Würde er ihr einst jenseits des Grabes wiederbegegnen – sofern es überhaupt einen Ort für solche Wiederbegegnung gab? Auch wenn er überzeugter Moslem war – er wusste es nicht. Die Einheit Gottes stand über jeden Zweifel fest, war über jeden Zweifel auch offenbar, aber im Hinblick auf andere Fragen war er so unsicher wie ein Durchschnitts-Christ. Die Gewissheit künftigen Lebens verblasste in ihm zu bloßer Hoffnung, erlosch, erglühte von Neuem – und das alles im Rahmen eines einzigen Satzes oder im Verlauf weniger Pulsschläge. Es war, als verfügten seine Blutkörperchen, nicht er selbst, welche Meinung er sich zu eigen machen und wie lange er daran festhalten sollte. Und so verhielt es sich mit all seinen Meinungen. Nichts hatte festen Bestand, aber nichts verflüchtigte sich auch für immer. Unaufhörlich kreiste in ihm und um ihn her die Welt, und so bewahrte er sich die Jugend und trauerte seiner Frau umso ehrlicher nach, als er ihr nur selten nachtrauerte.
Gewiss wäre es einfacher gewesen, Dr. Lal davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich die Sache mit der Gesellschaft anders überlegt hatte. Aber bis zur letzten Minute wusste er nichts davon. Ja, nicht er hatte den Entschluss – der Entschluss hatte sich selber geändert. Eine unbezwingliche Unlust wallte in ihm auf. Mrs. Callendar, Mrs. Lesley – nein, in seinem Kummer konnte er beider Gegenwart nicht ertragen. Andererseits würden sie erraten, wie ihm zumute war – er traute älteren Engländerinnen seltsame Kräfte der Ahnung zu –, und sicher würden sie ihn nur zu gern in die Zange nehmen, um sich dann bei ihren Männern über ihn lustig zu machen. Zu der Zeit, in der er sich zur Abfahrt bereithalten sollte, stand er an einem Postschalter, um ein Telegramm an seine Kinder aufzugeben. Bei der Rückkehr erfuhr er, dass Dr. Lal nach ihm gefragt hatte und dann gleich weitergefahren war. Nun, er mochte nur weiterfahren, wie es der Grobkörnigkeit seines Wesens gemäß war. Er, Aziz, wollte Zwiesprache mit der Toten halten.
Er öffnete ein Schubfach und nahm ein Foto seiner Frau heraus. Er betrachtete sie, und in seine Augen traten Tränen. Wie unglücklich ich doch bin!, dachte er. Aber weil er wirklich unglücklich war, mischte sich seinem Selbstmitleid noch ein anderes Gefühl bei: er wollte sich unbedingt die lebendige Erscheinung seiner Frau wieder ins Gedächtnis rufen – und vermochte es nicht. Warum konnte er sich dagegen ziemlich genau an Leute erinnern, für die er gar nichts empfand? Sie waren ihm stets so erstaunlich gegenwärtig. Je länger er das Foto betrachtete, desto weniger konnte er darauf wahrnehmen. Seit seine Frau zu Grabe getragen war, hatte sie sich ihm entzogen. Er hatte gewusst, dass sie seinen Händen und Augen entgleiten würde, hatte aber geglaubt, sie werde in seinem Innern weiterleben. Er hatte noch nicht begriffen: die bloße Tatsache, dass wir die Toten einmal geliebt haben, macht sie für uns umso unwirklicher, und sie entweichen in immer weitere Fernen, je leidenschaftlicher wir sie uns wieder vors Auge zu rufen versuchen. Ein Stück bräunlichen Kartons und drei Kinder – das war alles, was ihm von seiner Frau geblieben war. Eine unerträgliche Vorstellung. Und wieder dachte er: wie unglücklich ich doch bin, und eben das stimmte ihn ein wenig glücklicher. Einen Augenblick lang hatte er etwas von der Luft der Sterblichkeit geatmet, die die Orientalen wie alle anderen Menschen umweht, und nun wandte er sich mit einem Seufzer, der wie ein Hauch war, wieder reineren Gefilden zu, denn er war jung. »Nie und nimmer werde ich darüber hinwegkommen«, sagte er zu sich. »Zweifellos gibt es nun für mich keine Zukunft mehr, und auch meine Söhne werden schief heranwachsen.« Da ein Zweifel an seinem Schicksal eben nicht möglich war, versuchte er wenigstens, dessen Lauf abzuändern. Er überflog einige Notizen, die er sich über einen Krankheitsfall gemacht hatte. Vielleicht bedurfte eines schönen Tages eine wohlhabende Persönlichkeit gerade dieser besonderen Operation, die ihm eine beträchtliche Stange Geld einbringen würde. Da aber die Notizen ihn um ihrer selbst willen interessierten, schloss er die Fotografie wieder weg. Sie hatte das Ihre getan, und er dachte nun auch nicht weiter an seine Frau.
Nach dem Tee hob sich seine Stimmung ein wenig und er ging zu Hamidullah hinüber. Hamidullah war gerade auf der Gesellschaft, doch sein Pony war dageblieben, und Aziz lieh es sich aus, und mit ihm des Freundes Reithosen und Poloschläger. Er ritt auf den Maidan, der völlig verlassen dalag. Nur am Rande trainierten ein paar Jugendliche aus dem Basarviertel. Trainierten wofür? Sie hätten es selber kaum sagen können, aber das Wort war nun einmal in Mode gekommen. Lang aufgeschossen, mit einwärtsstehenden Knien – in dieser Gegend schien niemand gut gewachsen zu sein –, trugen sie einen Ausdruck nicht so sehr der Entschlossenheit als des Entschlossenseins zur Entschlossenheit zur Schau. »Maharadscha, salaam«, rief Aziz ihnen scherzend zu. Die jungen Leute hielten in der Bewegung inne und lachten. Er warnte sie vor Überanstrengung, und sie versprachen, seine Warnung zu beherzigen, und liefen weiter. Aziz sprengte in die Mitte des Platzes und begann den Ball hierhin und dorthin zu schlagen. Er selbst verstand nicht viel vom Spiel, wohl aber das Pony, und er machte sich, aller menschlichen Spannung enthoben, gleich daran, es zu erlernen. Er vergaß seine sämtlichen Lebensnöte, während er über die flache Schüssel des Maidans fegte. Wie kühl der Hauch des Abendwinds auf seiner Stirn, wie beruhigend der Anblick der ihn umkreisenden Bäume! Der Ball schoss in Richtung eines einzelnen Fähnrichs, der sich hier gleichfalls zum Üben eingefunden hatte. Er schmetterte ihn zu Aziz zurück und rief: »Schlagen Sie ihn wieder her!«
»Na schön.«
Der Neuankömmling wusste ungefähr, was er anzustellen hatte, aber sein Pferd wusste es nicht, und so waren die Kräfte annähernd gleichmäßig verteilt. Ihr Augenmerk ganz dem Ball zugewandt, fassten beide Spieler eine gewisse Zuneigung zueinander und lächelten, wenn sie einmal ihr Reittier zum Stehen brachten, um einen Augenblick zu verschnaufen. Aziz hatte für Uniformierte allerlei übrig – sie freundeten sich entweder gleich mit einem neuen Bekannten an oder schickten ihn fluchend zum Teufel, was immer noch besser war als das eingebildete Getue der meisten Zivilisten –, und der Fähnrich wiederum hatte für jeden etwas übrig, der sich aufs Reiten verstand.
»Spielen Sie oft?«, fragte er.
»Sonst nie.«
»Dann lassen Sie uns noch eine Runde versuchen.«
Als er selbst wieder ausholte, bäumte sich sein Pferd auf, er fiel zu Boden, rief: »O Gott!« und saß wieder auf. »Fallen Sie denn nie herunter?«
»Fortwährend.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
Wieder zügelten beide ihr Reittier, die helle Wärme der Brüderlichkeit im Auge. Aber diese Empfindung hielt so wenig vor wie die Erhitzung ihres Körpers, denn sportliche Betätigung vermag nur einen flüchtigen Wärmeschimmer hervorzurufen. Bei beiden machte sich das Gefühl verschiedener Stammeszugehörigkeit wieder geltend, aber bevor es sein Gift abzusondern vermochte, schieden sie mit kräftigem Handschlag. »Wenn die anderen nur genauso wären!«, dachte jeder von beiden.
Die Stunde des Sonnenuntergangs war gekommen. Ein paar von Aziz’ Glaubensbrüdern waren auf dem Maidan erschienen und hatten sich zum Gebet niedergeworfen, das Gesicht dem fernen Mekka zugewandt. Ein brahmanischer Bulle hatte sich in ihrer Richtung in Bewegung gesetzt, und wenn auch Aziz selbst keine Lust zum Beten verspürte, so konnte er doch nicht einsehen, warum das schwerfällige, götzengläubig verehrte Tier die andern dabei stören sollte. Mit seinem Poloschläger versetzte er ihm einen kleinen Hieb. In diesem Augenblick rief eine Stimme von der Straße her seinen Namen. Es war Dr. Panna Lal, der gerade in tiefster Niedergeschlagenheit von der Gesellschaft des Verwaltungsdirektors zurückkehrte.
»Dr. Aziz, Dr. Aziz, wo haben Sie nur gesteckt? Volle zehn Minuten habe ich vor Ihrem Haus gewartet. Dann bin ich allein losgefahren.«
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung – ich musste gerade aufs Postamt.«
Jeder seiner Bekannten aus seiner eigenen Sphäre würde sofort begriffen haben, dass er sagen wollte, er habe seinen ursprünglichen Entschluss geändert – ein Vorkommnis, das viel zu häufig war, um eine besondere Rüge zu verdienen. Aber Dr. Lal war von niedriger Herkunft und deshalb nicht ganz sicher, ob jene Bemerkung nicht als Beleidigung gemeint war; außerdem war er noch aufgebracht, weil Aziz sich an dem brahmanischen Bullen vergriffen hatte. »Zum Postamt? Schicken Sie dahin nicht Ihre Diener?«
»Ich habe nur wenig Diener – mein Gehalt ist zu niedrig.«
»Ihr Diener hat mir Auskunft gegeben. Ich habe mit Ihrem Diener gesprochen.«
»Aber Dr. Lal, denken Sie doch bitte einen Augenblick nach. Wie hätte ich meinen Diener wegschicken können, wenn Sie zu mir kommen! Sie kommen, wir beide gehen, mein Haus bleibt unbewacht, vielleicht kommt dann mein Diener zurück, und inzwischen ist meine ganze bewegliche Habe von irgendwelchem zweifelhaften Gelichter weggeschafft worden. Hätten Sie mir so etwas gewünscht? Der Koch ist taub, auf meinen Koch kann ich mich nie verlassen, der Hausdiener ist nur ein kleiner Junge. Unter keinen Umständen dürfen Hassan und ich das Haus gleichzeitig verlassen. Das ist bei uns eine unumstößliche Regel.« Alles dies und noch sehr viel anderes sagte er aus purer Höflichkeit, um Dr. Lal Verlegenheit zu ersparen. Es sollte nicht für bare Münze genommen und darum auch als solche nicht abgelehnt werden. Aber der andere zerpflückte die Erklärung Wort für Wort, was weder sehr schwierig noch sehr vornehm war.
»Und selbst wenn es sich so verhält – warum lassen Sie dann nicht einfach Bescheid zurück und lassen mich wissen, wo Sie hingegangen sind?« Und so fort. Aziz konnte einen solchen Mangel an guter Erziehung nicht verzeihen, und er ließ sein Pony hin und her tänzeln. »Entfernen Sie sich bitte, sonst fängt auch mein Tier noch an zu tänzeln«, jammerte Dr. Lal und enthüllte damit die wahre Ursache seiner Gereiztheit. »Das Pferd ist heute Nachmittag so bockig und ungebärdig gewesen. Es hat im Garten des Klubs ein paar wertvolle Blumen zertrampelt und musste von vier Männern zurückgezerrt werden. Englische Damen und Herren haben alles mit angesehen, und der Sahib Verwaltungsdirektor hat die Stirn gerunzelt. Aber, Dr. Aziz, ich werde Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Es ist ohnehin für Sie wohl kaum von Interesse, wo Sie doch so viele Verpflichtungen und telegrafische Verbindlichkeiten haben. Ich bin nur ein armer alter Arzt, der es für recht und billig hielt, seine Reverenz zu erweisen, als man ihn zu Gast lud. Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf: Ihre Abwesenheit hat allerlei böse Zungen in Bewegung gesetzt.«
»Mögen sie doch schwätzen, so viel sie wollen.«
»Was für ein Glück, jung zu sein! Na schön. Ja, wirklich ein Glück. Haben die bösen Zungen aber ganz unrecht?«
»Ich gehe oder ich gehe nicht – ganz wie ich Lust habe.«
»Aber Sie hatten’s mir doch versprochen, und dann fabeln Sie diese Geschichte von dem Telegramm zusammen. He! Vorwärts, Dapple!«
Beide entfernten sich, und Aziz verspürte den wilden Drang, sich einen Todfeind fürs Leben zu machen – was er auch nicht unterlassen konnte. Tatsächlich sprengte er in die Nähe des Wagens. Da – Dapple scheute. Dann raste Aziz auf den Paradeplatz zurück.
Eine kleine Weile hielt das durch das Spiel mit dem Fähnrich bei ihm ausgelöste Hochgefühl noch vor. Im Galopp fegte er über den ganzen Platz, bis der Schweiß ihm aus allen Poren brach. Solange er auf dem Pony saß, war es ihm, als könne er es mit jedem aufnehmen. Erst als er es in Hamidullahs Stall zurückgebracht hatte und wieder auf seinen Füßen stand, beschlichen ihn allerhand Befürchtungen. Hatte er es möglicherweise nun mit den herrschenden Mächten verdorben? Hatte er den Verwaltungsdirektor durch sein Fernbleiben beleidigt? Dr. Panna Lal war keine sehr hoch gestellte Persönlichkeit; aber war es klug, sich auch noch mit ihm zu überwerfen? Seine Gedanken nahmen nun eine weniger menschliche als politische Färbung an. Er fragte sich nicht länger: »Wie kann ich mit anderen Leuten auskommen?«, sondern: »Sind sie stärker als ich?« Er hatte etwas von den in der Luft stehenden Giftkeimen eingeatmet.
Zu Hause erwartete ihn ein amtlicher Umschlag mit einem Regierungsstempel. Wie ein gefährlicher Sprengkörper, der bei der bloßen Berührung seinen Bungalow in Trümmer legen könnte, starrte ihm der Umschlag auf seinem Schreibtisch entgegen. Bestimmt drohte seine Entlassung, weil er der Gesellschaft ferngeblieben war. Als er jedoch den Umschlag öffnete, war es etwas ganz anderes: eine Einladung Mr. Fieldings, des Prinzipals des Beamtenseminars, der ihn für den übernächsten Tag zum Tee bat. Mit einem etwas gewaltsamen Ruck kehrten seine Lebensgeister zurück. Sie wären an sich auf jeden Fall zurückgekehrt, denn er besaß ein Gemüt, das wohl leiden, aber nicht unter ständigem Druck dahinvegetieren konnte. Unter der Oberfläche häufigen Stimmungswechsels führte er ein sonst ausgeglichenes Dasein. Aber diese Einladung bereitete ihm ganz besondere Freude, weil Fielding ihn schon einen Monat zuvor einmal zum Tee gebeten und er, Aziz, es damals völlig vergessen hatte – er hatte nicht geantwortet, war nicht hingegangen, sondern hatte es einfach vergessen. Und hier lag nun eine zweite Einladung – ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne die geringste Anspielung auf sein Versäumnis. Ja, das war echte Höflichkeit, war das taktvolle Verhalten, in dem sich das gute Herz offenbarte, und rasch die Feder aufgreifend, schrieb er eine warmherzige Antwort. Dann eilte er zu Hamidullah, um sich einige Auskunft zu holen, denn er hatte den Prinzipal bisher noch nicht persönlich kennengelernt, und er war überzeugt, dass die einzig ernsthafte Lücke in seinem Leben sich nun endlich schließen ließ. Er wollte alles wissen, was diesen großartigen Burschen betraf – Gehalt und Geschmack und Vorfahren und alle Möglichkeiten, ihm gefällig zu sein. Aber Hamidullah war noch immer nicht zurückgekehrt, und Mahmoud Ali, der es war, tat nichts anderes, als dumme, grobe Witze über die Gesellschaft zu reißen.
7
Dieser Mr. Fielding war erst verhältnismäßig spät in die Fänge Indiens geraten. Er war bereits über vierzig, als er jenes seltsamste aller Zugangstore, nämlich den Victoria-Bahnhof in Bombay, durchschritten und dann, nach Bestechung eines europäischen Billett-Kontrolleurs, sein Gepäck im Abteil seines ersten tropischen Zugs verstaut hatte. Diese Reise nahm noch jetzt in seinem Bewusstsein eine bedeutsame Stelle ein. Von seinen beiden Abteilgefährten war der eine ein junger Mann, der, wie er selbst, zum ersten Mal nach dem Osten kam, der andere ein abgebrühter Anglo-Inder seines eigenen Alters. Von beiden fühlte er sich durch eine Kluft getrennt: er hatte schon zu viele Städte und Menschen gesehen, um dem einen zu gleichen, dem anderen je gleich zu werden. Er sah sich von zahllosen neuen Eindrücken bedrängt, aber es waren keine neuen Eindrücke im üblichen Sinne. Sie waren von seiner Erfahrung mitbedingt, und nicht anders verhielt es sich auch mit seinen Irrtümern. Beispielsweise ist es kein gewöhnlicher, wenn auch gewiss kein verhängnisvoller Irrtum, einen Inder zu betrachten, als sei er ein Italiener, und Fielding stellte zunächst immer wieder Vergleiche zwischen dieser Halbinsel und jener anderen, kleineren, kunstvoller geformten an, die sich in die klassischen Gewässer des Mittelmeers schiebt.
Wenn seine Berufslaufbahn auch die eines Intellektuellen war, so war sie doch wechselvoll genug gewesen, und einmal war er dabei auch auf die schiefe Ebene geraten und hatte später Buße dafür getan. Nun war er ein vom Schicksal hart mitgenommener, stets gleichmäßig freundlicher, gescheiter Bursche an der Schwelle der mittleren Jahre, völlig vom Wert der Erziehung überzeugt. Es war ihm gleichgültig, wen er unterrichtete: der Zufall hatte ihn mit Internatsschülern, geistig Zurückgebliebenen, sogar mit Polizisten zusammengeführt, und er hatte keinerlei Bedenken, es nun auch mit Indern zu versuchen. Dank der Fürsprache einflussreicher Freunde war er zum Prinzipal des kleinen Seminars in Tschandrapur ernannt worden, hatte sich mit seiner Arbeit befreundet und durfte sich auch für erfolgreich halten. Er war es tatsächlich im Hinblick auf seine Schüler, aber die Kluft zwischen ihm und seinen Landsleuten, von der er bereits auf der Herfahrt etwas wahrgenommen hatte, verbreiterte sich auf fast beklemmende Weise. Zunächst konnte er nicht einmal recht begreifen, woran das eigentlich lag. Er war durchaus nicht unpatriotisch, in England kam er mit Engländern vortrefflich aus, seine besten Freunde waren englischer Herkunft – warum verhielt es sich hier draußen so völlig anders? Der äußeren Erscheinung nach etwas ungeschliffen, schien er mit seinen blauen Augen und locker schwingenden Gliedern den anderen so lange Vertrauen einzuflößen, bis er den Mund öffnete. Dann bereitete irgendetwas in der Art seines Verhaltens den Leuten Kopfzerbrechen oder vermochte zumindest nicht das Misstrauen zu beschwichtigen, das sein Beruf verständlicherweise bei ihnen hervorrief. Gewiss musste es auch in Indien das notwendige Übel von klugen Köpfen geben – aber wehe dem, der ihre Zahl noch vermehren half! Man gewann in wachsendem Maße den Eindruck, dass Mr. Fielding eine zersetzende Kraft war, und das auch nicht ganz zu Unrecht, denn Ideen sind verhängnisvoll für die Aufrechterhaltung strenger Klassenunterschiede, und gerade Ideen brachte er auf die methodisch wirksamste Weise ins Spiel – nämlich auf dem Wege persönlichen Gedankenaustauschs. Von Beruf weder Missionar noch Gelehrter, fühlte er sich am wohlsten, wenn er gebend und nehmend an persönlicher Unterhaltung teilnehmen durfte. Nach seiner Überzeugung war die Erde ein Planet, dessen Bewohner einander näherzukommen trachteten – was ihnen am ehesten mithilfe von gutem Willen plus innerer Kultur plus Intelligenz gelingen mag –, nur dass diese Überzeugung nicht recht zu Tschandrapur passte und er zu spät herübergekommen war, um sie noch zu wechseln. Er kannte keinerlei Rassendünkel – nicht etwa, weil er allen anderen Zivilisten geistig überlegen gewesen wäre, sondern weil er in einem völlig verschiedenen geistigen Klima herangewachsen war, in dem der Herdentrieb durchaus nicht gedeihen konnte. Was ihm aber in den Augen der Klubmitglieder am meisten Abbruch tat, war eine unbedachte Nebenbemerkung des Inhalts, dass die sogenannte weiße Rasse eigentlich rosa-grau sei. Er hatte das nur zum Scherz gesagt, denn er machte sich offenbar nicht ganz klar, dass das Wort »weiß« in einem solchen Zusammenhang nicht mehr mit einer Farbe zu tun hat als das »God save the king« mit einem Gott und dass es der Gipfel der Ungehörigkeit war, es als Begriff wörtlich zu nehmen. Das rosa-gräuliche Mannsbild, an das er jene Bemerkung gerichtet hatte, war auf eine ihm selbst kaum verständliche Weise darüber aufgebracht. In ihm war ein Gefühl von Unsicherheit erwacht, und er wusste es auch dem anderen Herdenvolk zu übermitteln.