Immerhin duldeten ihn die Männer um seines guten Herzens und seiner starken Glieder willen. Es waren ihre Frauen, die übereinstimmend feststellten, dass er im Grunde kein Sahib war. Sie konnten nichts mit ihm anfangen, er wiederum nahm von ihnen keine Notiz, was in England, dem Lande weiblicher Gleichberechtigung, nicht weiter aufgefallen wäre, was ihm aber in Indien in einer Gemeinschaft, in der ein männliches Wesen sich so energisch wie hilfsbereit zu erweisen hatte, Abbruch tat. Mr. Fielding erteilte niemals Ratschläge im Hinblick auf Hunde oder Pferde. Er nahm niemals an Abendgesellschaften teil oder stattete mittägliche Anstandsbesuche ab, er dekorierte auch für die lieben Kleinen keinen Weihnachtsbaum, und wenngleich er regelmäßig im Klub aufkreuzte, so nur, um eine Partie Tennis oder Billard zu spielen und gleich wieder zu verschwinden. Ja, so war es tatsächlich. Er hatte entdeckt, dass es möglich war, mit Indern und Engländern, männlichen, gleich gut zu stehen, dass man aber, wenn man es mit Engländerinnen nicht verderben wollte, den Verkehr mit Indern unbedingt aufzugeben hatte. Mit beiden gleichzeitig zu verkehren, war jedenfalls undenkbar. Sinnlos, für diesen Zustand eine der beiden Parteien verantwortlich zu machen, sinnlos auch, ihnen beiden die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, dass sie einander die Schuld in die Schuhe schoben. Es war nun einmal nicht anders, und man hatte sich von vornherein darüber klar zu werden, was man tat. Die meisten Engländer gaben natürlich den Frauen ihres eigenen Blutes den Vorzug, die, in immer wachsender Zahl mit ihnen herüberkommend, Jahr um Jahr in wachsendem Maße es ihnen ermöglichten, auch in der Fremde ein Dasein nach heimatlichem Muster zu führen. Fielding hatte es nützlich und angenehm gefunden, mit Indern zu verkehren, und dafür musste er nun den Preis zahlen. In der Regel überschritt keine Engländerin die Schwelle seines Seminars, es sei denn bei irgendeinem offiziellen Anlass, und wenn er Mrs. Moore und Miss Quested zum Tee einlud, so nur darum, weil beide Neuankömmlinge waren, für deren Auge alles, obschon nur an der Oberfläche, noch gleichwertig war, und die auch bei der Unterhaltung mit seinen anderen Gästen keine Sonderstimme anschalten würden.
Das Seminar selbst war vom Amt für Öffentliche Arbeiten etwas lieblos auf den Boden hingeklatscht worden, aber auf seinem Gelände befand sich ein uralter Garten mit einem Pavillon, in dem Fielding einen Großteil des Jahres hauste. Er hatte ein Bad genommen und war gerade beim Ankleiden, als ihm Dr. Aziz gemeldet wurde. Mit erhobener Stimme rief er aus dem Schlafzimmer: »Bitte, machen Sie sich’s bequem.« Es war eine völlig absichtslose Bemerkung, so absichtslos wie die meisten seiner Äußerungen und Handlungen. Es war genau das, was ihm gerade in den Sinn kam.
Aber für Aziz hatte diese Bemerkung eine sehr bestimmte Bedeutung. »Wirklich, Mr. Fielding?«, rief er zurück. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Auch ich bin für alles Unkonventionelle.« Es war ihm plötzlich ganz warm ums Herz, und er hielt im Wohnzimmer Umschau. Allerhand Luxusgegenstände, aber gar keine Ordnung – nichts, was einen armen Inder hätte einschüchtern können. Außerdem war es ein überaus schöner Raum mit drei hohen, in den Garten hinausführenden Bogentüren. »Ich habe nämlich schon lange den Wunsch gehabt, Sie persönlich kennenzulernen«, fuhr er fort. »Durch den Nawab Bahadur habe ich schon so viel von Ihrer Herzlichkeit gehört. Aber wie soll man in einem so elenden Loch wie Tschandrapur jemals zusammentreffen?« Er trat näher an die geschlossene Tür. »Ich muss Ihnen etwas erzählen. Als ich hier noch ein Neuling war, habe ich mir oft gewünscht, Sie würden einmal krank, damit wir auf diese Weise miteinander bekannt würden.« Beide Männer lachten, und ermutigt durch seinen Erfolg, begann Aziz zu improvisieren. »Ich sagte zu mir selbst: Wie sieht Mr. Fielding wohl heute früh aus? Vielleicht etwas blass. Und der Oberarzt sieht auch etwas blass aus. Er kann ihn also nicht selber behandeln, wenn bei ihm der Schüttelfrost einsetzt. Dann wäre ich also geholt worden. Und dann hätten wir uns ausgiebig unterhalten können, denn Sie sind ja ein berühmter Kenner persischer Dichtkunst.«
»Sie kennen mich also von Ansehen?«
»Natürlich, natürlich. Und Sie kennen mich?«
»Dem Namen nach kenne ich Sie sehr gut.«
»Ich bin erst so kurze Zeit hier und fast immer im Basarviertel. Kein Wunder, dass Sie mich noch nicht gesehen haben. Aber wieso kennen Sie meinen Namen? Ach bitte, Mr. Fielding –.«
»Ja?«
»Bevor Sie herauskommen: raten Sie doch bitte, wie ich aussehe. Es soll eine Art Spiel sein.«
»Sie sind ungefähr 1,72 m groß«, sagte Fielding mit einem Blick auf den Schattenriss hinter der Mattglasscheibe der Schlafzimmertür.
»Ziemlich gut geschätzt. Und weiter – habe ich etwa einen ehrwürdigen weißen Bart?«
»Verdammt.«
»Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Ich bin auf meinen letzten Kragenknopf getreten.«
»Nehmen Sie meinen, bitte, nehmen Sie ihn!«
»Haben Sie zufällig einen Reserveknopf mit?«
»O ja, eine Sekunde bitte.«
»Nicht, wenn Sie ihn noch am Hemd haben.«
»Nein, nein, ich habe ihn in der Tasche.« Er trat einen Augenblick beiseite, damit hinter der gläsernen Tür nichts mehr von seiner Umrisslinie zu sehen war, würgte sich den Kragen ab und zerrte aus seinem Hemd den hinteren Knopf heraus, einen goldenen Knopf, der zu einer Garnitur gehörte, die sein Schwager ihm aus Europa mitgebracht hatte. »Hier ist er«, rief er.
»Kommen Sie doch bitte damit herein, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Noch eine Sekunde, bitte.« Während er den Kragen wieder befestigte, sandte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass er während der Teestunde nicht nach oben rutschen möge. Fieldings Diener, der ihm beim Ankleiden behilflich war, öffnete die Tür.
»Vielen Dank!« Die beiden Männer schüttelten einander lächelnd die Hand. Aziz begann um sich zu schauen, als wäre er schon lange mit Fielding befreundet. Dieser war über das Unvermittelte ihres Vertrautseins nicht weiter überrascht. Bei derart ihren Stimmungen unterworfenen Menschen pflegte es sich im ersten Augenblick einzustellen oder nie, und da sowohl er wie Aziz nur Gutes vom anderen gehört hatte, kamen sie auch ohne die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus.
»Aber ich habe immer geglaubt, Engländer hielten in ihrem Zimmer so strikt auf Ordnung. Offenbar stimmt das nicht ganz. Ich brauche mich also selber nicht weiter zu schämen.« Er ließ sich fröhlich auf dem Bett nieder, zog dann wie selbstvergessen die Beine hoch und kreuzte sie unter sich. »Alles so kalt und unfreundlich auf Regalen aufgereiht, hatte ich mir vorgestellt. Bitte, Mr. Fielding, geht der Knopf bei Ihnen hinein?«
»Tjo, dat weet ick nu nich.«
»Was bedeutet bitte der letzte Satz? Könnten Sie mir wohl ein paar neue Worte beibringen und meine Ausdrucksweise ein wenig verbessern helfen?«
Fielding zweifelte, ob es an der Wendung: »Alles so kalt und unfreundlich auf Regalen aufgereiht« überhaupt etwas zu verbessern gab. Es fiel ihm immer wieder auf, mit welcher Lebendigkeit die jüngeren Leute in Indien eine fremde Sprache zu handhaben wussten. Sie veränderten wohl Fügung und Tonfall, aber sie konnten alles, was sie sagen wollten, auch gleich in Ausdruck umsetzen. Sie leisteten sich keinen der sprachlichen Schnitzer, die ihnen im Klub zur Last gelegt wurden. Aber im Klub war man stets etwas hinter der Zeit zurück. Hier wurde noch immer behauptet, nur wenige Mohammedaner und gar keine Hindus würden sich mit Engländern je zum Essen zusammensetzen, und sämtliche Inderinnen lebten noch immer hinter einem undurchdringlichen purdah. Im Einzelnen wussten die Klubmitglieder natürlich, dass das nicht mehr stimmte. Aber als Klubmitglied nahm man von Veränderungen grundsätzlich keine Notiz.
»Lassen Sie mich den Knopf befestigen. Ach so … Das hintere Knopfloch ist etwas klein, und es wäre doch schade, es weiter aufzureißen.«
»Warum zum Teufel braucht man überhaupt Kragenknöpfe?«, knurrte Fielding, den Nacken beugend.
»Wir Inder brauchen sie, um mit heiler Haut an den Polizisten vorüberzukommen.«
»Wieso das?«
»Wenn ich in meiner englischen Kleidung – steifer Kragen, Hut mit Krempe – an einem Polizisten vorüberradele, nimmt er keine Notiz. Wenn ich aber einen Fez trage, rufen sie: ›Deine Lampe brennt nicht!‹ Lord Curzon hat das nicht mit in Betracht gezogen, als er die Bewohner Indiens ermahnte, ihre malerische Tracht beizubehalten. – Hurra, der Kragenknopf ist drin! Manchmal träume ich mit geschlossenen Augen und stelle mir vor, ich trüge wieder Prachtgewänder und ritte hinter Alamgir in die Schlacht. Muss Indien damals nicht schön gewesen sein, Mr. Fielding, als das Mogulenreich auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt war und in Delhi Alamgir sein Zepter auf dem Pfauenthron schwang?«
»Um Ihretwillen kommen heute auch zwei Damen zum Tee – ich glaube, Sie kennen sie schon.«
»Um meinetwillen? Ich kenne keine Europäerinnen.«
»Auch Mrs. Moore und Miss Quested nicht?«
»O doch – ich entsinne mich jetzt.« Die romantische Begegnung in der Moschee war seinem Bewusstsein entschwunden, sobald sie hinter ihm lag. »Eine äußerst betagte Dame. Aber könnten Sie bitte den Namen ihrer Begleiterin wiederholen?«
»Miss Quested.«
»Ganz wie es Ihnen beliebt.« Er war enttäuscht, dass noch andere Gäste erwartet wurden. Am liebsten wäre er mit seinem neuen Freund allein geblieben.
»Sie können Miss Quested etwas vom Pfauenthron erzählen – man sagt, sie sei Künstlerin.«
»Ist sie etwa Nachimpressionistin?«
»Nachimpressionistin – ach, du lieber Himmel! Kommen Sie lieber zum Tee. Ich verstehe die Welt nicht mehr.«
Aziz fühlte sich gekränkt. Offenbar wollte Fielding mit seiner Bemerkung andeuten, dass er, Aziz, ein unbedeutender kleiner Inder, kein Recht hätte, jemals von Nachimpressionismus gehört zu haben – das war Vorrecht der herrschenden, der Herrenrasse. Etwas gespreizt erwiderte er: »Ich betrachte Mrs. Moore nicht als gute Bekannte. Ich habe sie lediglich durch Zufall einmal in meiner Moschee getroffen.« Er war gerade dabei, hinzuzufügen: »Eine einzige kurze Begegnung genügt nicht für eine Bekanntschaft«, aber noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, fiel alle Förmlichkeit von ihm ab. Er spürte, wie ehrlich Fielding es mit ihm meinte. Auch er neigte sich ihm innerlich bereits zu, kämpfte aber noch gegen die Strömung des Empfindens an, die den Seefahrer zu einem Ankerplatz tragen, ihn aber auch darüber hinwegreißen und an den Klippen zerschellen lassen kann. Aber in Wirklichkeit fühlte er sich so sicher wie eine geborene Landratte, für die es nur Festlandboden gibt und die davon überzeugt ist, dass jede Art von Seefahrzeug scheitern muss. Gleichzeitig aber hatte er gewisse Empfindungen, wie sie einer Landratte auf immer fremd bleiben müssen. Ja, er war nicht so sehr empfänglich wie empfindlich. In jeder Bemerkung nahm er eine bestimmte Bedeutung wahr, aber es war nicht immer die wahre Bedeutung, und sein Dasein floss, wenngleich mit lebhaftem Gefälle, für ihn wie im Traum dahin. Fielding beispielsweise hatte nicht sagen wollen, dass ein Inder, sondern dass lediglich der Nachimpressionismus für ihn nichts zu bedeuten hatte. Ein Abgrund lag zwischen dieser Bemerkung und Mrs. Turtons Ausruf: »Aber sie reden ja Englisch!« Nur hätte für Aziz’ Ohren beides zu ähnlich geklungen. Fielding erkannte, dass irgendetwas aus den Fugen geraten war, sich nun aber von selbst wieder eingerenkt hatte. Er begann jedoch nicht gleich unruhig zu werden, denn in allem, was persönliche Beziehungen anging, war er Optimist. Die Unterhaltung zwischen beiden ratterte munter weiter.
»Außer den Damen erwarte ich noch einen Mitarbeiter – Naraya Godbole.«
»Oh, den Brahmanen aus dem Dekhan?«
»Auch er sehnt sich nach der Vergangenheit zurück, wenngleich nicht gerade nach Alamgir.«
»Ja, das wohl kaum. Wissen Sie, was die Brahmanen aus dem Dekhan behaupten? Dass die Engländer Indien einstmals ihnen abgeknöpft hätten, ihnen, bitte schön, und nicht den Mogulen. Sieht ihnen so eine Unverschämtheit nicht ganz ähnlich? Sie haben es mithilfe von Bestechungsgeldern sogar dahin gebracht, dass es in den Geschichtsbüchern zu lesen steht. Sie sind verschlagen und unermesslich reich. Allerdings muss Professor Godbole nach allem, was ich von ihm höre, ganz anders sein als die sonstigen Brahmanen aus dem Dekhan. Ein durchaus aufrichtiger Mann.«
»Warum gründet ihr in Tschandrapur eigentlich keinen eigenen Klub, Aziz?«
»Vielleicht – eines Tages … Aber da sehe ich Mrs. Moore kommen – mit – wie heißt sie doch …«
Wie angenehm, dass es eine »unkonventionelle« Gesellschaft war, bei der für Förmlichkeit kein Raum blieb! In ihrem Rahmen fand es Aziz auch gar nicht schwierig, sich mit den beiden Engländerinnen zu unterhalten. Er behandelte sie, als ob sie Männer wären. Der Anblick körperlicher Schönheit würde ihn wahrscheinlich beunruhigt haben, denn dann wären besondere Spielregeln zu berücksichtigen gewesen. Aber Mrs. Moore war so alt und Miss Quested so wenig bemerkenswert, dass ihm diese Art der Besorgnis erspart blieb. In seinen Augen waren Adelas eckiger Körper und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht unverzeihliche Mängel – wie hatte nur der Schöpfer eine weibliche Gestalt mit derart kümmerlichen Reizen ausstatten können! Aus diesem Grund hielt er es auch nicht für nötig, ihr gegenüber ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Ich möchte Sie etwas fragen, Dr. Aziz«, fing Miss Quested an.
»Ich habe von Mrs. Moore gehört, wie hilfreich Sie sich ihr gegenüber in der Moschee erwiesen haben und wie interessant Sie erzählen können. In den paar Minuten mit Ihnen hat sie mehr von Indien erfahren als in den drei Wochen, die seit unserer Ankunft verstrichen sind.«
»O bitte, erwähnen Sie doch etwas so Belangloses nicht. Gibt es irgendetwas in meinem Land, über das Sie gerne Bescheid wissen möchten?«
»Wir haben heute früh eine seltsame Enttäuschung erlebt. Vielleicht könnten Sie mir erklären, was es damit für eine Bewandtnis hat. Es muss sich um irgendeine Frage der Etikette handeln.«
»Ehrlich gesagt, es gibt hierzulande überhaupt keine Etikette«, erwiderte er. »Wir sind von Haus aus völlig formlos.«
»Dann müssen wir leider selbst einen Schnitzer gemacht und jemand gekränkt haben«, sagte Mrs. Moore.
»Das ist noch weniger denkbar. Aber darf ich wohl die Tatsachen erfahren?«
»Ein indisches Ehepaar hatte uns heute früh um neun Uhr die Kutsche zum Abholen senden wollen. Sie ist nicht gekommen. Wir haben gewartet und gewartet und können uns einfach nicht vorstellen, was passiert sein sollte.«
»Irgendein Missverständnis«, warf Fielding ein. Er sah auf den ersten Blick, dass es sich hier um die Art Vorfall handelte, die am besten ungeklärt blieb.
»O nein, das war es bestimmt nicht«, fuhr Miss Quested hartnäckig fort. »Sie haben sogar eine Reise nach Kalkutta verschoben, um uns bei sich empfangen zu können. Wir sind beide fest überzeugt, dass wir irgendeinen idiotischen Formfehler begangen haben.«
»Darüber würde ich mir nicht allzu viele Gedanken machen.«
»Das ist genau das, was auch Mr. Heaslop mir immer wieder versichert«, entgegnete sie, ein wenig errötend. »Wenn man sich aber keine Gedanken macht – wie kann man dann je begreifen?«
Der Gastgeber schickte sich an, das Gesprächsthema zu wechseln, aber Aziz hielt eifrig daran fest. Als er Einzelsilben von den Namen der Schuldigen erfuhr, erklärte er, es seien Hindus.
»Indolente Hindus ohne Manieren – sie haben keine Ahnung, was es mit gesellschaftlichen Umgangsformen auf sich hat! Ich kenne ihre Art ganz genau, weil ich im Krankenhaus einen Hindukollegen habe. So ein indolenter, unpünktlicher Mensch! Bei denen haben Sie bestimmt nichts versäumt – im Gegenteil, Sie würden in ihrem Haus ein ganz falsches Bild von Indien bekommen haben. Keinerlei sanitäre Einrichtungen. Ich meinerseits würde glauben, dass sie sich im letzten Augenblick ihres Hauses schämten und Sie darum nicht abholen ließen.«
»Das könnte stimmen«, sagte der andere.
»Ich kann Geheimnisse nun mal nicht ausstehen«, bemerkte Adela.
»Nein, das können wir Engländer nicht.«
»Aber ich habe nicht deshalb etwas dagegen, weil ich Engländerin bin, sondern weil ich es selbst so empfinde«, korrigierte sie. »Ich habe für Geheimnisse allerlei übrig«, erklärte Mrs. Moore, »aber gar nichts für Kuddelmuddel.«
»Ein Geheimnis ist ein Kuddelmuddel.«
»Oh, meinen Sie das wirklich, Mr. Fielding?«
»Geheimnis ist nur die hochtönende Bezeichnung für Kuddelmuddel. Auf jeden Fall ist es sinnlos, darin herumzustochern. Aziz weiß ebenso gut wie ich, dass Indien ein einziger Kuddelmuddel ist.«
»Indien ein – oh, was für ein beunruhigender Gedanke!«
»Es wird nichts von einem Kuddelmuddel zu sehen sein, wenn Sie zu mir zu Besuch kommen«, sagte Aziz, etwas unsicher. »Mrs. Moore, und wer sonst noch anwesend ist –: ich lade Sie alle zu mir ein – bitte.«
Die alte Dame nahm dankend an. Ihr war der junge Arzt noch immer ausgesprochen sympathisch. Außerdem war sie aus einer ihr neuen Empfindung heraus, die halb Erschlaffung, halb Aufregung war, geneigt, jeden einmal eingeschlagenen Pfad weiter zu verfolgen. Miss Quested sagte aus einer gewissen Abenteuerlust zu. Auch sie war Aziz zugetan und war überzeugt, dass er ihr, wenn sie ihn erst ein wenig besser kannte, das Geheimnis des Landes erschließen werde. Sie freute sich über seine Einladung und bat ihn um seine Adresse.
Voll Grausen dachte Aziz an seine Behausung. Es war eine klägliche Bretterbude, in der Nähe eines etwas zweifelhaften Basars gelegen. Sie bestand im Grunde nur aus einem einzigen Raum, und der war obendrein noch von kleinen schwarzen Fliegen verseucht. »Oh, aber nun wollen wir lieber von etwas anderem reden«, rief er aus. »Ich wünschte, ich wäre hier zu Hause. Was für ein herrlicher Raum! Lassen Sie ihn uns eine kleine Weile gemeinsam bewundern. Diese Kurven hier am unteren Ende der Bogentüren – welche Zierlichkeit! Es ist die Architektur von Frage und Antwort. Mrs. Moore – hier befinden Sie sich tatsächlich in Indien – es ist mein voller Ernst.« Der Raum löste ihm die Zunge. Es war ursprünglich ein Audienzsaal, der im achtzehnten Jahrhundert für einen hohen Beamten angelegt worden war und der trotz seiner Holzwände Fielding an die Loggia de’ Lanzi in Florenz erinnert hatte. Kleine, nun im europäischen Stil ausgestattete Zimmer klammerten sich zu beiden Seiten daran fest, aber in der Mittelhalle war nichts von Tapeten oder von Glas zu sehen, und vom Garten her wehte es unaufhörlich herein. Man saß gewissermaßen im Freien, wie auf einer Bühne, unmittelbar unter den Augen der Gärtner, die auf die Vögel einbrüllten, und des Mannes, der den großen Teich gepachtet hatte, um Wassernuss darin zu züchten. Fielding verpachtete auch die Mangobäume – man ahnte nicht, wer gerade eintreten mochte –, und Tag und Nacht hockten seine Diener auf den Stufen der Vortreppe, um etwaiges Diebsgesindel abzuschrecken. Ja, es war wirklich ein schöner Raum, und der Engländer hatte ihn nicht entstellt, während Aziz in einer Anwandlung von westlichem Dekorationsbedürfnis Kitschbilder an die Wand gehängt haben würde. Und doch bestand auch nicht der geringste Zweifel, wer in Wahrheit Eigentümer des Saales war …
»Hier sitze ich und spreche Recht. Eine arme Witwe, der man das letzte Scherflein geraubt hat, kommt zu mir, und ich schenke ihr fünfzig Rupien, einer anderen hundert, und so fort. Ja, das würde ich wirklich gern.«
Mrs. Moore lächelte und dachte an das moderne Verfahren der Rechtsprechung, wie es in der Person ihres Sohnes verkörpert war. »Ich fürchte, Ihr Vorrat an Rupien wird bald erschöpft sein«, sagte sie.
»Aber keineswegs. Gott würde mir immer neue schenken, sobald er sähe, dass ich selbst welche wegschenkte. Immerzu schenken wie der Nawab Bahadur. Das tat auch mein Vater, und darum starb er so arm.« Und mit einer Gebärde den Raum umkreisend, bevölkerte er ihn mit Gerichtsschreibern und -beamten, die alle wohlgesinnt waren, weil sie vor so langer Zeit lebten. »Ja, hier würden wir also zu Gericht sitzen, schenkend und immer wieder schenkend – auf einem Teppich statt auf Stühlen, denn das ist der Hauptunterschied zwischen damals und heute, aber niemals würden wir einen Menschen bestrafen.«
Die beiden Damen nickten.
»Der arme Verbrecher – er sollte noch einmal davonkommen. Es wird nur noch schlimmer mit ihm, wenn er ins Gefängnis wandern und sich dort noch weiter verderben lassen muss.« Aziz’ Gesicht nahm einen ganz zärtlichen Ausdruck an – den Ausdruck eines Mannes, dem jede Art der Verwaltungstätigkeit fremd ist und der auch nicht begreifen kann, dass der arme Verbrecher im Falle eines Freispruchs nichts Eiligeres zu tun haben würde, als die arme Witwe von Neuem zu berauben. Er verspürte Zärtlichkeit allen Menschen gegenüber, ausgenommen ein paar Feinde der Familie, die er nicht als menschlich betrachten konnte: an diesen wollte er unbedingt seine Rache kühlen. Selbst den Engländern gegenüber war er zärtlich gestimmt. Er wusste im Grunde seines Herzens: sie konnten ja nichts dafür, dass sie so kalt und so querköpfig waren und mit ihrer Herrschaft einen Eisgürtel um sein Land gelegt hatten. »Keinen, keinen Menschen bestrafen wir«, wiederholte er, »und am Abend werden wir ein großes Tanz-Bankett veranstalten, und rings um den Teich werden hell leuchtend liebliche Mädchen stehen mit Feuerwerkskörpern in der Hand, und es soll eitel Festglanz und Freude herrschen bis zum folgenden Tag, an dem Recht gesprochen werden soll wie zuvor – fünfzig Rupien, hundert, tausend –, bis überall Frieden ist. Ach, warum haben wir nicht zu jenen Zeiten gelebt? – Aber bewundern Sie auch Mr. Fieldings Haus? Sehen Sie doch, wie blau die Säulen sind, und die winzigen Pavillons an der Veranda – wie nennt man sie doch? – dort, gerade über uns, sie sind gleichfalls blau. Betrachten Sie auch die Schnitzereien daran, und denken Sie, wie viel Zeit und Mühe sie einmal gekostet haben! Ihre kleinen Dächer sind geschwungen, um Bambus zu imitieren. So hübsch – und draußen am Teich wiegt sich der Bambus im Wind. Mrs. Moore! Mrs. Moore!«
»Ja?«, fragte sie lachend.
»Sie erinnern sich doch noch an den Bach, der an der Moschee vorüberfließt? Er kommt geradeswegs hierher und füllt auch die Teiche – wie geschickt das doch die früheren Kaiser eingerichtet haben! An dieser Stelle pflegten sie auf ihrem Weg nach Bengal zu rasten. Sie konnten nicht Wasser genug um sich haben. Wohin sie den Schritt auch lenkten: sie legten Springbrunnen, Gärten, türkische Bäder an. Ich war gerade dabei, Mr. Fielding zu sagen, ich hätte alles darum gegeben, ihnen zu dienen.«
Er hatte einen kleinen Irrtum begangen, was das Wasser betraf, denn kein noch so geschickter Kaiser hätte es dazu veranlassen können, hügelaufwärts zu fließen: zwischen der Moschee und Fieldings Haus lag eine nicht unbeträchtliche Bodensenke mitsamt der ganzen Stadt Tschandrapur. Ronny würde ihn deshalb aufgezogen haben, Turton würde den Wunsch danach verspürt und gleichzeitig unterdrückt haben, Fielding dagegen war selbst der bloße Wunsch fremd geworden. Er hatte längst sein Verlangen nach buchstäblicher Wahrheit verkümmern lassen – es war ihm im Allgemeinen nur noch um die Wahrheit der Gemütsverfassung, der Stimmung, zu tun. Was aber Miss Quested betraf, so nahm sie jedes der von Aziz geäußerten Worte für bare Münze. In ihrer Unwissenheit betrachtete sie ihn als das personifizierte Indien und kam nicht auf den Gedanken, dass sein Gesichtskreis begrenzt, sein Verfahren ungenau war und dass kein menschliches Einzelwesen Indien je zu verkörpern imstande gewesen wäre.
Er war nun ganz aufgeregt, schwatzte unverzagt drauflos und sagte sogar »verdammt«, wenn er sich mit seinen Sätzen verhedderte. Er erzählte von seiner beruflichen Tätigkeit, von den Operationen, die er mit angesehen oder selber ausgeführt hatte, und ging dabei derart ins Einzelne, dass Mrs. Moore einen kalten Schauder verspürte, während Miss Quested in alledem einen Beweis für seine Vorurteilslosigkeit erblickte. Daheim hatte sie Derartiges in fortschrittlicher gesinnten akademischen Kreisen zu hören bekommen, in denen man absichtlich kein Blatt vor den Mund nahm. Sie hielt Aziz für geistig unabhängig und für persönlich verlässlich und stellte ihn in Gedanken auf einen Sockel, auf dem er sich auf die Dauer nicht halten konnte. Gewiss fand er sich im Augenblick obenauf, aber durchaus nicht auf einem Sockel. Unsichtbare Schwingen hatten ihn emporgetragen, aber sobald er ins Flattern geriet, musste er unfehlbar abstürzen.
Bei der Ankunft Professor Godboles legte sich seine Erregung etwas, aber noch immer gehörte der Nachmittag ihm. Der Brahmane, höflich und undurchsichtig, gebot seiner Beredsamkeit nicht nur nicht Einhalt, sondern spendete ihr sogar Beifall. Er trank seinen Tee, ein wenig abseits von den Ungläubigen sitzend. Man hatte hinter ihm ein niedriges Tischchen aufgestellt, zu dem er sich hin und wieder halb umdrehte und auf dem er wie zufällig etwas zu essen vorfand, und die anderen gaben vor, von alledem nichts zu bemerken. Er war etwas ältlich und eingeschrumpelt, hatte einen grauen Schnurrbart und graublaue Augen, und seine Haut war so hell wie die eines Europäers. Er trug einen Turban in Gestalt eines blassvioletten Makkaroni-Auflaufs, Rock, Weste, dhoti und Socken mit Gamaschen. Die Farbe der Letzteren entsprach der des Turbans, und seine ganze äußere Erscheinung erweckte den Eindruck des durchaus Harmonischen – es war, als habe er die Errungenschaften des Westens sowohl wie des Ostens, und die geistigen nicht weniger als die materiellen, miteinander in Einklang zu bringen gewusst und als könne er selbst dieses Einklangs auch nicht mehr verlustig gehen. Die anwesenden Damen fanden ihn interessant. Sie hofften, er würde, Aziz ergänzend, von der Religion sprechen. Aber er begnügte sich damit, zu essen – zu essen und wieder zu essen, wobei er lächelte und sich offenbar hütete, die eigenen Augen wissen zu lassen, was die Hand tat.
Aziz kehrte endlich seinen Mogulenkaisern den Rücken und wandte sich Gesprächsthemen zu, die keinen verletzen konnten. Er beschrieb das Reifwerden der Mangofrüchte, erzählte, wie er als Kind, zur Regenzeit, zu einem großen Mangohain, der einem seiner Onkel gehörte, hinauszulaufen und sich dort an den Früchten gütlich zu tun pflegte. »Und dann wieder rasch nach Hause, von außen platschnass und von innen vielleicht von Bauchweh gepiesackt. Aber das war mir ganz egal. Alle meine Freunde hatten Bauchweh. Wir haben in Urdu ein Sprichwort: ›Was hat ein Unglück auch zu besagen, wenn wir alle unglücklich sind?‹, und es erweist sich als durchaus zutreffend, wenn man gerade Mangofrüchte gegessen hat. Miss Quested, warten Sie, bis die Mangofrüchte reif sind! Und warum wollen Sie sich nicht überhaupt gleich in Indien ansässig machen?«
»Ich fürchte, das kann ich nicht«, sagte Adela. Sie äußerte diese Bemerkung, ohne sich über ihre Bedeutung gleich Rechenschaft abzulegen. Für sie wie für die drei Männer schien sie zunächst lediglich auf die Tonart der sonstigen Unterhaltung abgestimmt zu sein, und erst nach Verlauf mehrerer Minuten, ja, einer halben Stunde, begriff sie, dass es eine sehr vielsagende Bemerkung gewesen war, die in erster Linie Ronny gegenüber am Platz gewesen wäre.