Unsere Liebe auf deiner Haut

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Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Unsere Liebe auf deiner Haut
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2021

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Elaine Lindsey

Titel der Originalausgabe:

»Free Hand«

Published by Arrangement with Elaine Lindsey

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Debora Exner

ISBN-13 (Print): 978-3-95823-848-0

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen

von Jutta Grobleben

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*den Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Dereks Leben wird von sorgfältiger Routine bestimmt. Dass neben seiner Arbeit als Tattookünstler im Irons and Works und den Bewältigungsstrategien für seine PTBS kein Platz für einen Partner ist, hat er beinahe schon akzeptiert. Als er eines Tages in dem kleinen Vorraum einer Bank eine Panikattacke erleidet, kommt ihm allerdings der gehörlose Basil zu Hilfe, der ihn von Anfang an fasziniert. Auch Basil kann den attraktiven Fremden nicht vergessen, doch er wurde schon einmal von einem Hörenden bitter enttäuscht. Wird er sein Misstrauen überwinden können und Derek eine Chance geben oder ist ihre aufkeimende Liebe zum Scheitern verurteilt?

Liebe Lesende,

wie ich es für gewöhnlich tue, wenn ich mich mit sensiblen Informationen oder Themen beschäftige, hier ein Vorwort für diejenigen, die es benötigen. Dieses Buch handelt von sensiblen Themen, die für manche Leser*innen nur schwer erträglich sind, und das Letzte, was ich will, ist, dass Leser*innen, die auf der Suche nach romantischer, leichter Unterhaltung sind, unerwartet auf Situationen stoßen, die ihnen unangenehm sind.

In diesem Buch beschäftige ich mich mit dem Leben mit PTBS, den Folgen von Traumata in der Kindheit und der immer noch vorhandenen Unterdrückung und Stereotypisierung, die taube Menschen und Menschen mit Behinderungen in ihrem alltäglichen Leben erfahren müssen. In diesem Buch wird von Antagonisten eine rohe, behindertenfeindliche Sprache benutzt, außerdem behandelt es Gedanken, Gefühle und Reaktionen eines Erwachsenen, der sich um ein Elternteil kümmern muss, das ihn misshandelt hat und dessen Leben sich dem Ende zuneigt.

Man darf nicht vergessen, dass nicht jeder mit einer Behinderung, mit Panikattacken, PTBS oder der Opfer von Misshandlungen wurde, dieselben Erfahrungen gemacht hat ‒ dies ist lediglich eine mögliche Darstellung dieser Dinge und erhebt nicht den Anspruch, sie im Ganzen zu repräsentieren.

Wie üblich mein Hinweis: Wenn diese Situationen für euch zu schwer zu verdauen sind, lasst dieses Buch bitte aus, denn eure seelische Gesundheit und euer Glück sind wichtiger und sollten an allererster Stelle stehen. Euch allen gebührt meine ewige Liebe und Dankbarkeit für eure Unterstützung und ich danke jedem Einzelnen von euch, dass ich es bis hierher geschafft habe.

Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch ein paar Begriffe erklären, die in diesem Buch verwendet werden.

1. Gehörloser: eine Person, die der Gehörlosengemeinschaft angehört.

2. gehörlos/taub: eine Person, der medizinisch das Hörvermögen fehlt

3. HoH: eine Person, die medizinisch gesehen als schwerhörig gilt, sich selbst aber möglicherweise als Gehörloser bezeichnet.

4. CODA: »Child of Deaf Adults« eine Person, die das Kind gehörloser Eltern ist. Hörende Codas sehen sich selbst oft entweder als Teil der Gehörlosengemeinschaft oder als Unterstützer, abhängig von der konkreten Gemeinschaft, der sie angehören.

Manche Codas sind ebenfalls gehörlos oder HoH.

Was ich noch ansprechen möchte, ist Basils Art zu schreiben. Die meisten Kinder mit Hörbehinderung lernen in der Schule die Standard-Grammatik, selbst wenn sie eine Gehörlosenschule besuchen, wo der Unterrichtsstoff größtenteils in Gebärdensprache vermittelt wird, doch es kann ermüdend sein, zwischen der Gebärdensprache und der Lautsprache zu wechseln, deshalb ist ein spezieller Satzbau entstanden, den viele taube Menschen, die für gewöhnlich hauptsächlich die Gebärdensprache benutzen, beim Schreiben, auch von Textnachrichten, benutzen. Dies bedeutet nicht, dass taube Menschen nicht verstehen, weniger intelligent sind oder keine korrekte Grammatik verwenden können. Es ist einfach Teil ihrer Kultur und ich habe beschlossen, dies in diesem Buch durch Basil darzustellen. Danke, dass ihr dieser Ansprache gelauscht habt… kleiner Scherz. Ich wollte diese Dinge einfach klarstellen, damit jemand, der keine Erfahrung mit der Gehörlosenkultur oder -gemeinschaft hat, die nötigsten Informationen hat, bevor er mit dem Buch beginnt. Ich hoffe, dass diejenigen unter euch, die über dieses Vorwort hinaus lesen, die Geschichte genießen und sich auf die restlichen Bücher der Serie freuen.

E.M. Lindsey

Die Wahrheit – dass die Liebe das ultimative und höchste Ziel ist, das man als Mensch anstreben kann. Dann begriff ich die Bedeutung des größten Geheimnisses, das menschliche Poesie und das menschliche Denken und Glauben zu vermitteln haben: Die Rettung des Menschen liegt in der Liebe und kommt durch die Liebe.

Viktor E. Frankl

Kapitel 1

»Ich bin überrascht, dass du den Schwanz deines Freundes lange genug aus dem Mund genommen hast, um dich nach deinem alten Herrn zu erkundigen.« Die Grausamkeit in dieser Stimme berührte Derek kaum noch, aber heute Abend war es anders. Er hatte verschlafen, war im Laden schwer gestürzt und die Arbeit war auch nicht gut verlaufen. Eine Kundin aus der Vorwoche war wütend in den Laden gestürmt, denn jemand hatte sich über ihr neues Tattoo lustig gemacht ‒ etwas, das sie sich aus dem Internet ausgedruckt und von ihm verlangt hatte, dass er es auf ihre Haut übertrug, trotz seiner Warnung, dass es besser wäre, wenn er auf der Grundlage des Ausdrucks ein Design entwickelte, statt das Bild einfach zu kopieren. Doch sie hatte darauf bestanden, dass er es dennoch tat, also hatte er geliefert. Denn das war sein Job. Und als es nicht so ausging wie erwartet, war das natürlich auch seine Schuld. Die Beleidigungen, die ihr über die Lippen gekommen waren, gingen ihm nicht aus dem Kopf, genau wie die seines Vaters es oftmals taten, und es war einfach… zu viel. »Was zum Teufel machst du überhaupt, Junge?«

Derek rieb sich mit der Hand über das Gesicht und verengte die Augen, weil sein Fenster langsam beschlug. Der Regen wurde stärker, während er sich seinen Weg durch die Straßen zur Bank bahnte. »Ich, äh… ich bin gerade unterwegs zur Bank, Dad. Hast du deine Medikamente genommen?«

»Fick dich, du kleines Stück Scheiße. Wer gibt dir das Recht, mir Fragen zu stellen? Für wen, zum Teufel, hältst du dich? Du stolzierst auf deinen kleinen Pride-Paraden wie ein gottverdammter Homo herum und ich muss mich dafür rechtfertigen, dass ich eine Schwuchtel zum Sohn habe, der auf direktem Weg in die Höll‒«

»Mr. Osbourne?«, ertönte eine sanftere Stimme, nachdem sie seinem Vater das Wort abgeschnitten hatte.

Derek fuhr auf den Parkplatz der Bank und holte tief Luft, bevor er der Schwester antwortete. »Hat er heute Abend seine Medikamente genommen?«

»Ein wenig zu spät. Es tut mir wirklich leid. Ich habe es erst erfahren, als er schon Ihre Nummer gewählt hatte«, erklärte sie ihm.

Derek seufzte leise. »Ist schon in Ordnung. Glauben Sie mir, ich habe schon Schlimmeres gehört.«

»Das kann im Endstadium der Zirrhose vorkommen. Das hat der Arzt Ihnen bestimmt erklärt. Dann sind sie… einfach nicht mehr sie selbst.«

Nur dass Dereks Vater vollkommen er selbst war, und es schien, als würde der alte Mann auch ein wütender, hasserfüllter, bigotter, alter Scheißkerl bleiben, bis seine Leber endlich versagte und er seinen letzten Atemzug tat. Aber das würde wahrscheinlich noch Jahre dauern. Es war für Derek die Hölle zu wissen, dass er jede Woche diese Anrufe ertragen musste und ihnen nicht entkommen konnte, auch wenn er selbst es so gewollt hatte. Als das Krankenhaus sowohl ihn als auch seinen Bruder gebeten hatte, als Betreuer für ihren Vater zu fungieren, hatte Sage bloß gelacht und aufgelegt. Derek hingegen hatte es aus irgendeinem Grund nicht über sich gebracht, Nein zu sagen. Vielleicht aus Selbsthass, vielleicht als Märtyrertum, er hatte sein Schicksal akzeptiert und ertrug es. Es war ja nicht so, dass der alte Mann ihm noch Schlimmeres antun konnte, als er es bereits getan hatte.

 

»Rufen Sie mich an, wenn es schlimmer wird«, sagte Derek zu ihr. »Und ich werde morgen mit dem Arzt sprechen und ihm von den Problemen mit der Medikation berichten.«

»Das ist gut, Mr. Osbourne. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

»Ihnen auch.« Derek legte auf und ließ sein Handy auf den leeren Beifahrersitz fallen. Er betrachtete den strömenden Regen, der an sein Fenster schlug. Die Bank war nur gut fünf Meter entfernt, aber es waren fünf Meter in sintflutartigem Regen, das Sahnehäubchen seines verdammten Tages. Sein Arm, auf den er gefallen war, weil Kat vergessen hatte, das Schild aufzustellen, dass der Boden nass war, tat immer noch weh und die wütende Stimme seines Vaters würde den ganzen Abend in seinem Kopf nachhallen, wenn er auch nur einen Moment Ruhe hatte. Er musste das Geld unbedingt einzahlen, damit er für die monatlichen Abbuchungen seiner Rechnungen keine horrenden Überziehungsgebühren bezahlen musste, aber bei dem Gedanken, deswegen vollkommen durchnässt zu werden, waren es ihm die 35 Dollar wirklich wert, die die Bank ihm für jeden Tag berechnen würde.

Er seufzte, lehnte die Stirn an das Lenkrad und murmelte erst ein paar Flüche, dann ein paar Gebete. »Na dann, Osbourne«, sagte er laut und nannte sich selbst beim Nachnamen, in der Hoffnung, sich dadurch zu motivieren, »schwing deinen Hintern aus dem verdammten Auto. Du kannst dich nachher immer noch abtrocknen und sogar den halben Becher Ben & Jerry's essen, den du noch im Gefrierschrank hast.«

Das war nicht ideal, aber es reichte. Er schnappte sich seine Autoschlüssel, nahm den Umschlag und steckte ihn unter sein T-Shirt, dann rannte er los. Auf halbem Weg durch den starken Regen fiel ihm ein, dass er sein Handy im Auto gelassen hatte, aber es würde nicht lange dauern. Einfach das Geld in den Schlitz des Geldautomaten schieben, dann konnte er diesen beschissenen Tag beenden.

In dem kleinen Raum, wo der Geldautomat in einer Ecke stand, war es zumindest warm. Die Bank-Götter waren zumindest dieses Mal auf seiner Seite und verhinderten, dass er sich verkühlte, während er eine zitternde Hand in die Tasche steckte und seine Geldbörse hervorholte. Zwar waren seine Finger steif, aber er schaffte es, seine Bankkarte herauszuziehen und in den Schlitz zu stecken.

Die Maschine klickte und im selben Moment schwang die Tür auf und ein Schwall eiskalter Luft traf ihn. Derek schaute über seine Schulter zu dem Mann, der gerade eingetreten war, seinen Schirm schüttelte und in der Nähe der Tür wartete, die sich wieder geschlossen hatte. Derek fühlte sich nur selten von anderen Leuten eingeschüchtert. Für gewöhnlich war er derjenige, vor dem andere Leute Angst hatten. Beinahe 1,90 Meter groß, 95 Kilo schwer, beide Arme mit Tattoos bedeckt. Die Ohrlöcher geweitet, immer einen grimmigen Gesichtsausdruck, was aber selten seine eigene Schuld war. Er gehörte zu den netteren Kerlen bei Irons and Works, das sah man ihm bloß nicht immer an.

Der Mann schien ihn allerdings nicht zu bemerken. Er hatte den Blick auf sein Handy gerichtet und wartete in gebührendem Abstand, bis Derek fertig war. Derek holte tief Luft und gab seine PIN ein, dann steckte er das Geld in den Automaten, bevor der Fremde auf die Idee kam, ihn auszurauben ‒ schließlich war es spät und sie befanden sich nicht gerade in einer sicheren Gegend. Der Automat piepte, was er sich als ein Dankeschön vorstellte, und spuckte seine Quittung aus. Er stopfte sie in seine Tasche und steckte seine Karte wieder ein, während er von dem Automaten zurücktrat, um dem anderen Mann Platz zu machen.

In dem gedämpften Licht konnte er ihn nun besser erkennen und sofort fiel ihm auf, wie attraktiv er war. Er war in einen dicken Mantel gehüllt, aber das Gesicht, das unter seinem hohen Kragen hervorschaute, war rund und voller weicher Konturen und trug ein natürliches Lächeln. Seine dunklen Augen zuckten kurz zu Derek und als ein Regentropfen an seinem Kinn herunterlief, verspürte Derek den starken Drang, ihn mit dem Daumen wegzuwischen.

Was zum Teufel war nur los mit ihm?

Er schüttelte den Kopf, um wieder zur Vernunft zu kommen, und drehte sich zur Tür um.

Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Es blitzte und sofort hallte ein Donnerschlag, und zwar so laut, dass die Fenster wackelten und der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Die Lichter flackerten, dann wurden sie in beinahe vollkommene Dunkelheit gehüllt. Das Einzige, was Derek sehen konnte, war der schwache Schein vom Handy des Mannes, und das einzige Geräusch war das Pochen seines panischen Herzschlags in seinen Ohren.

Er war nur noch wenige Zentimeter von der Tür entfernt, deshalb streckte er die Hand aus und zog daran. Als sie sich nicht rührte, versuchte er es erneut ‒ er drückte und zog und wurde immer hysterischer, denn anscheinend waren die automatischen Schlösser eingerastet und er saß fest.

Es war kein Geheimnis, dass Derek an Klaustrophobie litt. Als er bei Irons and Works angefangen hatte, hatte James versucht, ihm einen Streich zu spielen, indem er ihn in den Vorratsschrank eingeschlossen hatte. Zu dieser Zeit war Dereks PTBS am schlimmsten gewesen und bis zum heutigen Tag konnte er sich nicht richtig erinnern, was passiert war, nur dass er mit der Hand an der Tür ohnmächtig geworden und in Antonios Büro mit einem kalten Waschlappen im Nacken wieder zu sich gekommen war, während Katherine ihm leise und beruhigende Worte ins Ohr geflüstert hatte.

Er war anscheinend für James' blaues Auge verantwortlich, aber der Mann war zerknirscht gewesen und hatte sich mehrmals entschuldigt, was wahrscheinlich bedeutete, dass Antonio ihm ein wenig von Dereks Vergangenheit erzählt hatte. Etwas Derartiges war nie wieder vorgekommen und von da an wussten alle, dass die Tür zum Hinterzimmer offen bleiben musste, wenn Derek etwas aus dem Schrank holte, und Derek bekam immer ‒ immer ‒ die Kabine, die dem Tresen am nächsten lag.

Doch im Moment ging Derek nach und nach die Schritte durch, die seine Therapeutin ihm beigebracht hatte. Größtenteils, weil er mit einem fremden Mann an einem fremden Ort war, und das Letzte, was der Mann brauchen konnte, war mitzuerleben, wie Derek vollkommen die Fassung verlor. Er wurde nicht immer gewalttätig, aber er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, wenn er zusammenbrach, und er wollte diesem beschissenen Tag keine Anklage wegen Körperverletzung hinzufügen.

»Zehn«, murmelte er zu sich selbst und drückte beide Handflächen an die Glastür. »Neun. Acht. Sieben…« Er schluckte schwer, als seine Kehle eng wurde und seine Finger zu zittern begannen. »Sechs. Bitte, Gott«, flüsterte er. Er rief nicht oft eine Gottheit an, an die er seit seiner Kindheit nicht mehr glaubte, aber im Moment hatte er keine bessere Idee. »Fünf…«

Er verstummte, als eine Hand seinen Arm berührte, dann erschien ein helles Licht vor seinem Gesicht. Nein, kein helles Licht, das Display eines Handys. Es zeigte eine Notiz-App, auf der ein kurzer Satz zu lesen war. Du OK?

Derek schüttelte den Kopf. »Nein. Scheiße, tut mir leid. Ich bin so was von nicht okay. Ich kann nicht… wir sitzen hier fest und ich habe das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, und ich kann nicht…«

Der Fremde unterbrach ihn mit einem ungeduldigen Laut und zog sein Handy zurück, dann hörte er das leise Klicken der Tastatur des iPhones, während der Mann tippte. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis das Handy wieder in seinem Blickfeld erschien. Tut mir leid, kann nicht verstehen. Gehörlos. Ich bin Basil. Bitte schreiben.

Dir helfen, OK?

Derek starrte auf die Worte und versuchte, sie in seinem verwirrten Gehirn zu verarbeiten, aber er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Seine Hände lagen weiterhin am Fenster und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er kniff die Augen zu, als ein vertrautes Schwindelgefühl ihn überkam und der Raum begann, sich zu neigen.

Aber gerade, als er dachte, dass er den Verstand verlieren würde, legte eine Hand sich an sein Brustbein. Er wurde vorsichtig vom Fenster weggedreht und der Mann ‒ Basil ‒ nahm Dereks rechte Hand und legte sie auf sein Brustbein. Derek wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber dann spürte er, wie die Brust des Mannes sich unter langsamen, gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte. Basil zählte einen Rhythmus mit, indem er ihm auf den Arm klopfte.

Eins. Zwei. Drei.

Eins. Zwei. Drei.

Derek entließ langsam die Luft aus seiner Lunge, atmete ein, als Basils Brust sich weitete, und hielt den Atem für eine, zwei, drei Sekunden an. Dann atmete er zusammen mit dem Fremden aus ‒ einem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, aber der ihn irgendwie davon abhielt, vollkommen zusammenzubrechen.

Eins. Zwei. Drei.

Sein Kopf klärte sich allmählich, nach und nach, und der Raum hörte auf, sich zu bewegen. Plötzlich schämte er sich, dass er so die Kontrolle verloren hatte. Er war immer noch eingesperrt, der Strom war immer noch ausgefallen und das Gewitter wütete immer noch, aber Derek wurde ruhiger und kehrte langsam wieder in die Realität zurück.

»Scheiße«, sagte er laut. »Es tut mir wirklich leid.« Dann verstummte er, denn ihm fiel wieder ein, was der Mann geschrieben hatte. Im schwachen Lichtschein des Displays konnte er dessen verwirrten Gesichtsausdruck erkennen.

Es verging ein weiterer Moment, in dem Basil tippte, dann reichte er Derek erneut das Handy und trat einen Schritt zurück. Panikattacke? Früher ich auch haben. Dein Name wie?

Derek runzelte die Stirn, als er die Formulierung sah, und wünschte sich sehr, er hätte sich die Mühe gemacht, mehr Gebärden zu lernen. Ein paar Wörter kannte er, die alle mit Babys zu tun hatten, denn Antonio und Katherine hatten einen Anfängerkurs besucht, nachdem bei ihrer Tochter ein Hörverlust festgestellt worden war. Das gesamte Team kannte genug Gebärden, um Jasmine zum Lachen zu bringen und zu verstehen, wenn sie ihre Flasche, einen Keks oder zu ihren Eltern wollte. Aber damit hatte es sich. Tony und Kat lagen ihnen in den Ohren, dass sie einen Anfängerkurs in ASL belegen sollten, aber das hatten sie alle vor sich hergeschoben, was er nun bereute.

Da er keine andere Möglichkeit hatte zu antworten, tippte er ein paarmal die Zurück-Taste und gab dann eine Antwort ein. Mein Name ist Derek. Ich leide an Klaustrophobie und bekomme Panikattacken, wenn ich unerwartet in engen Räumen eingeschlossen bin. Es tut mir wirklich leid, wenn ich dir Angst gemacht habe.

Er gab das Handy zurück und sah, wie Basils Gesichtszüge ein wenig weicher wurden, während er die Worte las. Dann schaute er auf und tat Dereks Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. Er deutete auf den Boden neben der Tür und machte ein Zeichen, das Derek erkannte. ›Sitzen.‹ Als Derek nickte und sich hinsetzte, wirkte Basil überrascht. Im Licht des Handydisplays sah Derek, dass Basil mehrere Gebärden machte, aber er erkannte nur zwei. ›Gebärdensprache, du?‹

Derek bedeutete, dass er das Handy wiederhaben wollte. Die kleine Tochter von meinem Boss verliert ihr Gehör. Ich kenne ein paar Wörter, aber nicht viele. Nachdem er das Handy zurückgegeben hatte, damit Basil seine Nachricht lesen konnte, demonstrierte er: ›Milch, Keks, Mom, Dad, sitzen, Nein.‹

Bei dem letzten musste Basil lachen, ein tiefer Laut, der direkt aus seiner Brust zu kommen schien. Irgendwie fand Derek das passend. Er erwiderte das Lächeln und ärgerte sich, dass er den Mann nicht richtig erkennen konnte, dennoch war es beruhigend, dass er da war. Zwar war es furchtbar, hier eingeschlossen zu sein, aber es half, dass er nicht allein war. Draußen tobte immer noch das Gewitter und machte keine Anstalten nachzulassen, aber sie würden ja nicht ewig hier festsitzen.

Morgen früh würde die Bank irgendwann öffnen. Oder eine Sicherheitsfirma würde vorbeikommen und sie entdecken. Irgendetwas. Er konnte mit Basils Telefon sogar die Polizei rufen, wenn es hart auf hart kam. Aber im Moment war er in Sicherheit. Er trocknete allmählich, hier drin war es immer noch warm und es gab nichts, was ihn umbringen konnte.

Dereks Gedankengang wurde unterbrochen, als Basil einen fragenden Laut von sich gab, ihn am Arm berührte und ihm das Handy reichte. Tattoo? Was bedeuten?

Derek schaute zu seinem linken Arm, den er um seine angezogenen Knie geschlungen hatte, um sich zu beruhigen. Diese Frage stellte man ihm oft, aber interessanterweise hatten die meisten seiner Tattoos keine tiefere Bedeutung. Es waren Bilder, die ihm einfach gefielen und die er dauerhaft auf seiner Haut tragen wollte. Manche waren Cover-ups, die Tattoos aus seiner Jugend überdeckten, die eine schlechte Linienführung oder misslungene Schattierungen gehabt hatten oder mit Nähnadel und Tinte selbst gestochen waren. Manche waren neu und ihre Farben leuchtend, andere waren schon ein wenig verblasst.

 

Ihre wahre Bedeutung war Rebellion. Das Sagen über seinen eigenen Körper zu haben, nachdem er jahrelang von Menschen misshandelt worden war, die ihn eigentlich lieben sollten. Er und sein Zwillingsbruder Sage waren als Söhne eines strengen und autoritären Politikers aufgewachsen, der es für das Beste hielt, jedes Mal den Stock zur Hand zu nehmen, wenn einer von ihnen auch nur den geringsten Fehler machte. Derek mochte enge Räume nicht, weil er den Großteil seiner prägenden Jahre stundenlang in eine winzige Gartenhütte eingesperrt verbracht hatte, bis sein Vater der Meinung war, dass er seine Lektion gelernt hatte.

Derek und sein Bruder hatten stets hochgeschlossene Hemden und ordentlich gebügelte Hosen getragen und nicht eine einzige Haarsträhne hatte bei ihnen falsch gelegen. Von außen betrachtet war er ein gut angezogener, disziplinierter Junge mit großen Ambitionen gewesen, dem eine glänzende Karriere bevorstand und aus dem Dr. Osbourne werden würde, egal, in welchem Berufsfeld. Sein Gehorsam und seine Kleidung verbargen sämtliche Sünden seines Vaters und er wagte nicht, auch nur einen falschen Schritt zu machen.

Aber dann hatte er es doch getan. Mit 15 hatte er es nicht mehr ertragen und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Und so hatte er das Auto seines Vaters gestohlen und war vom örtlichen Sheriff angehalten worden, der die Angelegenheit mit »So sind Jungs nun mal« abgetan hatte. Dabei war ihm der verängstigte Ausdruck in Dereks Gesicht nicht entgangen, als sein Vater, grausame Vorfreude kaum verhohlen, mit ihm gelacht hatte. Erst nachdem er 36 Stunden am Stück ohne Essen und Trinken in der Gartenhütte eingeschlossen gewesen war, hatte ein panischer Sage die Regeln gebrochen und ihn befreit.

In dieser Nacht waren sie weggelaufen. Sie hatten Sages gesamte Ersparnisse genommen und hatten nicht zurückgeblickt. Derek wusste, dass sein Vater die Polizei angerufen und gefleht hatte, dass sie seine Jungs nach Hause brachte, aber Derek war sich sicher, dass sich der Polizeichef bei der Suche nach ihnen keine allzu große Mühe gegeben hatte.

Sie waren in Oklahoma City gelandet und hatten sich als Tagelöhner verdingt, um über die Runden zu kommen. Zusammen mit einer Gruppe anderer Ausreißer hatten sie in einem überraschend netten Lagerhaus gewohnt und dort hatte Derek sein erstes selbst gemachtes Tattoo von einem Jungen namens Pepper bekommen, der die Nadel über der offenen Flamme eines Campingkochers sterilisiert hatte. Es war das einzige Tattoo, das Derek niemals überstechen lassen würde. Es zeigte eine kaum erkennbare, schiefe Hand auf dem mittleren Glied seines rechten Mittelfingers, die den Mittelfinger hob.

Jedes einzelne Tattoo, das darauf gefolgt war, war ein an seinen Dad gerichtetes Fick dich gewesen. Als er den Anruf bekommen hatte, dass sein Dad im Krankenhaus lag ‒ Leberversagen hatte sein Leben drastisch verkürzt und dafür gesorgt, dass er Pflege benötigte ‒, hatte er ihn besucht. Danach war er in den Laden zurückgekehrt, hatte sich auf Antonios Liege gelegt und ihn gebeten, es solle wehtun. Es war eine Krähe auf der Innenseite seines Ellenbogens geworden, die vollkommen schwarz war, abgesehen von einer grellroten Schattierung am Auge.

Seine Tattoos waren der Beweis dafür, dass er überlebt und es hinter sich gelassen hatte. Dass er sich von einem misshandelten Kind zu einem Tätowierer und Vollzeit-Studenten entwickelt hatte, der fest entschlossen war, seine Werke in Galerien, Studios und den Händen von Menschen zu sehen, die ihn wirklich verstanden.

Da wurde Derek bewusst, dass er zu lange mit einer Antwort gezögert hatte, deshalb tippte er mit zitternden Fingern: Ich hatte eine schwere Kindheit und die Tattoos erinnern mich daran, dass ich sie überlebt habe. Ich arbeite in einem Tattoostudio namens Irons and Works. Kennst du es?

Basil las über seine Schulter hinweg mit, aber statt das Handy zurückzunehmen, lächelte er bloß und schüttelte den Kopf.

Wenn du jemals ein Tattoo willst, komm zu mir. Aber ich bin auch Künstler. Darf ich dir meine Galerie zeigen? Als Basil zustimmend nickte, gab Derek die Adresse seiner Internetseite ein und öffnete seine Online-Galerie. Am liebsten zeichnete er Dinge aus der Natur ‒ er liebte den Realismus, aber er wollte Dinge malen und zeichnen, die voller Leben waren. Obwohl die meisten seiner Werke, die Tiere zeigten, mit Ölfarben gemalt waren, war sein Lieblingsbild eine Kohlezeichnung eines Oktopus, der sich um einen Felsen umringt von Korallen geschlungen hatte. Es war komplett in Schwarz gehalten, aber aus irgendeinem Grund erschien ihm dieses Bild immer am lebendigsten. Es hing an seinem Platz im Laden, aber er wünschte sich mehr als alles andere, dass jemand es genauso schätzte wie er.

Vielleicht hätte es ihn nicht überraschen sollen, dass Basils langer Finger auf das Display tippte, damit der Oktopus auf dem gesamten Bildschirm zu sehen war, dennoch machte Dereks Herz einen Satz in seiner Brust. Da Basil sich so dicht zu ihm beugte, nahm Derek einen berauschenden und überwältigenden Duft wahr, als würde man den Kühlraum eines Floristen betreten, um die gekühlten Sträuße zu betrachten.

Er wagte einen Blick und sein Herzschlag beschleunigte sich, als er Basils Gesicht sah. Seine Augen waren geweitet, die Lippen leicht geöffnet und eine Locke schwarzen Haares fiel in seine Stirn, während er das Bild studierte. Als er sich zurückzog, öffnete Derek wieder die Notiz-App. Das ist mein Lieblingsbild, aber bisher wollte niemand es kaufen.

Du verkaufen wollen, tippte Basil als Erwiderung.

Derek zuckte mit dem Schultern. Ich will, dass jemand meine Arbeit liebt und schätzt. Ich werde es vermissen, wenn es verkauft ist, aber ich kann warten. Die richtige Person wird kommen.

Basil lächelte ihn an und lehnte sich vorsichtig an seine Schulter, um nach dem Handy zu greifen. Wunderschön. Ich Blumensträuße mache, mit Schwester in Laden verkaufen. Älter. Herrisch.

Derek lachte auf und schüttelte mitfühlend den Kopf. Ich habe einen Zwillingsbruder, der ist fünf Minuten älter und genauso herrisch.

Sieht aus wie du, wollte Basil wissen.

Derek wünschte, er hätte sein Handy bei sich, denn ja, Sage war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Abgesehen von ein paar Tattoos und Sages kürzeren Haaren waren sie sich zum Verwechseln ähnlich. Aber nachdem es zum dritten Mal vorgekommen war, dass Dereks Eroberung für den Abend aus Versehen seinen Bruder geküsst hatte, hatte Derek darauf bestanden, dass Sage etwas unternahm, damit man sie auf den ersten Blick auseinanderhalten konnte. Sage hatte sich für einen Hai entschieden, der an seinem Hals hinauf bis zu seinem linken Ohr verlief. Derek hatte ihm das Bild gestochen und falls es ein wenig linkisch aussah, beschwerte Sage sich nie.

Wir sind eineiige Zwillinge, tippte er. Bevor er noch etwas schreiben konnte, gab es einen weiteren Blitz und einen Donnerschlag, der so nah klang, dass es ihm in den Ohren dröhnte. Als Basil ebenfalls zusammenzuckte, drehte Derek sich zu ihm um. Konntest du das hören?

Basil schüttelte den Kopf, dann legte er die Handfläche auf den Boden und tippte: Spüren. Geräusche Vibration machen.

Ein weiterer Donnerschlag, und dieses Mal spürte Derek das Grollen unter sich. Es lenkte ihn so weit ab, dass er nicht wieder in Panik verfiel. Zwar fühlte er das bedrohliche Gefühl in seinem Rückgrat, aber er weigerte sich, es anzuerkennen. Denn dass Basil sich in der leeren Bankfiliale an ihn drückte, war genug, um ihn zu beruhigen. Damit hätte er nie im Leben gerechnet. Da er die Panik im Zaum halten konnte, merkte er, wie sich nach dem anstrengenden Tag Erschöpfung in ihm ausbreitete. Seine Glieder wurden schwer und seine Augen brannten. Er wollte ein warmes Essen und sein gemütliches Bett und wollte diesen Tag einfach vollkommen vergessen.

Na ja, jedenfalls größtenteils. Denn dieser Teil war möglicherweise das Beste, was ihm seit Langem passiert war, und dieser Gedanke war irgendwie entsetzlich.