Loe raamatut: «Unsere Liebe auf deiner Haut», lehekülg 3

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»Ich habe Kat angerufen. Sie hat heute Morgen zwei Termine, aber sie sagt, sie kann dir May vor deinem ersten Kunden abnehmen, wenn du sie zu ihr in den Laden bringst.«

»Ich rufe sie an«, sagte Derek, »aber das sollte klappen. Und wenn ich die Termine absagen soll…«

»Alter, nein«, sagte Sam hastig. »Du wirst deswegen keine Termine absagen. Wenn Kat es aus irgendeinem Grund nicht schafft, kann Mat aushelfen. Er sagte, dass er sich heute nur um Laufkundschaft kümmert. Wir kriegen das schon hin, außerdem will ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen und nach Hause kommen.«

»Okay«, sagte Derek. Er verschwieg Sam, dass er sich über einen Grund gefreut hätte, seine Termine heute abzusagen. Durch die Panikattacke war sein Kopf immer noch etwas benebelt. Zwar konnte er damit seinem Job nachgehen, aber eine Pause würde ihm guttun. »Fahr vorsichtig und komm nach Hause, sobald du kannst. Du weißt doch, dass sie bei uns in guten Händen ist.«

»In den besten«, versicherte Sam ihm mit warmer Stimme. »Gib ihr einen Kuss von mir und sag ihr, dass sie brav sein soll. Ich melde mich, wenn ich auf dem Rückweg bin.«

»Alles klar. Bis später.« Derek beendete den Anruf, dann öffnete er seine Nachrichten-App und schickte seinem Bruder eine kurze Textnachricht.

Derek: Wo steckst du?

Sage: Auf der Arbeit, du fauler Sack. Wieso?

Derek: Ich hab May bis heute Nachmittag. Sam wird wieder gepiesackt. Mittagessen?

Sage: Auf jeden Fall. Ich vermisse den Zwerg. Komm gegen 12 vorbei. Ich helfe Kat mit Jazzy, dann können wir zusammen was holen.

Derek schaute auf die Uhr und sah, dass es gerade kurz nach acht war, was bedeutete, dass er noch genug Zeit hatte, sie zu wecken, ihr Frühstück zu machen und mit ihr zu spielen, sodass sie sich nicht wie ein Monster aufführen würde, wenn er sie mit in den Laden nahm. Er wand sich unter ihr hervor und lehnte sie an die Sofakissen, dann ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an. Als die Kanne voll war, kam Maisy in die Küche geschlurft und ihre nackten Füße patschten auf den Fliesen. Sie rieb sich mit ihrer kleinen Faust die Augen und hob den anderen Arm, damit er sie hochnahm.

Derek zögerte nicht sie hochzuheben und setzte sie auf seine Hüfte, dann ging er mit ihr zum Gefrierfach, um ihre Waffeln zu holen.

»Hast du Hunger, Zwerg?«

Sie zuckte mit den Schultern und gähnte. »Ich will Schokowade.«

Er unterdrückte ein Lachen und sagte: »Wie wäre es, wenn ich die hier toaste und dir dazu Butter und Sirup gebe?«

Sie rümpfte die Nase und wand sich in seinen Armen. »Neeein. Will sie so!« Sie grapschte nach der offenen Packung und bevor Derek es verhindern konnte, schnappte sie sich eine der gefrorenen Scheiben und kaute sofort darauf herum. Schockiert ließ er sie zu Boden gleiten und starrte sie an, dann nahm er sein Handy und schickte Sam eine Nachricht.

Derek: Dieses sogenannte Kind, das du aufziehst, isst gerade eine gefrorene Waffel.

Sam: LOL Ja, das macht sie so. Ist schon in Ordnung. Brich deswegen keine Diskussion mit ihr vom Zaun, Mann, glaub mir.

Derek: Eklig, aber was soll’s.

Nur weil er wusste, dass Sam Maisy nie etwas tun lassen würde, was gefährlich für sie wäre, ließ er sie weiter ihr gefrorenes Frühstück essen. Doch er ignorierte, wie sie mit ihren kleinen Gremlin-Zähnen die Waffel zerriss, und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Kaffee.

Als sie satt war, rannte sie aus dem Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen, und Derek machte sich eine Schale Müsli zurecht, um Energie zu tanken. Er blieb im Türrahmen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer stehen und schaute aus dem Fenster. Der Morgen war grau, die Straße immer noch nass vom Regen, aber es schien aufzuklaren. Was bedeutete, dass der Tag schwül und nicht sehr angenehm werden würde, da der Frühling schneller zum Sommer wurde, als ihm lieb war, aber es bedeutete ebenfalls, dass sein Semester beinahe zu Ende war, und darüber war er wiederum nicht traurig.

Es fühlte sich komisch an, in seinem Alter mit lauter Achtzehn- und Neunzehnjährigen in einem Klassenzimmer zu sitzen, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass daran nichts verkehrt war. Sein Bruder und er hatten einen schwierigen Start gehabt und er hatte eben länger als Sage gebraucht, bis er große Menschenmengen ertragen konnte und es schaffte, die Schule, seine Kunst und seine Kunden unter einen Hut zu bringen.

Dennoch war es schwer und er genoss die Freiheit, die er im Sommer hatte, in vollen Zügen, aber er hatte das Gefühl, dass er allmählich Fortschritte machte. Selbst Situationen wie am Vorabend, durch die er sich vor einem Jahr noch um zehn Schritte zurückgeworfen gefühlt hätte, belasteten ihn nicht mehr auf die gleiche Weise. Das hatte bestimmt mit Leila zu tun, seiner Therapeutin, die ihm Bewältigungsmechanismen beigebracht hatte, die auch tatsächlich funktionierten. Aber es war auch ein Zeichen seiner eigenen Stärke und seines Wunsches, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Er würde immer unter einem Trauma leiden, aber er würde nicht zulassen, dass es sein Leben bestimmte.

»DeDe?«, fragte Maisy und riss Derek aus seinen Gedanken, indem sie an seinem T-Shirt zupfte.

Er lächelte sie an. »Ja, Kleines?«

»Können wir draußen pielen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wollen wir zu dem Teich die Straße runtergehen und die Enten füttern?«

Sie sprang vor Begeisterung auf und ab, dann stolperte sie über ihre eigenen Füße, als sie hastig versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. »Ja! Ja, ich will… da will ich hin!«

Kapitel 3

Nach einer Stunde konnte Derek Maisy überzeugen, sich von den Enten zu verabschieden, und das auch nur, weil er ihr versprach, dass Jasmine da sein würde, wenn sie zum Studio kamen. Er parkte hinter dem Gebäude und trug sie durch den Hintereingang hinein. Sie fanden Katherine in ihrem Raum vor, wo sie sich anscheinend auf ihren nächsten Kunden vorbereitete.

Sie packte das Tablett mit ihren Utensilien gerade mit Folie ein und schaute mit einem Grinsen auf. »Hey, Kleine! Willst du mich besuchen?«

»Ja«, sagte Maisy und wand sich aus Dereks Armen. Doch er hielt sie fest, damit sie in dem sauberen Zimmer nichts verunreinigte, aber Katherine zog schnell ihre Handschuhe aus und kam heraus, um das kleine Mädchen in die Arme zu nehmen und ihr einen Kuss auf die Wangen zu geben.

»Gehen du und DeDe mit Jazz und Onkel Sage zum Mittagessen?«

»Ich will Chicken Nuggets«, verkündete Maisy, wie erwartet.

Derek verdrehte lächelnd die Augen, dann nahm er das Mädchen wieder zurück. »Und vielleicht etwas Grünes«, fügte er hinzu. »Ist mein Bruder hier?«

Kat nickte und wies mit dem Kinn zu der Schwingtür, die in den offenen Raum führte. »Er packt gerade Jasmines Tasche. Tony ist heute beim Arzt, also ist Sage wortwörtlich mein Lebensretter.«

Da runzelte Derek die Stirn. »Geht es ihm gut?«

»Ja«, sagte sie und schniefte. »Er hat einen eingewachsenen Zehennagel, aber er wollte nicht auf mich hören, als es vor zwei Wochen angefangen hat, sich zu entzünden. Deshalb muss er nun die Schmerzen ertragen, wenn der Nagel entfernt wird, weil er es anscheinend besser wusste als seine Frau.«

Derek wich zurück. »Da halte ich mich raus.«

Kat lachte. »Weise Entscheidung. Ich habe mir deinen Terminplan angesehen. Ich könnte dir die Mädchen um zwei Uhr abnehmen. Du hast um drei jemanden, richtig?«

Derek nickte. »Ja, es ist nur eine Beratung. Danach Konturen bei einem meiner Stammkunden. Das wird um die zwei Stunden dauern. Danach um halb sechs einen Termin für Schattierungen, was den Rest des Nachmittags in Anspruch nehmen wird. Wieso? Brauchst du mich?«

»Nee«, meinte sie und winkte ab. »Tony wird wahrscheinlich weiterarbeiten wollen, wenn er zurück ist. Du weißt doch, wie er ist, wenn seine Planung durcheinandergerät.«

»Daran ist er selbst schuld«, sagte Derek pflichtschuldig.

Kat zwinkerte ihm zu und winkte ab, dann ging er durch die Türen, während er immer noch Maisys Hand hielt. Ein Schopf aus lavendelfarbenem Haar neben kurzen, spitzen schwarzen Locken sagte ihm, dass Emily und ihr Mann Marcus gemeinsam an ihren Skizzen arbeiteten, und er entdeckte Mat, der sich über seinen Zeichentisch neben seinen bereits verpackten Materialien beugte.

»Hey, Mann«, sagte Derek zu Mat und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Mat schaute lächelnd auf und kitzelte Maisy unter dem Kinn. »Hey, Kleine. Hast du mich vermisst?«

»Nein«, sagte sie freiheraus.

Mats Augen weiteten sich schockiert und er sah aus wie ein getretener Hund, was Derek einfach zu niedlich fand. Mat und er standen sich wahrscheinlich am nächsten, denn sie hatten gemeinsam mit der Ausbildung angefangen und hatten einen ähnlichen Stil. Manche ihrer Kunden kamen nur zu ihnen beiden. Mat gehörte nicht zu der Art Mensch, an die Derek gewöhnt war ‒ er war ruhig und ging Konflikten aus dem Weg. Doch allmählich war Derek mit ihm warm geworden und abgesehen von Sam war er der Mensch, dem Derek die meisten seiner Probleme anvertraute.

Dabei half es, dass Mat selbst Probleme hatte. Vor Jahren war er in einen Autounfall mit einem betrunkenen Fahrer verwickelt gewesen und hatte sechs Monate im Koma gelegen. Nachdem er wieder aufgewacht war, hatte er praktisch alles neu erlernen müssen, wenn auch nicht durchweg erfolgreich. Während seines Krankenhausaufenthaltes war er wieder auf die Füße gekommen und hatte wieder gelernt zu sprechen, aber geschriebene Wörter und Zahlen konnte er immer noch nicht verstehen ‒ er meinte, dass das alles wie das Alphabet von Außerirdischen aussehen würde, und keine Therapie hatte es geschafft, das rückgängig zu machen. Aber er konnte zeichnen. Das war ein wichtiger Teil seiner Therapie in der Reha-klinik gewesen.

Zum Zeitpunkt des Unfalls war er verheiratet gewesen, aber der Stress war seiner Frau zu viel geworden und sie hatte ihn verlassen, als er gerade aus der Klinik entlassen worden war. Nach der Scheidung war er nach Fairfield gezogen ‒ er konnte große Städte nicht ertragen, aber er brauchte auch die Möglichkeit, in der Menge verschwinden zu können. So hatte er Tony und Kat kennengelernt und so nahm alles seinen Gang. Der Laden von Tony und Kat war perfekt für einen tätowierten Künstler, dessen Gehirn ihm nicht erlaubte, seine eigene Buchhaltung zu machen oder sich um seine Terminplanung zu kümmern. Er passte zu Irons and Works, als wäre er schon von Anfang an dabei. Sein Privatleben behielt Mat größtenteils für sich und niemand drängte ihn, nach vorn zu blicken, obwohl Derek nicht umhinkonnte, sich zu fragen, ob sein Freund allmählich unter der Last der Einsamkeit zusammenbrach. Doch es stand ihm nicht zu, sich dazu zu äußern, deshalb behielt er seine Sorgen für sich.

»Sie ist schlecht gelaunt«, erklärte er und schob Maisy in Richtung der Schwingtür, die zur Lobby führte. »Na los, geh zu Sage«, sagte er zu ihr. »Er wartet mit Jazzy auf dich.«

Maisy erstrahlte und rannte in die Lobby, wo Dereks Bruder das kleine Mädchen freudig begrüßte. Als er sicher war, dass sie in guten Händen war, drehte er sich wieder zu Mat und lächelte.

»Nimm das nicht persönlich, Mann.«

»Tue ich nicht«, erwiderte Mat, aber sein Tonfall sagte etwas ganz anderes. »Wie geht es dir? Du hast wieder diesen Blick.«

Derek seufzte. Es gefiel ihm gar nicht, dass man ihm seine Gefühle so sehr ansehen konnte, aber er log seine Familie im Laden nicht an. »Ich hatte eine harte Nacht. Hab in einem dieser Geldautomatenräume festgesessen, als der Strom ausgefallen ist. Da hatte ich eine schlimme Panikattacke.«

Mat stand auf und berührte Derek an der Schulter. »Scheiße, alles okay? Soll ich dir heute ein paar deiner Kunden abnehmen? Ich kann einige Termine verlegen, wenn du etwas Zeit brauchst.«

Derek lächelte ihn an. »Danke, aber es geht schon. Ich war nicht allein. Der Typ, der mit mir eingeschlossen war, hat mich abgelenkt. Und auf May aufzupassen, hilft mir mit dem Rest. Sam musste nach Denver, um für diese Idioten mal wieder Männchen zu machen, deshalb ist sie mehr oder weniger für den Rest des Tages bei mir.«

Mat zog die Augenbrauen zusammen und sein Blick verdüsterte sich. »Ernsthaft?«

»Ernsthaft«, sagte Derek seufzend. »Eine weitere psychiatrische Beurteilung, und er sagt, dass Mays Sozialarbeiterin ‒ oder ihr Boss oder so ‒ will, dass er noch einen Kurs macht, um zu beweisen, dass er sich trotz seiner Behinderung um ein Kind kümmern kann.«

»Diese verdammten Wichser«, knurrte Mat.

»Da hast du recht.« Derek löste seine zu Fäusten geballten Hände, als seine Muskeln begannen, vor Anspannung zu brennen. »Aber ich habe versprochen, nichts zu sagen. Ich vermute, dass sie noch ein paar Schlipsträger herschicken werden, um sicherzugehen, dass wir nicht mit Drogen dealen oder Jungfrauen opfern. Da sollten wir vorbereitet sein.«

Mat verdrehte die Augen. »Ich sage Tony Bescheid, wenn er wieder da ist.«

»In Ordnung.« Derek lachte, als Jasmines freudiges Kreischen den stillen Raum erfüllte. »Ich sollte mich auf den Weg machen, bevor die Prinzessinnen eine Revolution anzetteln, weil es zu lange dauert, bis sie ihr Mittagessen bekommen. Arbeitest du heute lange?«

»Die ganze Nacht. Sage hat mich gebeten, ihm heute die Laufkundschaft abzunehmen. Ich bin also da.«

»Ich kann dir nachher was mitbringen, wenn du willst. Schreib mir einfach eine Nachricht.« Derek legte die Hand an Mats Nacken und drückte ihn kurz, dann trat er zurück und ging zu der niedrigen Schwingtür. Er fand seinen Bruder vor, der Jasmine am Fußknöchel fünf Zentimeter über der weichen Ledercouch hielt, während das kleine Mädchen freudig quietschte. »Wenn Tony das sieht, schneidet er dir die… Walnüsse… ab und überreicht sie dir in einem Glas.«

Sage lachte auf, dann drehte er das Mädchen wieder um und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Tony vertraut mir voll und ganz. Aber egal. Wer hat Hunger?« Dabei gebärdete er mit einer Hand und sowohl Jasmine als auch Maisy klatschten in die Hände, während er sie hinausführte.

Basil ignorierte seine Schwester bewusst, während er sich ganz auf seine Blumenarrangements konzentrierte. Im Frühling hatten sie am meisten zu tun ‒ es gab den Muttertag, Schulabschlüsse, Hochzeiten und religiöse Feiern, weshalb sie von morgens bis abends ausgelastet waren. Dass er auf diese Weise sein Geld verdienen konnte, dämpfte seinen Unmut darüber, dass er in so einer kleinen Stadt wie aus dem Bilderbuch leben musste. Sie war peppig und modern, aber es war eine typische Kleinstadt, was in seinen Augen bedeutete, dass die Einwohner sich übergroße Mühe gaben, so zu tun, als hätten sie kein Problem mit Gehörlosigkeit. Es amüsierte ihn immer wieder, dass hörende Leute glaubten, ihr Gebrüll würde ihm helfen, sie zu verstehen, oder wenn sie lautlos sprachen und ihre Worte übertrieben artikulierten, oder wie sie einfach nicht akzeptieren wollten, dass er nicht von den Lippen las.

Ein paar Dinge verstand er, aber die Leute wollten einfach nicht einsehen, dass es ihm, der von Geburt an gehörlos war, schwerfiel, das Konzept der Sprache zu verstehen. Er fand Englisch verwirrend und frustrierend, um ehrlich zu sein. Es gab einfach zu viele Worte, die man auch einfach mit einem Gesichtsausdruck darstellen konnte, von den Zeitformen, den Pluralformen, den Konjunktionen und Artikeln gar nicht erst zu reden.

Er hatte den Wunsch seiner Schwester sich anzupassen nie wirklich verstanden. Sie waren beide von gehörlosen Eltern in der Gehörlosengemeinschaft großgezogen worden, aber das hatte wohl damit zu tun, dass sie gern unter Leuten war. Sie hasste es, in Gespräche nicht einbezogen oder generell außen vor gelassen zu werden. Seine Eltern hatten ihm immer gesagt, dass er sich deswegen keine Sorgen machen sollte, dass sie ihren Weg schon finden würde. Deshalb versuchte er, sich nicht betrogen zu fühlen, als sie begann, ihr Leben größtenteils verbal zu leben, nur selten ihre Hörgeräte herausnahm und sich an Universitäten an der Westküste beworben hatte.

Wahrscheinlich wäre sie in L.A. geblieben und hätte sich mit den Leuten, die ihr ans Herz gewachsen waren, ein Leben aufgebaut, wenn ihre Eltern, ihre Tante und ihr Onkel nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen wären und ihnen den Blumenladen hinterlassen hätten. Er fragte sich, ob sie ihn dafür hasste, weil er sie gebeten hatte, ihm dabei zu helfen, den Laden wieder zum Laufen zu kriegen.

Er hätte es ihr nicht verdenken können. Es ärgerte ihn selbst, dass sie letzten Endes recht gehabt hatte, als sie sagte, dass er Hilfe von jemandem brauchen würde, der mit dem Großteil der Einwohner der Stadt kommunizieren konnte. Und er wusste es sehr zu schätzen, dass sie geblieben war, denn allein bei dem Gedanken, mit einem Fremden zusammenarbeiten zu müssen, drehte sich ihm der Magen um.

Er vertraute Menschen einfach nicht. Einmal hatte er sich auf jemanden eingelassen ‒ ein einziges Mal ‒, aber die Narbe, die er davongetragen hatte, hatte dafür gesorgt, dass er sich nicht traute, es wieder zu tun. Ama hielt ihm immer wieder vor, dass er sich so verschloss und es nicht einmal mehr versuchte, denn sie selbst hatte sich nie entmutigen lassen, nicht einmal, wenn man sie gedemütigt hatte.

Aber Basil war nicht so.

Er hatte Chad an der Universität kennengelernt. Chad arbeitete damals als Praktikant bei einem Senator in D.C., wohnte aber noch in der Nähe des Campus, denn er hatte dort eine günstige Wohnung zur Untermiete gefunden. Zu der Zeit war er regelmäßig in dem Coffeeshop zu Gast, in dem Basil gearbeitet hatte. Er war attraktiv, wie Basil auch heute noch zugeben musste, und hatte einen charismatischen Charme, den man nur schwer ignorieren konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Basil nie ein Auge auf hörende Männer geworfen, aber er erlebte, wie Chad sich mit Leichtigkeit in dem Laden zurechtfand, der größtenteils von Gehörlosen geführt wurde, und sich nicht beschwerte, dass man sich dort nicht auf ihn einstellte. Er hatte sogar nach und nach ein paar Gebärden aufgeschnappt.

Basil hatte auch bemerkt, wie Chad ihn beobachtete ‒ es war einfach offensichtlich, wie der Blick von Chads tiefblauen Augen ihm jedes Mal folgte, wenn er von der Theke zur Eismaschine und zur Gebäckvitrine ging. Und ihm entging ebenfalls nicht, dass Chad manchmal wartete, bis Basil an der Kasse war, bevor er etwas bestellte. Er war wie bezaubert gewesen, als Chad, nervös wie ein neugeborenes Fohlen, zum ersten Mal seine Hand gehoben und mit zitternden Fingern seinen Namen buchstabiert hatte.

Seine Freunde hatten ihn ermutigt und es hatte sie auch nicht abgeschreckt, dass Chad einer von denen war ‒ den Hörenden, die ihn außerhalb ihrer isolierten Gemeinschaft auf dem Campus wie einen Menschen zweiter Klasse behandelten. Chad gab sich Mühe, hatten sie zu ihm gesagt, und er war heiß. Außerdem war es offensichtlich, dass er an Basil interessiert war.

Also hatte Basil sorgfältig ›Geh mit mir aus‹ gebärdet und dabei die Worte mit den Lippen geformt, damit Chad ihn besser verstehen konnte. Er hatte auf Wolke sieben geschwebt, als die Antwort ›Ja‹ gelautet hatte.

Dann waren sie ein Paar geworden. Basil war jung und dumm gewesen, denn er fand es nicht schlimm, dass Chads Fähigkeiten in der Gebärdensprache niemals über die Grundzüge einer Bestellung im Coffeeshop hinausgingen. Oder dass er Basil drängte, besser im Lippenlesen zu werden und eine Sprachtherapie zu beginnen.

Basil wurde immer noch übel, wenn er daran dachte, dass er zwar die Therapie begonnen hatte, es aber eigentlich für falsch hielt, weshalb er es seinen Eltern und Amaranth verschwiegen hatte.

Er schlief schlecht, seine Noten sackten ab und er war unglücklich. Doch das spielte keine Rolle, denn sein Freund war heiß und stand auf ihn und er war etwas Besonderes. Er hatte eine Art an sich, Basil anzusehen, als wäre er der einzige Mensch im Raum, und das reichte, um einen Zwanzigjährigen um den Finger zu wickeln, der in Liebesangelegenheiten noch nie viel Glück gehabt hatte.

Aber es ging so langsam den Bach hinunter, dass Basil es erst an einem Abend bemerkte, als sie sich mit den anderen Praktikanten, mit denen Chad zusammenarbeitete, zu Bier und Pizza trafen. Basil hatte sich in der Sprachtherapie und beim Lippenlesen unheimlich große Mühe gegeben, trotzdem fiel es ihm schwer, deshalb blieb er für sich. Das war vielleicht auch besser so, denn dadurch fühlte Chad sich sicher, als er begann, vor seinen Freunden über Basil zu sprechen, als könnte dieser unmöglich verstehen, was vor sich ging.

»Leute, es ist zum Totlachen. Er versteht mich kaum. Ich muss reden wie ein Bekloppter, damit er checkt, dass er mir bloß ein Bier aus dem Kühlschrank holen soll. Aber das Beste ist, dass ich ihm allen möglichen Scheiß erzählen kann und er kapiert es nur, wenn ich etwas sage wie Baby, ich liebe dich.« Da hatte er sich Basil ein wenig zugewandt, aber es hatte keine Rolle mehr gespielt.

Basil hatte alles verstanden. Genau wie er das Lachen verstanden hatte, das so laut durch den Raum gehallt war, dass er mit den Handflächen an den Armlehnen des Sessels die Vibrationen spüren konnte. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass er in der Sprachtherapie mehr Erfolg gehabt hätte, damit er Chad in seiner eigenen Sprache sagen konnte, was er ihn mal konnte, aber er entschied sich für eine allgemein verständliche Geste.

Das Bier, das er Chad über den Kopf geschüttet hatte, war nur ein Bonus, nachdem er ihm den Mittelfinger gezeigt hatte. Er brauchte keine gesprochenen Worte, um dem Kerl zu sagen: Fick dich. Ich will dich nie wiedersehen.

Er hatte lange Zeit gegrübelt, was schlimmer war: dass er fast zwei Jahre lang mit einem Haufen hörender Arschlöcher in einem Raum gesessen und nicht verstanden hatte, dass sie sich über ihn lustig machten, oder dass Chad nicht versucht hatte, ihn am Gehen zu hindern. Er war einfach in diesem Appartement voller Grasqualm zurückgeblieben, während Basil hinausgestürmt war und geweint hatte ‒ nur dieses eine Mal ‒, bevor er seine Sachen gepackt hatte und verschwunden war.

Er hatte auf der Couch eines Freundes geschlafen und jeden Tag sein Handy kontrolliert in der absurden Hoffnung, dass Chad versuchen würde, Kontakt aufzunehmen, um sich inständig zu entschuldigen. Nachgegeben hätte er nicht, er wollte bloß eine Bestätigung, dass Chad tatsächlich an ihm als Person interessiert gewesen war und ihn nicht nur als eine Art Experiment gesehen hatte, um herauszufinden, wozu er den tauben Spasti zu seiner eigenen Belustigung bringen konnte.

Dazu war es nie gekommen. Chad hatte nie versucht, ihn zu kontaktieren, und war danach auch nie wieder im Coffeeshop aufgetaucht. Vielleicht hatte er einfach Angst gehabt, krankenhausreif geschlagen zu werden ‒ wozu es wahrscheinlich gekommen wäre, also war es so wohl am besten.

Irgendwann hatte Basil versucht, sein Leben weiterzuleben, und einen Masterabschluss in Informatik gemacht. Danach hatte er als Online-Mitarbeiter bei einem technischen Kundendienst gearbeitet, obwohl er dafür vollkommen überqualifiziert war, doch niemand hatte einen Gehörlosen einstellen wollen.

Dann waren seine Eltern, seine Tante und sein Onkel gestorben und so war er unverhofft der Besitzer eines Blumenladens geworden, der demjenigen, in dem Amaranth und er aufgewachsen waren, so ähnlich war, dass es beinahe wehtat. Bis zum heutigen Tage verspürte er einen schmerzhaften Stich in seinem Inneren, wenn er den Kühlraum betrat und den Blumenduft wahrnahm, der immer im Haar seiner Mutter und an ihrem Rock gehaftet hatte, egal, wie oft sie sie gewaschen hatte. Aber das war immer noch besser, als sein ganzes Leben lang vor einem Computerbildschirm zu sitzen, ohne Hoffnung auf etwas Besseres.

Denn zumindest gehörte der Laden ihm. Es war harte Arbeit, die ihm einiges abverlangte, aber er musste sich nicht mit den Chads dieser Welt herumschlagen, denn Amaranth hatte zugestimmt, sein Puffer zu sein. Es war ihm ein wenig peinlich, sich deswegen auf seine große Schwester verlassen zu müssen, aber letzten Endes war es das wert.

Alles wäre bestens gewesen, wenn Derek nicht in sein Leben geplatzt wäre und Gefühle in ihm geweckt hätte, die er nie wieder empfinden wollte. Er erwachte an diesem Morgen mit dem Gefühl von Verlust und Bedauern. Verlust, weil er, obwohl er in einer Kleinstadt lebte, Derek noch nie zuvor gesehen hatte und es wahrscheinlich auch nie wieder tun würde. Bedauern, weil er sich auf eine Weise geöffnet hatte, wie er es nie wieder hatte tun wollen.

Er hatte das Bild gekauft, ohne großartig darüber nachzudenken, denn er konnte den sanften Ausdruck in Dereks Augen nicht vergessen, als er die Seite aufgerufen hatte, um ihm etwas zu zeigen, das ihm wichtig war. Es war lächerlich, dieses seltsame, freudige Gefühl in seinem Bauch, das er empfand, wenn er daran dachte, dass er etwas besitzen würde, das ein Teil von Derek war ‒ das er aus seinem Inneren zu Papier gebracht hatte ‒, aber es war dennoch da.

Beinahe hätte er die Bestellung storniert, als er seine E-Mails überprüfte, aber dann hatte er gemerkt, dass er Amas PayPal-Account benutzt hatte, weshalb Derek ihn wahrscheinlich sowieso nicht erkennen würde. Als Lieferadresse war der Laden angegeben und er glaubte nicht, dass er Derek seine Nachnamen genannt hatte. Daher konnte er einen Teil des Mannes, der ihm nicht aus dem Kopf ging, für sich behalten, ohne ein Risiko einzugehen.

Es war eigentlich ideal.

Und damit konnte er leben.

Gegen elf Uhr knurrte sein Magen, deshalb streckte er den Kopf um die Ecke und sah, dass Ama sich ihr Handy vor die Nase hielt und etwas auf ein Blatt Papier notierte, das sie von dem Display ablas. Er wartete, bis sie fertig war, dann ging er in den glücklicherweise leeren Verkaufsraum.

›Fertig?‹, fragte sie, als er ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Er schüttelte den Kopf. ›Ich mache Mittagspause. Möchtest du auch etwas?‹

Sie dachte einen Moment nach, dann wedelte sie mit den Händen. ›Egal, was. Du weißt doch, was ich mag. Aber bring mir auf dem Rückweg einen Kaffee mit. Ich brauche einen Koffeinkick.‹

Basil seufzte und schaute zu den Bestellungen auf dem Ladentisch. Er entdeckte drei neue. ›Wir sind fast überbucht‹, erinnerte er sie. ›Ich mache keine Mitternachtsschichten mehr.‹

Sie warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu und er wusste, was sie damit meinte. Die hektische Jahreszeit ließ sie die ruhige überstehen und hielt sie in den schwarzen Zahlen, damit die harte Arbeit ihrer Tante und ihres Onkels nicht umsonst war. Er hatte die beiden nicht gut gekannt, was eigentlich traurig war. Rachel war die einzige Schwester seiner Mutter gewesen ‒ sie hatte gemeinsam mit ihrer Schwester und Basils Dad an der Universität Botanik studiert. Rick war dort als Gastsprecher aufgetreten ‒ ein hörender Mann, der sowohl britische als auch amerikanische Gebärdensprache fließend beherrschte und gerade seinen Doktortitel in Pflanzengenetik gemacht hatte. Nun reiste er um die Welt, um seine neuesten Erkenntnisse zu teilen. Aus irgendeinem Grund hatte Rachel in ihrem letzten Studienjahr die Uni verlassen und war mit Rick in Fairfield gelandet. Das hatte zum Bruch zwischen ihr und Basils Mutter geführt und sie hatten sich erst wieder angenähert, als er und Amaranth bereits erwachsen gewesen waren.

Er war erstaunt gewesen, dass Rachel ihn und seine Schwester als würdig erachtet hatte, ihren Laden weiterzuführen ‒ und das nicht nur, weil sie außer ihnen keine Familie mehr gehabt hatte, sondern sie hatte in ihrem Testament geschrieben, dass sie ihnen gern mehr gegeben hätte, aber sonst nichts hatte, was sie vererben konnte.

Basil hatte die Forschungsarbeiten seiner Eltern auf dem Dachboden des Hauses verstaut, in dem er und Amaranth nun lebten, zusammen mit den Sachen von Rachel und Rick, um das Haus irgendwie zu ihrem eigenen zu machen. Trotzdem konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass er mit Geistern zusammenlebte. Mit Geistern seiner eigenen Vergangenheit, Geistern derjenigen, die er geliebt und die ihn verlassen hatten, Geistern seines verlorenen Mutes und seines verlorenen Lebenswillens. Aber er wollte trotzdem, dass das hier funktionierte, und fühlte sich verpflichtet, den Traum von Rachel und Rick am Leben zu halten.

Deshalb gab er Amaranths verärgertem Gesichtsausdruck nach und ging zur Tür hinaus, um sich für einen weiteren langen Abend zu stärken.

Als Amaranth und Basil vor zwei Jahren nach einer viermonatigen Trauerzeit die Türen von Wallflowers wieder geöffnet hatten, waren die Anwohner erleichtert, aber auch verwirrt gewesen. Es war ein Beweis dafür, wie gut Rachel sich angepasst hatte, dass niemand sonderlich besorgt schien, dass der Laden von einem gehörlosen Mann geführt wurde, der sich weigerte, ihre Art der Kommunikation auch nur in Erwägung zu ziehen, und von einer Frau mit mörderischem Blick, die den starken Akzent einer gehörlosen Person hatte und mehr redete, als den Leuten lieb war. Das lag wohl in der Familie ‒ er hegte die Vermutung, dass Rachel genauso gewesen war, und oft genug bereute er, dass er sie nie besser kennengelernt hatte. Wenn sie seiner Mutter ähnlich war, hätte er sie sehr geliebt.

Er riss sich aus den melancholischen Gedanken und klopfte seine Taschen ab, um sicherzugehen, dass er sein Handy dabeihatte, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Lieblings-Sandwichladen, der sich in einem kleinen, offenen Einkaufszentrum befand. Vor zwei Jahren war es schon genauso klein und idyllisch gewesen ‒ ein Bekleidungsgeschäft, eine Weinbar, ein Sushi-Restaurant und eine Reinigung. Dann der Sandwichladen und ein koreanisches Restaurant in der Nähe des Tattoostudios, das wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten dort war.

Erst da wurde Basil bewusst, dass es in Fairfield wohl nur dieses eine Tattoostudio gab, und er bekam Panik. Denn wo sonst sollte Derek als Tätowierer arbeiten? Vielleicht in Denver ‒ das lag über die 25 nur eine halbe Stunde entfernt, oder 45 Minuten, wenn man eine etwas malerischere Route bevorzugte. Außerdem konnte er sich einen Mann wie Derek in Denver gut vorstellen. Aber bei seinem Glück hielt sich die Person, die zum ersten Mal seit Langem dafür gesorgt hatte, dass er etwas empfand, ganz in seiner Nähe auf.

Tasuta katkend on lõppenud.