Unsere Zukunft auf deiner Haut

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Unsere Zukunft auf deiner Haut
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Deutsche Erstausgabe (ePub) Januar 2021

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Elaine Lindsey

Titel der Originalausgabe:

»Blank Canvas«

Published by Arrangement with Elaine Lindsey

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Debora Exner

ISBN-13 (Print): 978-3-95823-864-0

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen

von Jutta Grobleben

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*den Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Sam sitzt schon seit seiner Jugend im Rollstuhl und hat sich größtenteils mit den Umständen seines Lebens arrangiert. Mit seiner Pflegetochter Maisy und seinen Freunden aus dem Tattoostudio Irons and Works hat er sich eine kleine Familie aufgebaut. Doch Maisys Adoption gestaltet sich wegen seiner Behinderung schwieriger als gedacht und dann taucht auch noch der attraktive, rücksichtsvolle Niko in seinem Leben auf. Sam ist fest davon überzeugt, keine Zeit für einen Partner zu haben, doch Niko lässt nicht locker und steht ihm unbeirrbar zur Seite, während das Chaos über Sam hereinbricht. Und Sam muss sich eingestehen, dass er Nikos Schulter zum Anlehnen vielleicht tatsächlich brauchen könnte…

Liebe Leser*innen,

ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um euch meinen tief empfundenen Dank für eure Unterstützung dieser Reihe auszudrücken. Free Hand (dt. Unsere Liebe auf deiner Haut) wurde in der Gemeinschaft der Leser*innen und Autor*innen dieses Genres auf eine Art und Weise angenommen, mit der ich nie gerechnet hätte. An dieser Idee habe ich lange gearbeitet und zu wissen, dass die Leute beim Lesen genauso viel Spaß hatten wie ich beim Schreiben, fühlt sich wie ein großer Erfolg an.

Die Charaktere in Buch zwei sollten niemanden überraschen, denn sie wurden bereits vorgestellt und die Leser*innen freuen sich schon auf ihr Happy End. Im zweiten Kapitel von Free Hand habe ich mich in Sam verliebt und es ist mir schwergefallen, darauf zu warten, seine Geschichte aufzuschreiben, auch wenn es sich letzten Endes gelohnt hat.

Besonders möchte ich mich bei Jay für deine Hilfe bedanken, weil du mir Informationen darüber geliefert hast, wie es ist, als schwuler Mann mit einer Rückenmarksverletzung zu leben, und für deine wunderschöne Liebesgeschichte. Ich bin dir unendlich dankbar, dass ich dich ausfragen durfte, und allein durch deine Unterstützung wurde aus Sam ein vielschichtiger Charakter, der hoffentlich so lebensecht ist, wie es mir möglich war. Wenn ich jemals nach Dublin komme, kannst du dich darauf verlassen, dass ich dir und deinem Ehemann einen Besuch abstatten werde.

Für all die Sportenthusiasten unter euch, wenn ich jemals einen Lieblingssport hätte, wäre es vermutlich Eishockey. Ich habe ein Lieblingsteam (die Sharks), ein heimliches Lieblingsteam (ausgeglichen zwischen den Predators und den Habs) und ein wirklich geheimes Lieblingsteam (kann ich nicht verraten!) ‒ und ja, ich liebe den tollen Hockey-Hintern von Tyler Seguin, denn tun wir das nicht alle? Ich bin keinesfalls ein Experte, was diesen Sport angeht, daher sind meine Recherchen und Erfahrungen mit Eishockey nicht perfekt. Bitte seid nachsichtig mit allem, was von der Realität abweicht. Das Gleiche gilt für die rechtlichen Aspekte. Ich bin keine Juristin, Anwältin oder habe in sonst irgendeiner Weise mit dem Justizwesen zu tun. Meine Informationen zu diesem Thema stammen entweder von Recherchen auf Google oder vagen Vermutungen, weil Ähnlichkeiten mit Gerichtsserien vorhanden waren.

Wie üblich erhebt keiner dieser Charaktere den Anspruch, alle Betroffenen zu repräsentieren. Sie sind Individuen ‒ manche basierend auf Erfahrungen aus dem echten Leben ‒ und sollen auf diese Weise interpretiert werden. Keine Geschichte einer Person gleicht allen anderen.

Da ich gern Triggerwarnungen ausspreche, bitte nehmt zur Kenntnis, dass in diesem Buch ein großer Schwerpunkt darauf liegt, wie es ist, mit dem Jugendamt zu tun zu haben, wenn man eine Behinderung hat. Ich habe viele tolle Leute kennengelernt, die für das Jugendamt arbeiten, aber es ist keinesfalls perfekt und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist Realität. Colorado, wo diese Reihe angesiedelt ist, hat erst vor Kurzem ein Gesetz verabschiedet, das verhindern soll, dass die Behinderung einer Person bei Adoptionen, Pflegefamilien, Vormundschaft und Fällen, in denen das Jugendamt involviert ist, eine Rolle spielt. Davor war es möglich, dass gegen Eltern aufgrund ihrer Behinderung ermittelt wurde und dass sie sogar das Sorgerecht verlieren konnten. In vielen Staaten der USA ist das immer noch der Fall. Die Aufgabe des Jugendamtes ist es, Kinder zu beschützen, aber wie einer meiner Charaktere feststellt, steht es nicht immer auf der richtigen Seite.

Wenn dieses Thema für euch zu schmerzhaft ist, zögert nicht, ein anderes meiner Bücher auszuwählen oder sogar mich auf Facebook zu kontaktieren, damit ich euch andere tolle Autor*innen empfehlen kann, die viele wundervolle Werke veröffentlicht haben.

Wenn ihr immer noch lest, dann freue ich mich darauf zu hören, wie es euch gefallen hat. Ich weiß zu schätzen, dass ihr eure Zeit opfert, um meine Bücher zu lesen. Ohne euch wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.

Alles Liebe,

Elaine xx

Kapitel 1

Ein Teil von Sam würde sich immer fragen, ob das Schlimmste an seinem Unfall war, dass er aufwachte und seine Beine nicht mehr bewegen konnte, oder die Reaktion seiner Eltern darauf. Er hatte eine Woche im künstlichen Koma gelegen, aber er war sich ziemlich sicher, dass die Krankenschwestern seinen Eltern nicht gesagt hatten, dass man ihn langsam aufwachen ließ. Er kam immer wieder zu sich und obwohl seine Augen sich noch nicht öffnen wollten, bekam er die Gespräche um sich herum mit.

»Sie wollen mir also sagen, dass mein Sohn für den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben wird? Er wird nie wieder laufen, Football spielen oder irgendwem von Nutzen sein?«

»Mr. Braga, es ist verständlich, dass Sie aufgebracht sind, aber diese Einstellung wird Ihrem Sohn nicht helfen, wenn er aufwacht. Er braucht die Unterstützung seiner Familie, um etwas zu erreichen.«

»Was zum Teufel soll der Junge denn erreichen, wenn er sein ganzes Leben im Rollstuhl sitzt?« Die Stimme seines Vaters klang empört, angewidert, ängstlich. »Als Nächstes sagen Sie mir noch, dass er eine Pflegerin braucht, um seine Pisse und Scheiße sauber zu machen. Ich meine, wovon reden wir hier? Windeln für Erwachsene?«

»Wir werden das Ausmaß seiner Einschränkungen erst erfahren, wenn er wach ist und der Heilungsprozess beginnt. Es gibt viele Rehabilitationszentren mit einer großartigen Erfolgsrate, in denen Menschen mit Rückenmarksverletzungen geholfen wird.«

»Und Sie erwarten, dass ich dafür bezahle?«

Danach schlief Sam wieder ein. Er vergaß die Worte seines Vaters nicht, aber in diesem Moment stand er zu sehr unter dem Einfluss von Medikamenten, um sich daran zu stören. Dann wachte er fünf Tage später wieder auf und ihm wurde bewusst, dass von der Hüfte abwärts nichts mehr da war. Kein Gefühl, keine Bewegung, als wäre er auf Hüfthöhe durchgeschnitten worden. Doch er konnte seine Beine, seine Füße und seine Zehen sehen. Er konnte sie sehen und sein Gehirn wusste noch, wie sie sich bewegen sollten, aber keine noch so große Anstrengung brachte auch nur das kleinste Wackeln hervor.

In den nächsten Tagen folgten massenhafte Erklärungen, die sein fünfzehnjähriges Gehirn nicht verarbeiten konnte. Irgendetwas von einer inkompletten Lähmung und dass er zwar im Moment nichts fühlen konnte, das aber nicht immer so bleiben musste. Die Ärzte und Schwestern erklärten ihm, dass man nicht vorhersagen konnte, was die Zukunft bringen würde, nur dass sein bisheriges Leben, wie es vor dem Unfall gewesen war, unwiderruflich vorbei war.

Eine harmlose Spritztour mit seinen bekloppten Freunden ‒ denn was sonst konnte man in einem Loch wie White Beach, Alaska schon tun ‒ hatte seine gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Er konnte es in den Augen seiner Eltern sehen. Er hatte etwas Besseres als sie werden sollen. Er sollte den amerikanischen Traum leben. Erfolgreicher, intelligenter, reicher sein. Einfach… mehr. In seiner Kindheit hatten seine Eltern ihm immer wieder gesagt, dass er nicht auf den Ölfeldern arbeiten würde wie sein Dad oder sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob hangeln wie sein Granddad. Er würde aufs College gehen und etwas aus sich machen. Und seine Frau würde nicht für einen Hungerlohn Hotelzimmer putzen.

 

Er sollte den amerikanischen Traum leben. Doch dank einer dummen Entscheidung waren seine Träume ruiniert worden, genau wie seine linke Hüfte, sein rechter Fuß und seine untere Wirbelsäule.

Er war kein Running Back mehr. Er konnte überhaupt nicht mehr rennen. Er war ein Junge im Rollstuhl, der lernen musste, sich einen Katheter in den Schwanz zu schieben, damit er sich im Unterricht nicht bepinkelte. Er war der Junge, der seinen Verdauungstrakt jeden Morgen stimulieren musste, indem er sich zwei Finger in den Arsch steckte, denn seine Muskeln waren nicht mehr stark genug, um zu scheißen wie früher. Er war der Junge, der sechs Wochen lang nicht zur Schule gehen konnte, nachdem er aus der Reha zurückgekehrt war, weil die Türen nicht breit genug waren und die Treppen keine Rampen hatten. Zwar gab es einen Aufzug, doch der war seit einer Ewigkeit nicht gewartet worden, denn er war zum letzten Mal benutzt worden, als der Quarterback sich beim Homecoming-Spiel den Knöchel gebrochen hatte, was zehn Jahre vor seiner Zeit passiert war.

Wenigstens hatte er seinen Status an der Schule nicht verloren. Stattdessen waren seine Mitschüler ganz scharf darauf, von sich behaupten zu können, mit dem Typen befreundet zu sein, dessen Beine nicht mehr funktionierten. Im letzten Schuljahr wurde er zum Abschlussballkönig gewählt und drei Seiten im Jahrbuch handelten davon, welche Inspiration er doch war. Eines Abends hatte er die Seiten angestarrt und ein paar Zitate seiner Freunde aus dem Footballteam gelesen, die erzählten, wie sehr seine Stärke sie inspirierte. Wen interessierte da schon, dass heute Morgen sein Katheter verrutscht war und er im Badezimmer den ganzen Boden vollgepinkelt hatte. Sein Gleichgewichtssinn war noch nicht gut genug, um es aufzuwischen, deshalb hatte er wie ein Kleinkind, das sich in die Hose gemacht hatte, auf seine Mom warten müssen. Aber klar, welch Inspiration.

Er hatte das Jahrbuch in den Mülleimer gestopft und es mit dem Whiskey seines Dads getränkt, den er in der Nacht zuvor gestohlen hatte, weil seine Beine einfach nicht aufhören wollten zu krampfen und die Schmerzmittel einen Dreck halfen. Er dachte nicht nach, als er das Ding in Brand setzte. Es interessierte ihn nicht, als der Feueralarm losging und seine Mom schrie und versuchte, seinen beinahe zu breiten Rollstuhl durch die beinahe zu schmale Zimmertür zu schieben, bevor das gesamte Haus in Flammen aufging.

Er sah den leeren Ausdruck auf den Gesichtern seiner Eltern, nachdem sie das Feuer gelöscht hatten. Er hörte die Erschöpfung in ihren Stimmen, als sie ihm sagten: »Geh einfach ins Bett. Wir reden morgen darüber.« Normalerweise hätte er einfach auf dem Sofa geschlafen, doch das konnte er nicht mehr, denn es war zu schmal und er fiel jedes Mal herunter, wenn er es versuchte. Deshalb saß er nun in seinem Zimmer fest, das noch feucht war und nach verbranntem Fotopapier und Feuerlöscher stank, und wo der schwarze Fleck an der Wand ihn erbarmungslos daran erinnerte, dass nichts in Ordnung war.

Sie würden am Morgen nicht darüber reden. Das wusste er. Denn er hatte mit angehört, wie sie im Wohnzimmer versucht – und versagt – hatten, mit gedämpften Stimmen zu sprechen. Er hatte die Qual in der Stimme seiner Mutter gehört, während sie geweint hatte. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte kein behindertes Kind.«

Und das Mitleid für sie in der Stimme seines Vaters, als er erwiderte: »Ich weiß, Schatz. Und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

Sam glaubte zu verstehen, warum manche Leute einfach ihre Pillen nahmen und alle hinunterschluckten, als spielte nichts auf der Welt eine Rolle, außer dass es endlich ein Ende hatte. Aber ein Teil von ihm wollte leben ‒ er wollte etwas finden, wodurch er sich wieder lebendig fühlte, größtenteils, um es diesen beiden Menschen heimzuzahlen, die ihm eigentlich einen Grund zu leben hätten geben sollen. Er gab vor, die Überraschung und die Erleichterung in ihren Augen nicht zu bemerken, als er ihnen erzählte, dass er von der University of Colorado 5000 Kilometer entfernt ein volles Stipendium erhalten hatte.

Er gab vor, nicht zu bemerken, wie gern ihm seine Mutter beim Packen half und wie enthusiastisch sein Vater dafür sorgte, dass sein Auto für die lange Fahrt quer durch das Land gerüstet war.

Und er gab vor, nicht zu bemerken, dass sie ihm nicht sagten, er solle sie oft anrufen und an den Feiertagen nach Hause kommen. Aber das war in Ordnung. Wirklich. Es war in Ordnung, verdammt.

Für Sam änderte sich erst im zweiten Studienjahr etwas, als er einen Job im Buchladen annahm und ein wütender Kerl mit einem Stapel Bücher und einem Gesichtsausdruck hereinkam, als wäre er bereit, in den Krieg zu ziehen.

Der Typ ließ beinahe alle Bücher in Sams Schoß fallen, als er ihn erkannte. »Heilige Scheiße. Samuel Braga. Der Footballstar von White Beach.«

Natürlich kannte Sam den Mann. Sein Name war Antonio und er war drei Jahre älter als Sam. Sie hatten in der gleichen Straße gewohnt, ihre Väter hatten auf denselben Ölfeldern gearbeitet und sie hatten den Großteil ihres Lebens nebeneinanderher gelebt. Tony hatte schon lange nicht mehr dort gewohnt, als Sams Pick-up sich überschlagen, einen Hügel hinuntergerollt und im Graben liegen geblieben war. Das war deutlich zu erkennen, denn anscheinend hatte er keine Ahnung von Sams Unfall gehabt, bis er den sportlichen, kleinen Rollstuhl unter Sams Hintern sah. An Tony hatte sich nicht viel geändert, abgesehen von ein paar Piercings in den Augenbrauen und der Tatsache, dass kaum ein Zentimeter Haut an seinem Arm nicht mit Tattoos bedeckt war. Aber sein Gesichtsausdruck war noch derselbe, genauso wie seine Art, als er sich über die Theke lehnte und anfing zu reden, ohne sich Gedanken zu machen, ob er mit seinen Worten Sams verletzliches kleines Herz brach.

»Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«

»Bill Sanders«, sagte Sam und schob seinen Rollstuhl zurück, dann verschränkte er die Arme. »Der Wichser hat sich besoffen, dann haben wir den Pick-up von meinem Dad genommen. Er hat sich überschlagen.«

»Wann?«, wollte Tony wissen, als hätte er ein Recht darauf, das zu wissen.

Aus irgendeinem Grund störte Sam das nicht. Tatsächlich war es das erste Mal, dass jemand aus seiner Vergangenheit wissen wollte, wie es zu dieser Situation gekommen war, statt sich bloß daran zu stören, dass Sam sich in einen zerbrechlichen Krüppel verwandelt hatte. »Im zweiten Jahr. Direkt nach dem Homecoming.«

»Leck mich am Arsch«, sagte Tony und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Diese Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf seine Armbanduhr und er stöhnte auf. »Hör mal, Mann, ich will die hier zurückgeben, denn Professor Jameson hat beschlossen, zwei Wochen nach Semesterbeginn seine gesamte Leseliste über den Haufen zu werfen. Und ich habe gleich Unterricht, also kannst du das regeln? Und gib mir deine Nummer, denn du und ich werden zusammen durch die Stadt ziehen und ich werde dir mindestens drei Pitcher Bier ausgeben.« Er wedelte mit der Hand in die Richtung von Sams Rollstuhl. »Das scheint ein Gespräch zu werden, für das drei Pitcher notwendig sind.«

Sam lächelte so breit, dass seine Wangen schmerzten, und er fühlte sich wie ein Depp, aber das war ihm egal. »Ja, Mann. Ich kümmere mich darum. Schreib deine Nummer da auf.« Er deutete mit einem Nicken zu einem Stapel Post-its, bevor er nach Tonys erstem Buch griff. »Ich könnte wirklich einen Drink vertragen.«

»Ich auch«, sagte Tony. Sein Lächeln war ebenso breit.

»Willst du mich verarschen?«, fragte Tony. Er hatte den Mund voller Pommes, die er sich gerade hineingestopft hatte, und den Blick starr auf Sam gerichtet. »Dein alter Herr hat diesen Mist gesagt? Der Mann war doch immer der Meinung, dass dir die Sonne aus dem Arsch scheint.«

Sam zuckte mit den Schultern. »Mom auch. Es war… wie auch immer. Ich verstehe es. So ein Kind will niemand haben.«

»Was? Du verstehst es? Nie im Leben, Mann«, sagte Tony und schüttelte den Kopf, dabei ballte er die Hände neben seinem Pommes-Körbchen zu Fäusten. »Wenn man ein Kind bekommt, dann mit allem, was dazu gehört. Nichts von diesem Damit habe ich aber nicht gerechnet-Bullshit.«

»Du weißt ja nicht, wie es ist«, versuchte Sam, sie zu verteidigen. Ein Teil von ihm war am Boden zerstört gewesen, weil seine Eltern sich einfach nicht mehr für ihn interessierten, bis er es einfach leid gewesen war, ein halbes Leben zu leben, und abgehauen war. Ein anderer Teil von ihm versuchte, mit ihnen zu fühlen, denn es war nicht leicht, so zu leben. »Es ist nicht wie… Es ist nicht nur, dass man Rampen im Haus braucht und Autos mit Handpedalen. Es ist so viel mehr, Mann. Es ist… Fuck. Es ist ermüdend.«

»Ich werde nicht so tun, als hätte ich eine Ahnung, Sam«, sagte Tony und schaute ihn mit so weichem Blick an, wie es schon lange niemand mehr getan hatte. »Ich weiß einen Scheiß über Lähmungen und was damit einhergeht.«

»Mehr, als du wissen willst«, brummte Sam.

»Ach ja? Denn ich vermute, dass es hier in etwa genauso scheiße ist wie in Alaska und ich vermute, dass es hier niemanden gibt, der dich unterstützt.«

Sam biss sich auf die Unterlippe, denn Tony hatte nicht unrecht, dennoch würde Sam kein Hilfsangebot annehmen. Er versorgte sich schon seit Jahren praktisch allein, abgesehen von dem wirklich schweren Zeug, um das sich ein Pflegedienst kümmerte. Jemand, der dafür bezahlt wurde, sich all dem ekligen Kram zu widmen, den sein Körper durchmachen musste. Zum Beispiel, als er ein Geschwür am Hintern gehabt hatte, das sich entzündet hatte, und die Ärzte einen Teil seiner Haut entfernen mussten. Er hatte sechs Wochen lang auf dem Bauch gelegen und jemanden gebraucht, der ihm den Hintern abwischte, ihn wusch und dafür sorgte, dass die Wunde nicht eiterte.

Aber abgesehen davon ‒ wenn die Dinge normal liefen ‒ wollte er lieber nicht, dass sich jemand um ihn kümmerte und erfuhr, was bei ihm alles dazugehörte. Zum Beispiel die Analstimulation, der Katheter oder die Nächte, in denen seine Beine so heftig krampften, dass er stundenlang nur schluchzte, weil der Schmerz nicht aufhören wollte. Oder dass sein Bauch niemals flach wurde, egal, wie viele Sit-ups er machte, und dass seine Beine immer dünn und verkümmert bleiben würden, seine Füße und Fußgelenke hingegen geschwollen.

Er wollte nur ein normaler Mann sein. Er hatte festgestellt, dass die Leute ihn nicht wegen des Rollstuhls automatisch ausgrenzten. Nein, es hatte mit all dem zu tun, was dazugehörte, wenn sie gezwungen waren, lange genug darüber nachzudenken. Wie Caleb, der auf dem Campus im Tea Leaf gearbeitet hatte. Der Typ war scharf gewesen, und irgendwie ein Hipster, aber er schien trotzdem kein allzu großer Idiot zu sein. Er hatte Sam um ein Date gebeten und ein barrierefreies Restaurant gefunden. Er beschwerte sich nicht, dass es so lange dauerte, bis Sam in sein Auto ein- und ausgestiegen war, und er hatte sogar einen Spaziergang vorgeschlagen, bei dem sie sich auf eine Bank gesetzt und Händchen gehalten und rumgemacht hatten. Es war toll und sie mochten ei-nander. Sam konnte sich vorstellen, dass die Beziehung tatsächlich eine Zukunft haben könnte.

Aber dann wurde Sex ein Thema und ab da ging es immer abwärts. Sam war sich sehr wohl bewusst, dass sein Schwanz manchmal kooperierte, meistens jedoch nicht ‒ selbst, wenn er eine Cialis einwarf und einen Cockring benutzte. Nicht, dass er genug Gefühl in seinem Schwanz gehabt hätte, um sich zum Höhepunkt zu bringen, aber er stand auf Penetration. Der Anblick, wenn jemand sich auf seinem Schwanz fickte, reichte ihm als geistige Stimulation. Caleb schien es zu gefallen, bis er Sam die Hose ausgezogen und gesehen hatte, was sich darunter verbarg. Sein Blick hatte auf den Narben an Sams Rückseite verweilt, auf seinen dünnen, kraftlosen Beinen und seinen Füßen und Knöcheln, die geschwollen und ein wenig gerötet waren. Er hatte gezögert und sich geweigert, Sam unterhalb der Taille anzufassen. Er hatte erklärt, dass er sich auf die Stellen konzentrieren wollte, wo es sich für Sam gut anfühlte.

Es war Sex, nur ein wenig anders als bei den meisten Paaren. Danach war Caleb sehr beschäftigt gewesen. Zuerst hatte er Sams Anrufe noch angenommen und mit einem Lächeln in der Stimme erklärt, dass das Leben ihn einfach auf Trab hielt. Dann waren seine Anrufe auf die Mailbox weitergeleitet worden und Caleb hörte ohne Vorwarnung auf, im Tea Leaf zu arbeiten. Vielleicht dachte er, wenn er Sam ghostete, würde Sam ihn nicht konfrontieren können und er würde nicht zugeben müssen, dass es Sams Körper war, den er abstoßend fand. Sam machte sich nicht die Mühe zu versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen, als er erkannte, was vor sich ging. Warum auch?

 

»Was ich wirklich wissen will«, sagte Tony und holte Sam wieder in die Gegenwart zurück, »ist, was zum Teufel du hier machst. Ich meine, ich weiß, dass deine Mom und dein Dad große Pläne für dich hatten, aber du hast ihnen doch sicher gesagt, was sie dich mal können.«

»So was in der Art«, sagte Sam mit einem schiefen Grinsen. Er machte sich nicht die Mühe zu erklären, dass seine Eltern ihn aufgegeben hatten, als er fünfzehn war, und die Tatsache, dass er so gut allein zurechtkam, als Ausrede genutzt hatten.

»Okay, also was hast du vor? Ich meine, was willst du tun, wenn du hier fertig bist?«

Sam biss sich auf die Lippe, denn er war sich noch nicht sicher. Er war im zweiten Jahr und immer noch unschlüssig. Er hatte alle seine Schlüsselqualifikationen und hatte sich in General Studies eingeschrieben, aber das Einzige, in dem er wirklich gut war, war der nutzlose Kunstkurs, den er bloß belegt hatte, weil ihm jemand gesagt hatte, dort bekäme man mit Leichtigkeit eine Eins. Davor hatte Sam keine Ahnung gehabt, dass er zeichnen konnte. Er hatte auf Tests, Hausaufgaben und hin und wieder auf einem Zettel für einen Freund im Englischunterricht im letzten Jahr gekritzelt, aber nichts mit Substanz.

An dem Tag, als er in dem kleinen Kunstraum gesessen, ein Stück Zeichenkohle zur Hand genommen und begonnen hatte, auf der leeren Leinwand zu zeichnen, war etwas in ihm explodiert, wie ein brüllendes Feuer, auf das man Benzin gegossen hatte. Damit verbrachte er nun seine gesamte Zeit, erschuf ein Bild nach dem anderen, obwohl er keine Ahnung hatte, was zum Teufel daraus werden sollte.

»Kunst, schätze ich«, antwortete er schließlich. »Ich denke, ich will etwas mit Kunst machen.«

Aus irgendeinem Grund strahlte Tony daraufhin wie ein Honigkuchenpferd. »Wirklich? Denn, Mann, ich habe da eine Idee, die du dir echt anhören solltest.«

Wenn irgendjemand Sam damals erzählt hätte, dass er neunzehn Jahre später zusammen mit einem Mann, von dem er gedacht hatte, er würde ihn nie wiedersehen, ein Tattoostudio leitete und drauf und dran war, ein kleines Mädchen zu adoptieren, das ihn Dada nannte und glaubte, in seinen Armen ginge die Sonne auf und unter, hätte er demjenigen nicht geglaubt. Aber hier war er nun, glücklich und zufrieden, und hatte endlich das Gefühl, dass sein Leben war, wie es sein sollte.

Wäre das doch bloß von Dauer gewesen.

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