Loe raamatut: «Unsere Zukunft auf deiner Haut», lehekülg 2

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Kapitel 2

»Niko Pagonis. Wie fühlt es sich an, aus einem kleinen Fischerdorf in Griechenland zu kommen und plötzlich eines der am heißesten gehandelten Talente der NHL zu sein?«

Sein Lachen war leicht und unbeschwert, sein Haar von seinem Helm zerzaust, die Handflächen in den Handschuhen verschwitzt. NHL

Niko schaltete den Fernseher aus und seine Hand zitterte, als er die Fernbedienung auf den Couchtisch warf und stattdessen nach dem Bier griff, das er eigentlich nicht trinken sollte. Aber, um ehrlich zu sein, es half besser als die Pillen, die man ihm verschrieben hatte. Er war kurz davor, von ihnen abhängig zu werden, und ihretwegen juckte es ihn am ganzen Körper. Er hatte das Gefühl, als würden die Muskeln, die er jahrelang aufgebaut hatte, dahinschmelzen, während er so dalag und nicht fähig war, sich zu bewegen. Die Streckschiene an seinem Knie verursachte ihm Schmerzen und er wollte am liebsten das ganze Ding abreißen und sich vielleicht das Bein abhacken, wenn ihm nicht schon allein beim Gedanken übel geworden wäre.

Schon immer hatte man sich über seine Überempfindlichkeit lustig gemacht. Jede Mannschaft, für die er je gespielt hatte, hatte ihn gnadenlos damit aufgezogen, dass er beim Anblick von Blut ohnmächtig wurde. Sein Spitzname war Fainting Goat, denn mindestens einmal pro Spiel kippte er beim Anblick von Rot auf dem Eis um, und oft genug war es sein eigenes, weil man ihm einen Zahn ausgeschlagen hatte.

Dennoch war es toll gewesen. Das war seine Familie. Eishockey war sein Trost gewesen ‒ seine Therapie sozusagen ‒, nachdem sein Dad gestorben war. Sein Dad, der nie ein einziges seiner Spiele verpasst hatte, seit er direkt nach der Highschool für die Junior League in Quebec rekrutiert worden war. Sein Französisch war ganz passabel, nachdem diese Zeit vorbei war, und er war als Nummer sechs gedraftet worden. Florida hatte ihn gewählt und er war sofort ins Farmteam, zur Ausbildung junger Spieler, gewechselt, was für ihn vollkommen in Ordnung war. Er wollte sich seinen Platz verdienen und mit seinem Milchgesicht und seiner Fähigkeit, auch dann einen Schlagschuss auszuführen, wenn ein riesiger Schwede direkt vor ihm stand, fiel er auf. In seiner ersten Saison schaffte er vier Hattricks und sieben in der zweiten.

Da wurden die Teambesitzer aufmerksam und sein Name kam ins Gespräch. Sein Agent rief ihn täglich an und sagte ihm, dass er seine Vertragslesefähigkeiten aufpolieren sollte, denn die Dinge würden sich prächtig entwickeln. Seine Möglichkeiten auszuloten, war das Wichtigste, und er würde Rekorde brechen, wenn er endlich auf dem Eis der NHL stand, verdammt noch mal.

Und einen Rekord brach er wirklich. Die kürzeste Zeit in einem Spiel der NHL, bevor er offiziell in den Ruhestand ging. Er wusste nicht, wieso sein Trikot einen Ehrenplatz unter der Hallendecke bekommen hatte ‒ was sollte das, wenn er doch nichts für sein Team geleistet hatte, um sich das zu verdienen? Zwei Minuten und neunzehn Sekunden auf dem Eis, bevor eine Kufe den fehlerhaften Schützer an seinem linken Bein sauber durchschnitten und die Bänder in seinem Knie zerstört hatte. Sechs Operationen und neun Monate in einer verdammten Streckschiene später hatten die Ärzte ihm gesagt, er würde wieder laufen können. Er könnte sogar wieder rennen, verdammt, und Trainingsübungen machen. Außerdem würde er jede Menge Zeit haben, sich einen neuen Karriereweg zu überlegen, denn schließlich war er erst einundzwanzig.

Aber auf dem Eis würde er nie wieder stehen. Jedenfalls nicht professionell. Sein Traum war durch einen Produktionsfehler in Flammen aufgegangen, der ihm sechs Millionen auf seinem Konto eingebracht und ihm klargemacht hatte, dass die Welt sich nie an seinen Namen erinnern würde.

Er redete sich ein, dass es so besser war. Und verdammt, wenigstens konnte er sich jetzt outen. Er würde seine romantischen Anwandlungen nicht auf Blowjobs im Besenschrank beschränken und nicht mehr vorgeben müssen, dass der heiße Barkeeper und er nur befreundet waren. Er hatte damals akzeptiert, dass er als schwuler Mann in der Sportwelt nicht überleben würde, wenn er Karriere machen wollte. Dass er nun die Freiheit hatte, er selbst zu sein, ohne sich entscheiden oder mit Konsequenzen rechnen zu müssen, das war doch was. Das würde er als Sieg verbuchen.

Aber manchmal war es zu viel. Es brachte ihn um, diese alten Interviews von sich selbst zu sehen, wie er mit unschuldigem Gesicht und leuchtenden Augen, die nicht durch starke Schmerzmittel und Schlafmangel vernebelt waren, vor der Kamera stand, in der Stimme das Versprechen auf eine großartige Zukunft, die seine eigene hätte sein sollen. Die Verbitterung erstickte ihn beinahe.

Er stürzte den Großteil seines Biers hinunter und ließ den Kopf nach hinten auf die Sofakissen fallen. In seinem Posteingang wartete eine E-Mail, irgendetwas darüber, wie gut er in Mathematik war und dass er darüber nachdenken sollte, sich ins MBA-Programm in Denver einzuschreiben. Dort gab es gute Jobs und es war ein Ort, an dem niemand über sein kolossales Versagen Bescheid wissen würde. Er starrte auf seine Zehen, die aus seiner Schiene herausschauten, und wackelte mit ihnen. Sie waren immer noch lila und irgendwie hässlich, und es wäre echt ein hartes Stück Arbeit, sie in einen Schlittschuh zu zwingen, aber das spielte keine Rolle mehr. Er brauchte keine Schlittschuhe mehr. Er war im Ruhestand.

Er war im Ruhestand, verdammt noch mal, ob er wollte oder nicht.

Niko streckte sich nach seinem Handy, öffnete die E-Mail seines alten Kumpels und las sie zu Ende. Ein Haus mit zwei weiteren Mitbewohnern in einer Kleinstadt namens Fairfield und man konnte den Campus in nur zwanzig Minuten über den Freeway erreichen. Er hatte genug Geld, um die Collegegebühren zu bezahlen, wenn er das wirklich tun wollte, und, verdammt, was konnte es schon schaden?

Sein Finger schwebte über dem Anrufen-Button neben dem Namen seiner Mutter und er fragte sich, was sie wohl dazu sagen würde. Sie würde wahrscheinlich bloß lachen und ihm versichern: »Matia mou, was auch immer dich glücklich macht, macht auch mich glücklich.«

Ein Teil von ihm wollte nach Jersey zurückkehren, um einfach nur bei ihr zu sein und vor sich hinzugammeln ‒ ihr erlauben, dass sie sein Geld ausgab, und sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt fühlte. Und ein Teil von ihr würde es lieben. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, gebraucht zu werden, besonders nach dem Tod seines Vaters. Aber seine Schwester Sophia und ihr Ehemann und ihre beiden Kinder waren da und das reichte seiner Mom, um zufrieden zu sein. Es war nicht nötig, dass ihr erwachsener Sohn ihr am Rockzipfel hing wie ein peinlicher Versager. Außerdem war es schon schwierig genug gewesen, sie zu überreden, dass er ihr Haus abbezahlen durfte, obwohl es nur noch ein paar Tausend Dollar waren. Selbst wenn er dort auftauchen, auf dem Sofa schlafen und für den Rest seines Lebens Doritos essen sollte, würde sie keinen Cent von seinem Geld anrühren.

Aber vielleicht brauchte er sich nicht nutzlos fühlen. Vielleicht konnte er es besser machen, etwas Besseres sein.

Dan, ich bin dabei. Heute Abend fülle ich den Antrag aus. Halt mir ein Zimmer frei. Bis bald.

Nik.

Er brauchte keinen Mitbewohner, aber vielleicht würde es ihm guttun, ein paar Leute um sich zu haben, die ihn zur Verantwortung zogen und ihm in den Hintern traten. Schließlich war das, worin er gut gewesen war, jetzt unerreichbar. Für immer. Deshalb war es an der Zeit herauszufinden, ob er noch irgendetwas anderes beisteuern konnte.

Natürlich hatte Niko damit gerechnet, einen Abschluss zu machen, aber er hatte nicht damit gerechnet, einen Abschluss summa cum laude zu machen, doch es hatte sich herausgestellt, dass akademische Dinge ihm lagen. Zahlen und Mathematik sprachen auf die gleiche Weise zu ihm wie seine Kufen auf dem Eis. Sie waren wie eine neue Sprache und irgendwie ergab die Welt dadurch wieder Sinn. Er hatte auch nicht damit gerechnet, seine geheime Leidenschaft fürs Kochen zu entdecken ‒ er hatte einen Kochkurs belegt, nachdem sein Mitbewohner sich immer beschwert hatte, dass niemand im Haus etwas Komplizierteres machen konnte als Fertignudeln. Also übernahm er auch das, während er an seinem Abschluss in Buchhaltung arbeitete. Seine Mutter und seine Schwester waren beide gekommen, um ihn laufen zu sehen, und erneut ein paar Jahre später, als er seinen Abschluss machte, und irgendwie schien sich sein Leben in Fairfield auf eine Art zu fügen, die er nie kommen gesehen hatte.

Die Stadt war klein und lag abgelegen. Im Laufe der Jahre hatten ihn ein paar Eishockeyfans als den Typen erkannt, der sich zwei Minuten nach Beginn seines ersten Spiels verletzt hatte, aber die meiste Zeit war er einfach Niko. Er war einfach der muskelbepackte Buchhalter, der einerseits ein Nerd war, aber auch ein Fitnessfreak und der seltsamerweise so in diese Welt passte, wie er es sich nie hatte vorstellen können. Am meisten überraschte ihn allerdings, dass er es nicht hasste. Dass er dadurch das Gefühl bekam, Fairfield könnte sein Zuhause werden, wenn er es zuließ. Noch fühlte es sich nicht so an. Er hatte eine Eigentumswohnung gekauft und sich in einer Buchhaltungsfirma eingerichtet. Er hatte Freunde im Fitnessstudio und Freunde, mit denen er sich traf, um etwas trinken zu gehen, aber er hatte noch nicht das Gefühl, dass er so zu der Stadt gehörte wie alle anderen. Er ließ nie jemanden an sich heran.

Er fragte sich, ob dieses Gefühl zum Teil darauf zurückging, dass er im Alter von vier Jahren aus seinem Heimatland gerissen worden war, aber wenn er ehrlich war, erinnerte er sich kaum noch an Rethymno, abgesehen davon, wie er auf einer kleinen Steinmauer saß und seinem Vater zuschaute, wie er auf einem kleinen Fischerboot die Netze einholte. Er erinnerte sich an den Geruch von totem Fisch und an die Feuchtigkeit und daran, dass er ins Wasser springen wollte, obwohl seine Mutter es nie erlaubt hatte.

Er erinnerte sich deutlicher an den Weggang als an die Zeit dort. Er erinnerte sich, dass seine Eltern zu Hause Englisch gesprochen hatten, sobald sie ihr schreckliches kleines Apartment in Jersey bezogen hatten. Trotzdem hatte er, als er ein Jahr später in den Kindergarten kam, noch Probleme mit der Sprache gehabt. Er erinnerte sich, dass die Kinder in seiner Klasse sich über ihn lustig gemacht hatten, weil sie seinen Akzent komisch fanden. Er erinnerte sich, einem Jungen namens Jake im ersten Schuljahr eine blutige Nase verpasst zu haben, weil er Nikos Art zu sprechen nachgeahmt hatte, aber auch, wie sehr dieser Moment in ihm den Wunsch geweckt hatte, dazugehören zu wollen.

Als er auf die Highschool kam, war er ein vollkommen anderer Mensch gewesen. Er war ein Jersey Boy ‒ ein Möchtegern mit aufgestelltem Kragen und lachsfarbenen Shorts, den Blick auf den Stanley Cup gerichtet, und er hatte es beinahe ‒ beinahe ‒ geschafft. Und dennoch, selbst als ihm das alles ohne Vorwarnung aus den Händen gerissen worden war, hatte er es nie vermisst. Vielleicht am Boden zerstört, weil er seinen Traum hatte aufgeben müssen, aber es hatte sich nie so angefühlt, als würde ihm ein Teil seiner selbst fehlen.

Er vermutete, dass er dieses Gefühl jetzt haben würde, wenn er ‒ aus irgendeinem Grund ‒ alles in Fairfield verlieren würde. Er hatte nie den Eindruck gehabt, für das Kleinstadtleben gemacht zu sein, dennoch war er hier.

»Alter, du solltest dein eigenes Fitnessstudio eröffnen oder so was«, sagte Cale rechts neben ihm.

Niko sah zu seinem Kumpel hinüber ‒ dessen zu stark gebleichtes Haar schweißnass war und dessen Haut durch die Anstrengung, die Gewichte zu stemmen, rosig glänzte. »Warum zum Teufel sollte ich das tun?«

»Weil du praktisch hier lebst?«, schlug Sage vor. Sage bildete einen seltsamen Gegensatz zu Cale und ihm. Er war riesig, mindestens 1,90 Meter groß, mit braunem Haar, geweiteten Ohrlöchern, einem Lippenpiercing und beide Arme von Tattoos bedeckt. Sage war der Verschlossenste von ihnen dreien. Er war nicht der Typ, der über sein Privatleben sprach, und er schlug nie vor, abgesehen von ihrer Zeit im Studio, Zeit zusammen zu verbringen.

Niko wusste nur, dass Sage einen Verlobten gehabt hatte, der gestorben war, weil er ihn eines Abends nach einer anscheinend recht heftigen Auseinandersetzung in einer Bar zufällig getroffen hatte und Sage ziemlich offensichtlich geweint hatte. Niko hatte Sage seine Adresse aus der Nase gezogen und dafür gesorgt, dass er ins Bett kam. Gerade als Niko den Raum verlassen wollte, hatte Sage sehr leise geflüstert: »Warum bist du einfach gestorben, Ted? Du verdammter Idiot. Wir wollten doch heiraten.«

Niko hatte ihn nicht danach gefragt. Nie. Und Sage hatte nie darüber reden wollen, was in Ordnung war. Objektiv betrachtet war er einer der heißesten Typen, die Niko je gesehen hatte, und er hatte einen Uniabschluss in Mathematik und Physik. Er hatte einen späten Start gehabt und eine schwere Vergangenheit, außerdem war er beängstigend schlau. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sie waren sogar einmal beinahe aufeinander losgegangen, weil sie sich nicht einigen konnten, ob Tomaten Obst waren oder nicht. Niko wusste, dass sie es technisch gesehen waren, aber das zählte nicht, und das war das Problem.

Trotzdem war er ein toller Trainingspartner und Niko hatte nicht vor, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen.

»Alter, bist du noch da?«, fragte Sage.

Niko blinzelte. »Tut mir leid. Ich war in Gedanken woanders. Es war eine lange Woche und ich habe das Gefühl, mir läuft das Gehirn aus den Ohren. Aber egal, ich will kein Fitnessstudio eröffnen, denn ich komme zwar gern her, aber ich will nicht hier arbeiten. Ich will nicht, dass sich das hier wie Arbeit anfühlt. Ähm, und davon abgesehen habe ich vielleicht eine andere Idee.«

Es gab in der Nähe des einzigen Blumenladens im Ort ein Restaurant, das im Begriff war zu schließen. Es war ein kleines American Diner, in das nie jemand ging, denn dieser Kram war für die Hipster der Stadt einfach zu passé. Er hatte überlegt, dort eine Art neumodisches griechisches Restaurant zu eröffnen, denn er konnte mit Leichtigkeit die alten Familienrezepte von seiner Mutter bekommen und ihnen einen modernen Anstrich verpassen. Hausgemachtes Essen mit modernem Einschlag, damit all die großkotzigen Yuppies jeden Abend dort essen wollen würden.

Er liebte es, als Buchhalter zu arbeiten ‒ Zahlen ergaben einfach Sinn ‒, aber in letzter Zeit sehnte er sich nach etwas anderem. Etwas Beständigem, um Wurzeln zu schlagen. Er hatte das Geld dafür ‒ verdammt, er hatte mehr als das, obwohl er nicht glaubte, jemand in Fairfield könnte eine Ahnung haben, dass er ein richtiger Millionär war ‒ und es gab keinen Grund, es nicht zu versuchen. Er verdiente genug und wenn es hart auf hart kam und er alles verlor, würde es ihm nicht schlechter ergehen als jetzt im Moment.

»Willst du uns davon erzählen?«, fragte Cale, nachdem die Stille zu lange angehalten hatte, um noch höflich zu sein.

Niko legte die Gewichte ab und griff nach seinem Handtuch, um sich den Nacken abzutrocknen. Sein Bein begann zu zwicken, und er würde es nachher kühlen müssen, aber das Workout fühlte sich gut an. »Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher.« Er ließ sich zurück auf die Bank sinken, bettete die Hände auf den Bauch und seufzte. »Ich muss echt flachgelegt werden.«

»Du bist nicht mein Typ«, meinte Cale.

Niko versetzte ihm einen sanften Tritt. »Du meiner auch nicht. Keiner von euch Arschgesichtern ‒ obwohl Sage schon ganz nett anzusehen ist.«

»Interessant, dass du das sagst«, meinte Sage und lehnte sich etwas näher. »Wusstest du, dass ich einen Zwillingsbruder habe?«

Nikos Augenbrauen schossen nach oben und er stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Ich sagte, ganz nett anzusehen, aber wenn ich nicht auf dich stehe, kann ich mir nicht vorstellen, warum ich an deinem Klon interessiert sein sollte.«

»Zwilling, nicht Klon«, erwiderte Sage mit einem ironischen Grinsen. »Und glaub mir, unsere Ähnlichkeiten enden mit unserem Gesicht und einem Teil unserer Tattoos. Er ist ein verdammter Nerd, wie du, und wir kriegen uns auch ständig wegen Tomaten in die Haare.«

»Oh nein, verdammt, das höre ich mir nicht noch einmal an«, sagte Cale. Er sprang auf und ergriff die Flucht, während Niko in seine Wasserflasche lachte.

»Aber im Ernst, du würdest ihn wahrscheinlich mögen«, sagte Sage einen Moment später. Er nahm sein eigenes Handtuch und wischte sich einen Teil des Magnesiums von den Händen. »Er ist Künstler. Ich meine, wir arbeiten beide im Tattooladen, aber er ist die Art von Künstler mit Leinwand und Staffelei. Seine Arbeit ist atemberaubend. Das könnte ich niemals. Und er ist ein anständiger Kerl. Jedenfalls ein besserer als ich.«

»Du bist auch nicht schlecht«, meinte Niko mit einem ehrlichen Lächeln, denn er mochte sich vielleicht nicht zu Sages Persönlichkeit hingezogen fühlen, aber er mochte den Kerl. »Aber ernsthaft, wenn ihr beide so ausseht«, er wedelte mit der Hand in Sages Richtung, »wieso seid ihr dann beide Single?«

»Ich bin Witwer«, sagte Sage nach einer kurzen Pause leise und zögerlich. »Oder, na ja, jedenfalls fast. Wir wollten in dem Monat heiraten, aber er wurde krank und, äh… ja. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich bereit für jemand Neues. Derek ist… verdammt, er hat Einiges an der Backe. Wir hatten es als Kinder ziemlich schwer und er hat damit zu kämpfen, aber er ist die Mühe wert, verstehst du? Mit jemandem, der gewillt ist, sich Mühe mit ihm zu geben.«

Niko dachte lange über seine Worte nach, um herauszufinden, was genau Sage damit meinte. Er wusste, was eine schwere Kindheit bedeuten konnte ‒ so war es seinem Vater ergangen und er hatte im Laufe der Jahre Freunde gefunden, die sich ebenfalls damit herumschlagen mussten. Sie tendierten dazu, Bindungsstörungen und Vertrauensprobleme zu haben, nichts, womit er nicht umgehen konnte. Aber er war sich nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war.

»Hör mal«, fuhr Sage fort und unterbrach seinen Gedankengang, »ich bin mir nicht einmal sicher, ob Derek im Moment überhaupt an einem Date interessiert wäre, aber wenn ich ihn dazu bringen kann, Ja zu sagen, würdest du darüber nachdenken? Nur ein paar Drinks oder so?«

»Er sieht aus wie du«, fragte Niko und hob die Augenbrauen, »nur ohne die kranken Ansichten zu Obst und Gemüse?«

Sage zeigte ihm den Mittelfinger, grinste dabei jedoch. »Er mag auch den Hipster-Mist, den du hörst. Wie dieser alte Scheiß. Enya? «, verdeutlichte er.

Niko spürte, wie sein Lächeln breiter wurde, und obwohl er es noch nie jemandem verraten hatte, war Enya auf seiner Aufwärm-Playlist gewesen, wenn er sich vor dem Umziehen gedehnt hatte. »Damit könnte ich leben.«

»Ist das ein Ja?«, drängte Sage.

Niko zuckte mit den Schultern. »Ich könnte es viel schlimmer treffen, als einen Typen abzubekommen, der aussieht wie du, aber weiß, wo die verdammten Tomaten auf der Ernährungspyramide stehen.« Er griff nach seinem Handy. »Gib mir deine Nummer und ich schicke dir meine. Du kannst mir eine Nachricht schreiben, wenn er interessiert ist.«

Er hegte keine große Hoffnung. Sein Glück bei Verabredungen war im Laufe der Jahre bestenfalls erbärmlich gewesen, aber vielleicht war es ein Anfang. Zumindest war er im Leben viel weiter gekommen, als er jemals gedacht hatte, und das hatte etwas zu sagen.

Kapitel 3

»Sie wissen, wie leid mir das tut, Sam. Ich wollte nicht, dass das passiert.« Beths Stimme klang beschämt und entschuldigend, denn sie wusste verdammt genau, was passieren würde, wenn sie den Bericht ihrer Inspektion an ihren Chef übergab. Der gleiche verfluchte Mist wie jedes Mal, seit er den Adoptionsprozess begonnen hatte. »Es sollte wirklich nicht lange dauern.«

Er warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu, als sie sich auf sein Sofa setzte und die Hände sittsam im Schoß faltete. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein frisch gewaschenes Haar und ließ seine Hände dann zu den Rädern seines Rollstuhls wandern. »Was soll's.«

»Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Das ist in dieser Situation nicht hilfreich.«

»Sie und ich, wir wissen beide, wie das endet«, sagte er ein bisschen zu harsch zu ihr, aber er fühlte sich innerlich zerschlagen. Es würde darauf hinauslaufen, dass ihm ein Richter sein kleines Mädchen aus den Armen riss und sie Fremden gab, und das wäre das Ende. Er hatte noch nicht mal ein Kind gewollt, verdammt. Als man sie als Neugeborenes von seiner drogenabhängigen Cousine weggeholt hatte ‒ die das Krankenhaus verlassen und sich nie die Mühe gemacht hatte zurückzublicken ‒, hatte er nichts davon gewusst. Zum Teufel, er hatte nicht einmal gewusst, dass das Baby überhaupt existierte. Der Anruf bei ihm war ein letzter Versuch gewesen, einen Verwandten zu finden, bevor man das Baby zur Adoption freigegeben hätte.

Sam hatte die Sachbearbeiterin an diesem Tag am Telefon beinahe ausgelacht, aber er war höflich gewesen und hatte gesagt, er würde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was er tun konnte. Er wusste, dass er nicht geeignet war, Vater zu sein. Er bekam sein eigenes Leben ja schon kaum auf die Reihe, verdammt, und damit hatte seine Lähmung nichts zu tun. Es war die Tatsache, dass seine Arbeitszeiten nicht gerade mit der Erziehung eines Kindes vereinbar waren und er in einem Tattooladen arbeitete, um Himmels willen. Es war nicht so, als hätten sie im Studio eine angegliederte Kindertagesstätte. Und zum Teufel, er hatte noch nie ein Kind im Arm gehalten, geschweige denn die Verantwortung dafür getragen, dass es am Leben blieb.

Doch die Vorstellung, dass sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben wurde, dass jeder – einfach jeder ‒ sie sich schnappen und für sich beanspruchen konnte, ohne beweisen zu müssen, dass er würdig war? Diese Vorstellung ging ihm unter die Haut und ließ ihn nicht in Ruhe.

Irgendwie fand er sich auf der eintausendfünfhundert Kilometer langen Fahrt nach Norden zu einem kleinen Vorort wieder, wo ein Haus mit drei Schlafzimmern stand, in dem sechs Pflegekinder, eine überforderte Mutter und ein Vater lebten, der nach der Arbeit lieber sein Bier genoss, statt sich hin und wieder um den Abwasch zu kümmern. Die Mutter hatte ihr Bestes gegeben, aber sie war überarbeitet und Sam wusste, dass er Maisy nicht dort lassen würde.

Das Mädchen war ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit, denn es war einfacher, sie in ein klappriges altes Kinderbett zu legen und sie schreien zu lassen, als ihr zu geben, was sie brauchte. Sie klammerte sich an ihn, als wäre es das erste Mal, dass jemand sie im Arm hielt, und damit war die Entscheidung gefallen. Sie hatte ihm das Herz rausgerissen und hielt es in ihren pummeligen, kleinen Händen.

Der Papierkram zog sich ewig hin und es hatte ihn ein Vermögen gekostet, für vier Monate eine schreckliche Wohnung zu mieten, denn so lange hatte es gedauert, eine Bestätigung zu bekommen, damit er sie aufnehmen konnte. Wenn die Jungs im Laden nicht zusammengelegt hätten, um ihm genug Geld zu schicken, damit er über die Runden kam, hätte er es nicht geschafft. Aber irgendwann war es überstanden und er fuhr mit ihr auf dem Rücksitz seines Autos nach Hause. Sie war auf der Fahrt dorthin beunruhigend brav gewesen und hatte sich in jedem Motelzimmer wie ein Engel verhalten.

Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass die Hölle losbrach, sobald er mit ihr durch seine Haustür trat. Sie weinte zwei Wochen lang ohne Unterlass, und er bekam insgesamt vielleicht neun Stunden Schlaf. Aber letzten Endes rauften sie sich zusammen und eines Morgens wachte er mit ihr neben sich auf und ihre kleine Hand lag an seiner Wange. Sie schenkte ihm mit ihren lediglich vier Schneidezähnen ein fast zahnloses Lächeln, gab ihm einen Klaps auf die Wange und sagte: »Dadadada.« In diesem Moment wusste er, dass er buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug um sie kämpfen würde, denn sie gehörte zu ihm.

»Ich gebe nicht auf«, versicherte er Beth schließlich und fuhr mit seinem Rollstuhl in die Küche, um seine Schlüssel und seinen Geldbeutel zu holen. »Als ich sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht habe, habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sie mir nur über meine Leiche wieder wegnehmen können, und das war mein Ernst. Aber ich bin diesen Kampf einfach leid. Was auch immer Sie für Vorurteile gegen mich haben, weil ich tätowiert bin und meine Beine nicht funktionieren, Sie und ich, wir beide wissen, dass ich das Beste bin, was ihr passieren konnte.«

Beth, die ihm gefolgt war, sah ihn mit steinerner Miene an. »Es geht nicht darum, was ich denke.«

Er lachte auf. »Ich weiß. Nur dass die Art und Weise, wie Sie denken, genau die gleiche ist, wie sie denken, und wenn ich Ihre Meinung nicht ändern kann, werde ich verlieren. Trotzdem gebe ich nicht auf.«

Sie starrte ihn noch einen Moment an, dann seufzte sie und er glaubte, dass er vielleicht ‒ nur vielleicht ‒ einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen in ihren Augen entdeckte. »Soll ich Sie mitnehmen?«

»Oh, ich kann selbst fahren, danke. Ich vermute, wir werden uns dort nicht sehen.« Danach brachte er sie zur Tür und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer, um Derek anzurufen.

Er war dankbar, dass Derek nicht versucht hatte, ihn lange aufzuhalten oder ihn aufzumuntern, denn das war im Moment zwecklos. Er hatte dieses Spielchen schon so oft mitgespielt, dass er es im Schlaf konnte. Er würde mit mehreren Leuten zusammensitzen ‒ an einem runden Tisch, damit er sich ebenbürtig fühlte. Sie würden ihm aufdringliche Fragen darüber stellen, wie er es schaffte, allein zu scheißen oder zu duschen, und was mit Maisy passieren würde, wenn er stürzte, und wie oft er sie als Baby fallen gelassen hatte. Sie würden ihn fragen, wie sicher sein Arbeitsplatz war und ob er etwas in der Hinterhand hätte, wenn das mit den Tattoos nicht funktionierte ‒ denn anscheinend waren fast zwanzig Jahre am selben Arbeitsplatz nicht gut genug, damit seine Stelle als beständig galt, weil es in ihren Augen keine respektable Berufswahl war.

Danach würden sie einen uralten Rollator mit einem kaputten Rad aus dem hintersten Schrank holen und ihn bitten, damit durch den Raum zu gehen. Und er würde es tun. Ohne seine Schienen würde er seine gelähmten, verkümmerten Beine wie ein tanzender Affe auf der Uferpromenade über den dünnen, abgenutzten Teppich schleifen. Dann würde er sowohl Mitleid als auch Ekel in ihren Gesichtern sehen, denn während er das tat, sah er genauso aus wie der Behinderte, den sie in ihm sahen.

Sie wollten nie Videos von den Fitnesskursen sehen, die er leitete, oder von den Marathons, die er mit seinem umgebauten Fahrrad gewonnen hatte, für das er ein paar Tausender hingeblättert hatte. Sie wollten nicht sehen, dass er zu Hause besser zurechtkam als Leute mit zwei funktionierenden Beinen, wenn er das Abendessen, das Baden vor dem Schlafengehen und ein widerspenstiges Kleinkind unter einen Hut brachte. Es war ihnen egal, dass er mit einer Dreijährigen umgehen konnte, die einen Tobsuchtsanfall hatte, weil sie nach dem Abendessen kein Eis bekam, weil sie ihr Gemüse nicht aufgegessen hatte.

Nein. Sie interessierten sich nur für den einzigen Aufenthalt in der Notaufnahme, weil sie auf dem Spielplatz eine Betonstufe hinuntergefallen war und mit drei Stichen am Kinn genäht werden musste. Sie interessierten sich für die neun Monate Psychotherapie, der er sich mit sechzehn Jahren unterzogen hatte, weil er Selbstmordgedanken gehabt hatte, nachdem er mit angehört hatte, wie seine Eltern darüber sprachen, dass er den Rest seines Lebens der Gesellschaft auf der Tasche liegen würde. Sie interessierten sich für die Tatsache, dass er nicht einfach aufspringen und auf ihren Befehl hin den verdammten Charleston tanzen konnte.

Er verpackte all das zu einem hässlichen, verbitterten Ball aus Wut, der wahrscheinlich eines Tages zu einem Magengeschwür führen würde, und setzte ein Lächeln auf, während er seine Schlüssel nahm und hinausging. Es würde ein verdammt langer Tag werden, aber das war ihm egal. Er hatte nicht gelogen, als er zu Beth gesagt hatte, dass ihm klar war, wohin das führen würde, sie ihn aber umbringen mussten, wenn sie ihm Maisy wegnehmen wollten. Er würde sie nicht verlieren. Sie war sein Leben, basta.

»Okay, Mr. Braga, gehen Sie zu dieser Adresse und melden Sie sich an der Rezeption. Wir werden Sie anrufen lassen, sobald wir wissen, wann genau der Kurs stattfindet.«

Seine Finger ballten sich um die Visitenkarte zur Faust und er versuchte, sie nicht aus purer, unverfälschter Wut in seiner Handfläche zu zerquetschen. Er rang sich ein Lächeln ab, als er mit ihrer leeren Miene konfrontiert war. »Und es sind sechs Wochen, sagten Sie?«

Die Frau mit den viel zu weißen Haaren, die in ihrem Nacken zusammengebunden waren, schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. »Sechs Wochen, ja. Dann werden wir Sie erneut beurteilen.«

»Also nehme ich sechs Wochen lang an einem Reha-Kurs teil, in dem es darum geht, wie man mit einer Lähmung zurechtkommt ‒ wobei nichts davon mit Kindererziehung zu tun hat ‒, und das ist dann nicht einmal eine Garantie dafür, dass mein Fall damit abgeschlossen ist und ich meine Tochter adoptieren darf?« Vor Frustration schnürte sich ihm die Kehle zu und er konnte das Zögern in ihren Augen sehen.

»Sehen Sie, Mr. Braga, unser Protokoll sieht vor, dass wir…«

Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Als ich den Autounfall hatte, war ich fünfzehn. Ich bin seit über zwanzig Jahren gelähmt, was bedeutet, dass ich länger einen Rollstuhl benutze, als dass ich laufen konnte. Denken Sie, ich wüsste nicht genau, wie ich im Alltag mit meiner Behinderung zurechtkomme?«

»Sir, ich…«

»Und meine Tochter lebt seit fast drei Jahren bei mir. Was bedeutet, dass ich es geschafft habe, auf und ab zu gehen, während sie drei Stunden am Stück geschrien hat, weil sie Koliken hatte. Ich habe mit ihr Krupp-Anfälle, die Grippe und jede verdammte Erkältung und Ohrenentzündung durchgemacht, die sie jemals hatte. Ich habe sie sauber gemacht, sie beschützt und ihr zu essen gegeben. Ich habe mich tadellos um sie gekümmert. Und jetzt sagen Sie mir, in Ihrem Protokoll steht, dass ich an diesem Kurs teilnehmen muss ‒ ein Kurs, den ich vor zwanzig Jahren schon gemacht habe, und dass mir das immer noch keine Garantie gibt, dass diese Beurteilungen aufhören und man sie einfach bei dem einzigen Menschen bleiben lässt, den sie als Elternteil kennt?« Sein Atem ging schnell und er konnte fühlen, wie seine Brust eng wurde, was kein gutes Zeichen war. Wenn seine Beine zu krampfen begannen, würde sie das nur in ihrem Glauben bestätigen, dass er unfähig war. Er zwang sich zur Ruhe, obwohl sie auf seine Unterlagen starrte, statt ihm in die Augen zu schauen.