DER REGENMANN

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DER REGENMANN
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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

1

2

3

4

5

ERSTER TEIL

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7

8

9

10

11

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ZWEITER TEIL

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DRITTER TEIL

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40

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

PROLOG

1

Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …

Der Regenmann sah zum Himmel und lächelte zufrieden.

Die lückenlose Wolkenschicht hing wie eine erstickende schwarze Decke über der Stadt. Da weder die Sterne noch der Mond zu sehen waren, war die Nacht nahezu stockfinster. Darüber hinaus regnete es in Strömen.

Doch er war über all das nicht unglücklich. Im Gegenteil. Er mochte die Dunkelheit, denn in ihr konnte er sich vor den anderen verbergen. In ihrem Schutz konnte er seine sogenannten Mitmenschen beobachten, ohne dass sie ihn sahen und etwas davon bemerkten. Und wenn es, so wie jetzt, auch noch wie aus Eimern schüttete, fühlte er sich erst recht in seinem Element – beinahe wie ein Fisch im Wasser.

Der Regenmann, wie er sich nicht nur wegen seiner ausgeprägten Vorliebe für Regenwetter selbst nannte, kauerte im Schutz einiger Büsche auf der Rückseite des Grundstücks, das in unmittelbarer Nähe des Waldfriedhofs lag, und beobachtete das Haus. Er trug einen mattschwarzen Regenparka, dessen Kapuze er sich über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte. Dazu eine Regenhose, Gummistiefel aus Neopren und extra dicke Einweghandschuhe aus Nitril; alles ebenfalls in Schwarz, sodass er nahezu vollständig mit der geliebten Dunkelheit verschmolz, die ihn wie ein Tarnmantel umgab und für neugierige Augen so gut wie unsichtbar machte. Allerdings sorgten sowohl die Uhrzeit als auch das Wetter ohnehin dafür, dass die Leute zu Hause blieben und nur dann einen Fuß vor die Tür setzten, wenn es absolut notwendig war.

Während er das Haus beobachtete und die Vorgänge darin durch verschiedene Fenster und die Terrassentür aufmerksam im Auge behielt, lauschte er den Regentropfen, die beständig auf seine Kapuze und seine Schultern fielen. Der Rhythmus, mit dem die schweren Tropfen ihn trafen, veränderte sich ständig und bildete Laute, die außer ihm niemand verstehen konnte. Nur er war dank langjähriger Übung dazu in der Lage, das Getrommel in verständliche Worte zu übersetzen. Auch aus diesem Grund war er der Regenmann. Denn der Regen sprach zu ihm; und der Regenmann hörte ihm geduldig zu und tat, was der Regen ihm riet oder von ihm verlangte.

Bald ist es so weit, wisperte der Regen in diesem Moment in seiner plätschernden Regentropfenstimme.

Der Regenmann nickte nur. Es war nicht notwendig, dass er laut sprach. Der Regen verstand ihn auch ohne Worte, denn sie beide waren inzwischen ein eingespieltes Team.

Schon als er ein kleines Kind gewesen war, hatte er zum ersten Mal den unwiderstehlichen Drang verspürt, nach draußen zu gehen, sobald es nach Einbruch der Dunkelheit zu regnen angefangen hatte. Je heftiger der Regen herunterprasselte, desto stärker war auch sein Verlangen, sein Kinderzimmer und das Haus zu verlassen. Doch da zunächst seine Eltern und später seine Pflegeeltern das nie erlaubt hätten und von seiner absonderlichen Liebe für den Regen nichts erfahren durften, weil sie ihn sonst vermutlich für noch merkwürdiger gehalten hätten, als sie das ohnehin schon taten, wartete er immer, bis sie schliefen. Erst dann zog er seine rote Regenjacke über den Schlafanzug und seine quietscheentengelben Gummistiefel an und schlich auf Zehenspitzen aus dem Haus. Es waren die schönsten Stunden seiner Kindheit, als er im Schutz des Regens und der Dunkelheit durch die menschenleeren Straßen, über verlassene Hinterhöfe und durch einsame Gärten huschte, um aus dem Verborgenen heraus heimlich seine Mitmenschen zu beobachten. Dabei lernte er im Laufe der Jahre die Sprache des Regens, der ihm alles über die Welt beibrachte, in der er lebte, und über die Menschen erzählte, die er beobachtete.

Damals war er natürlich noch nicht der Regenmann. Schließlich war er noch ein Kind und gewissermaßen in der Ausbildung. Erst mit seinem ersten Mord vor wenigen Wochen war er zum vollwertigen Regenmann geworden. Die Tat war so etwas wie seine Abschlussprüfung gewesen, sein Gesellenstück. Indem er sie mit Unterstützung des Regens erfolgreich ausgeführt hatte und hinterher nicht erwischt worden war, hatte er die praktische Prüfung mit Bravour und Auszeichnung bestanden.

Seitdem war er der Regenmann.

Und als solcher, also in offizieller Mission, war er heute hier.

Denn es galt, in dieser herrlich regnerischen und stockfinsteren Nacht einen weiteren Mord zu begehen.

Der Regenmann lächelte bei dem Gedanken an das, was schon bald passieren würde. Er konnte es kaum erwarten, endlich loszuschlagen, und zitterte vor Erregung.

Warte noch ein bisschen, flüsterten die Regentropfen ihm zu. Warte auf eine günstige Gelegenheit. Schon bald wird es so weit sein. Hab nur noch ein wenig Geduld.

Obwohl er kein geduldiger Mensch war, nickte der Regenmann. Er hatte verstanden und würde tun, was der Regen ihm sagte. Bisher war dieser ihm stets ein zuverlässiger Mentor und guter Ratgeber gewesen. Der Regen hatte ihm vor seinem ersten Mord gesagt, worauf er besonders achten musste. Und er hatte ihm eingeschärft, was er unter allen Umständen vermeiden sollte, weil er sonst unweigerlich geschnappt werden würde. Nur deshalb hatte er nach der Tat ungesehen und unerkannt verschwinden können. Dafür und für die unzähligen Stunden des Unterrichts während der letzten Jahre schuldete und zollte er dem Regen tiefen Respekt und unendliche Dankbarkeit.

 

Obwohl die Tropfen des heftigen Regens noch immer ohne Unterlass auf seine Kapuze und seine Schultern prasselten, bildeten sie keine Worte mehr. Der Regen wartete nun schweigend und ebenso gespannt wie er auf den richtigen Moment.

Der Regenmann begann nahezu lautlos vor sich hin zu summen. Als die Regentropfen die Melodie aufnahmen, sang er zu ihrer Begleitung leise ein paar Worte, die beinahe dem korrekten Liedtext entsprachen, die er jedoch ein wenig abgeändert hatte, damit sie besser zu ihm passten:

»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

Obwohl die Worte nur ein Hauch waren und darüber hinaus im Stakkato des Starkregens untergingen, verstummte der Regenmann nach dieser einen Zeile sofort wieder. Die Frau im Haus, die er nun schon seit einer Stunde geduldig beobachtete, konnte ihn zwar auf keinen Fall hören, dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Der Regen würde es ihm nie verzeihen, wenn er hier und heute einen Fehler beging und versagte.

Deshalb beschränkte er sich von nun an wieder vollständig aufs Beobachten und verhielt sich dabei mucksmäuschenstill.

Da im Wohnzimmer des Hauses Licht brannte, konnte er dabei zusehen, wie die Frau in diesem Moment wieder das Zimmer betrat und mit ihrer Katze sprach. Natürlich konnte er die Worte der Frau ebenso wenig hören wie sie zuvor seinen leisen Gesang. Dafür war der Regen zu laut und er zu weit entfernt. Außerdem befand sie sich innerhalb des Hauses, und er kauerte draußen im Garten zwischen den Büschen. Er konnte jedoch sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Das Tier reagierte allerdings nicht auf die Worte der Frau mit den kurzen blonden Haaren. Es saß direkt vor der Terrassentür und starrte nach draußen.

Der Regenmann erwiderte den Blick der Katze und erschauderte. Obwohl er hinter den Büschen hockte, die Regentropfen einen dichten Vorhang bildeten und er in seinen schwarzen Regensachen mit der Dunkelheit verschmolz, hatte er dennoch das Gefühl, dass das Tier ihn ansah. Es starrte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, genau in seine Richtung. Unter Umständen spürte es mit seinen viel feineren Sinnen seine Gegenwart.

Blödes Vieh!

Er mochte keine Tiere, schon gar keine Katzen. Auf seinen nächtlichen Streifzügen war er vielen begegnet und hatte stets einen Bogen um sie gemacht. Vor allem konnte er es nicht ausstehen, wie sie ihn ansahen: ohne jede Furcht und so wissend und gleichzeitig berechnend. Als könnten sie in sein Innerstes sehen, seine verborgensten Gedanken erfassen und wüssten alles über ihn, sogar seine finstersten Geheimnisse.

Er erschauderte erneut unter dem intensiven Blick des Tiers.

Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn die Frau überhaupt keine Katze gehabt hätte. Doch er war einen Deal eingegangen und hatte zugestimmt, sie zu töten. Deshalb musste er jetzt auch mit ihrem Haustier klarkommen, ob er wollte oder nicht.

Er seufzte tief. Dann wandte er rasch den Blick von der Katze und sah wieder zu der Frau.

Der Regen schien seine Nervosität und Verunsicherung zu spüren. Er sprach wieder in seiner sanften Regentropfenstimme zu ihm.

Die Katze ist kein Problem, flüsterte der Regen, denn sie ist kein Gegner für dich. Zuerst tötest du die Frau und anschließend kümmerst du dich um das Tier. So ist es vereinbart.

Der Regenmann war dankbar für die Worte des Regens, denn sie gaben ihm wieder Zuversicht. Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Er summte erneut die Melodie seines Lieblingsliedes, die von den Regentropfen freudig aufgenommen wurde. Dann sang er leise und lächelte dazu:

»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

2

Yin reagierte nicht auf ihre Worte und tat einfach so, als hätte er sie nicht gehört. Er saß weiterhin mit dem Rücken zu ihr vor der Terrassentür und starrte nach draußen, als hoffte er, es könnte jeden Moment wie durch ein Wunder zu regnen aufhören, sodass er doch noch ins Freie konnte. Doch der Regen war nach Anjas Meinung viel zu heftig, als dass alsbald mit einem Ende gerechnet werden konnte.

Anja Spangenberg seufzte. So leid ihr der Kater auch tat, konnte sie ihm dennoch nicht helfen. Sie konnte sich nicht einmal mit ihm beschäftigen, um ihn abzulenken, da sie im Augenblick einfach keine Zeit dafür hatte. Ihre Cousine Tanja würde sie in knapp einer Stunde abholen, weil sie ins Kino gehen wollten. Und vorher musste sie noch duschen.

Da sie seit heute Urlaub hatte, hatte sie sich die freie Zeit damit vertrieben, im Garten rund ums Haus einige Arbeiten zu verrichten, die sie nun schon eine Weile vor sich hergeschoben hatte, die aber endlich gemacht werden mussten. Die Gartenarbeit hatte sie zudem davor bewahrt, über ihre Arbeit nachzugrübeln. Denn auch wenn sie momentan Urlaub hatte, konnte sie nicht einfach von heute auf morgen abschalten.

Anja war Kriminalhauptkommissarin bei der Kripo München und arbeitete im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle, die für unbekannte Tote und Vermisste zuständig war. Anjas Aufgabenbereich beschränkte sich allerdings auf vermisste Personen. Darüber war sie froh, denn sie hegte eine heftige Aversion gegen Leichen, die schon beinahe das Ausmaß einer Nekrophobie besaß, einer krankhaft übersteigerten Angst vor Toten und toten Dingen.

Sie liebte ihren Beruf, der ihr manchmal extrem viel abverlangte – vor allem, wenn es wieder einmal darum ging, eine unbekannte Leiche als einen ihrer Vermissten zu identifizieren. Er verschaffte ihr aber auch immer wieder eine enorme Befriedigung, wenn es ihr beispielsweise gelang, eine abgängige Person wiederzufinden und wohlbehalten zu ihrer Familie zurückzubringen. Nach Dienstschluss und in ihrer Freizeit gelang es ihr allerdings selten, einfach den Schalter umzulegen und jeden Gedanken an die vermissten Personen, deren Akten momentan auf ihrem Schreibtisch in der Dienststelle lagen, komplett zu unterdrücken. Dafür ging ihr das Schicksal der Personen, die verschwunden waren, oftmals ohne einen einzigen Hinweis auf ihr Schicksal zu hinterlassen, einfach zu nahe. Und deshalb war jedes Bemühen, ihre Arbeit und die vermissten Personen, für die sie die Verantwortung trug, aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, von vornherein komplett zum Scheitern verurteilt.

Außerdem gab es noch zahlreiche andere Dinge, die ihr ständig ungewollt in den Sinn kamen.

Die Aufklärung des als Suizid getarnten Mordes an ihrem Vater vor fünfundzwanzig Jahren zum Beispiel, bei der sie noch keinen einzigen Schritt vorangekommen war, obwohl sie mit dessen Bruder Christian einen erstklassigen Verdächtigen hatte. Doch trotz der mehrmonatigen stundenweisen Beobachtung durch einen ehemaligen Kollegen ihres Vaters konnten sie ihrem Onkel bislang nicht das Geringste nachweisen. Ja, sie konnte noch nicht einmal mit Fug und Recht behaupten, dass er der mehrfache Mörder war, für den sie ihn insgeheim hielt. Da sich die Überwachung letztendlich als kompletter Fehlschlag und Zeitverschwendung erwiesen hatte, hatten sie vor ein paar Wochen beschlossen, sie einzustellen.

Eine weitere Sache, die sie seit ein paar Monaten immer wieder gedanklich beschäftigte, war die ebenfalls erfolglose Fahndung nach einem Mann, der sich Martin Keller genannt hatte, dessen richtigen Namen sie jedoch nicht kannte. Er war Geschäftsführer einer obskuren Organisation namens Hades, die für ihre reichen Mitglieder Menschenjagden und Organspenden organisiert hatte. Auch Anja wurde, als sie ein paar verdächtige Vermisstenfälle untersuchte und dabei dem Treiben von Hades auf die Spur kam, von drei Jägern durch den Wald gejagt, um wie ein Wildtier erlegt zu werden. Allerdings gelang es ihr, den Spieß umzudrehen. Leider konnten die Jäger unerkannt entkommen. Und auch Keller und seine Handlanger verschwanden, bevor Anjas Kollegen zur Stelle waren, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Zweifellos setzte Keller seine Arbeit inzwischen unter anderem Namen an einem anderen Ort fort und verschwendete vermutlich keinen einzigen Gedanken an Anja. Dennoch musste sie immer wieder an ihn denken. Und das nicht nur, weil sie ihn anfangs für ausgesprochen sympathisch gehalten und sogar gern gehabt hatte. Trotz seiner telefonischen Zusicherung, dass er nicht vorhabe, sie aufzusuchen, kribbelte es bei dem Gedanken an ihn jedes Mal zwischen ihren Schulterblättern, und sie warf zur Sicherheit einen Blick über die Schulter, ob er nicht plötzlich hinter ihr stand.

Doch über diese Dinge wollte Anja nicht ausgerechnet jetzt nachdenken. Denn erstens hatte sie das schon so oft getan, dass sich ihre Gedanken mittlerweile nur noch im Kreis drehten und ohnehin nichts Neues ergaben. Und zweitens hatte sie nun einmal Urlaub. Und den wollte sie nach Möglichkeit genießen, ohne ständig an durchgeknallte Psychopathen, skrupellose Verbrecher oder gemeingefährliche Serienkiller zu denken. Davon hatte sie in den letzten zwei Jahren mehr als genug gehabt. Und darauf könnte sie, wenn es nach ihr ginge, in Zukunft gut und gerne verzichten. Deshalb verfolgte sie diese Gedanken nicht weiter, sobald sie ihr ungewollt in den Sinn kamen, auch wenn es ihr schwerfiel.

Sie seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Kater, der wieder einmal so tat, als wäre er eine Katzenstatue. Ein deutliches Zeichen, dass er momentan mordsmäßig sauer war. Vermutlich gab er ihr die Schuld an dem miserablen Wetter, das ihn daran hinderte, durch die Umgebung zu streifen, was er mit Vorliebe tat, seit sie vor annähernd vier Monaten hier eingezogen waren. Als wäre sie in der Lage, das Wetter zu beeinflussen.

Yin hatte früher auf einem Bauernhof gelebt und dort vermutlich viel Zeit mit der Jagd auf Mäuse, Vögel und anderen Kleintiere verbracht, was für eine Katze nur artgerecht war und seinen jetzigen Drang ins Freie erklärte. Allerdings hatte er sich dort auch ständig vor den brutalen Übergriffen des Sohnes der verwitweten Bäuerin in Acht nehmen müssen, der bereits Yins Gefährtin Yang getötet hatte. Auf der Suche nach einer verschwundenen Studentin war Anja in die Gewalt der Bäuerin und ihres Sohnes geraten. Sie konnte sich allerdings befreien und ihre Peiniger mit viel Glück und Yins Unterstützung töten. Anschließend adoptierte sie den herrenlosen Kater gewissermaßen und nahm ihn mit in ihre damalige Wohnung in der Nähe des Westparks. Doch dort hatte das Tier keine Gelegenheit, nach draußen zu kommen, und musste die ganze Zeit in der Wohnung verbringen, davon mehrere Stunden pro Tag allein, während Anja in ihrer Dienststelle war und ihren Job erledigte.

Damit der Kater endlich wieder seinen notwendigen Auslauf bekam, hatte Anja sich schließlich schweren Herzen dazu entschlossen, in das Haus zu ziehen, das ihr verstorbener Ehemann Fabian von seinen Großeltern geerbt hatte. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Waldfriedhofs, wo sowohl ihr Vater als auch ihr Mann begraben lagen. Nach seinem Tod war es eine Weile leer gestanden, weil Anja es nicht über sich bringen konnte, hier einzuziehen. Das Haus war mit Erinnerungen an Fabian erfüllt – schöne und weniger schöne –, und seit sie wieder hier wohnte, musste sie noch öfter als früher an ihn denken. Außerdem war ihre alte Wohnung näher an ihrer Dienststelle gelegen, sodass sie das Auto oft in der Tiefgarage hatte stehen lassen und zu Fuß in die Arbeit gehen können. Und der Westpark, in dem sie am liebsten ihre Laufrunden drehte, war praktisch nur einen Steinwurf entfernt gewesen.

Doch letzten Endes war der Ortswechsel für alle besser, und sie hatte es bislang auch nicht bereut, dass sie die Wohnung aufgegeben hatte und in das leerstehende Haus gezogen war. Für Yin war ein Haus mit Garten auf jeden Fall die bessere Wahl. Und auch sie hatte sich hier rascher wieder eingewöhnt, als sie zunächst angenommen hatte. Außerdem konnte sie auch weiterhin wie gewohnt im Westpark ihre Runden drehen. Er lag zwar nicht mehr unmittelbar vor der Haustür, war aber lediglich anderthalb Kilometer entfernt, sodass sie in wenigen Minuten dort sein konnte.

Ausschlaggebend für den Tapetenwechsel war allerdings nicht Yins Bedürfnis nach Freigang gewesen, sondern der Umstand, dass Anja im Zuge ihrer Ermittlungen, die sie auf die Spur von Martin Keller und der Organisation Hades gebracht hatten, gezwungen gewesen war, in ihren eigenen vier Wänden in Notwehr einen gesuchten Mörder zu töten. Nach diesem Vorfall war es ihr entschieden leichter gefallen, die Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufzugeben. Im Übrigen sparte sie sich seitdem die Miete.

 

Allerdings war sie nunmehr auch gezwungen, Gartenarbeit zu verrichten, eine Tätigkeit, die sie insgeheim verabscheute. Eine Weile hatte sie es zwar noch vor sich herschieben können, doch mittlerweile war es überfällig gewesen, sonst hätten sich vermutlich demnächst die Nachbarn über den verwahrlosten Garten beschwert, allen voran die neugierige Frau Stanglmayer von nebenan. Aus diesem Grund hatte sie auch gleich den ersten Tag ihres Urlaubs dazu genutzt, denn wenn sie sich heute nicht dazu aufgerafft hätte, wäre es bestimmt bis zum Ende ihrer freien Tage liegen geblieben. Und wer weiß, wann sie dann wieder Zeit dafür oder Lust darauf gehabt hätte. Während der ungewohnten gärtnerischen Arbeit an der frischen Luft war sie gehörig ins Schwitzen gekommen, auch deshalb benötigte sie jetzt dringend eine Dusche.

Doch vorher wollte sie noch versuchen, Yin etwas zu trösten. Deshalb ging sie zu ihm und neben ihm in die Hocke, damit sie ihn streicheln konnte. Doch der Kater reagierte weder auf ihre Nähe noch auf die Berührung. Er starrte weiterhin nach draußen, als hätte er dort etwas Hochinteressantes erspäht, das er auf keinen Fall aus den Augen lassen wollte. Anja richtete ihren Blick ebenfalls nach draußen, doch alles, was sie sehen konnte, war ein Spiegelbild des hell erleuchteten Wohnzimmers mit dem Kater und ihr selbst vor dem finsteren Hintergrund der regnerischen Nacht. Außerdem fiel der Regen schräg gegen die Glasscheibe und lief in zahlreichen langen Bahnen daran herunter. Yin konnte also gar nichts erspäht haben, das sich möglicherweise dort draußen befand. Aber vielleicht war es ja auch eher so, dass er mit seinen erheblich ausgeprägteren tierischen Sinnen etwas spürte, das sich im Schutz des Regens im Garten herumtrieb.

»Was ist denn da draußen?«, fragte Anja die Katze, wohl wissend, dass schon allein die Frage Unsinn war und sie natürlich keine Antwort bekommen würde. Allerdings erwartete sie insgeheim eine andere Reaktion des Tiers.

Doch Yin bewegte keinen Muskel, er schien nicht einmal zu blinzeln. Unter ihren Fingern, mit denen sie noch immer über sein glänzendes schwarzes Fell strich, konnte sie spüren, wie angespannt das Tier war. Es vibrierte geradezu vor innerer Erregung.

»Was ist denn los, Yin?«

Noch immer keine Reaktion.

Erneut richtete Anja ihren Blick in die Richtung, in die der Kater gebannt starrte. Doch das Ergebnis war dasselbe wie zuvor. Die Scheibe spiegelte lediglich das Innere des Hauses wider und ließ nichts von dem erkennen, was außerhalb dieser vier Wände geschah. Sie überlegte, ob sie die Terrassentür öffnen und nachsehen sollte, ob da draußen etwas war. Vielleicht nur ein anderer Kater, mit dem Yin Revierstreitigkeiten ausfocht, obwohl Anja bezweifelte, dass bei diesem Sauwetter auch nur eine einzige Katze unterwegs war.

Der heftige Regen überzeugte sie zudem davon, dass es momentan nicht ratsam war, die Tür zu öffnen und auch nur den Kopf nach draußen zu strecken. Ihr kurzes dunkelblondes Haar wäre innerhalb eines einzigen Augenblicks völlig durchnässt, und dann müsste sie mit tropfnassen Haaren durchs Haus laufen.

Keine gute Idee!

Sie seufzte und richtete sich auf. Was immer die Aufmerksamkeit der Katze auf sich gezogen hatte, würde vermutlich von allein wieder verschwinden. Falls da draußen überhaupt etwas war. Vielleicht war Yin auch nur wegen des heftigen Regens so angespannt, der verhinderte, dass er raus konnte.

Anja zuckte mit den Schultern. Obwohl sie sich umdrehen und nach oben gehen wollte, um zu duschen, blieb sie noch einen Moment länger neben ihrem Hausgenossen stehen und richtete ihren Blick erneut auf das gespiegelte Wohnzimmer vor ihr.

Und plötzlich hatte sie das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Sie erschauderte und legte unwillkürlich die Arme um den Oberkörper, als wäre ein eisiger Luftzug durchs Wohnzimmer geweht, der sie frösteln ließ.

Das Gefühl währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, sodass Anja sich gar nicht sicher war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dennoch trat sie automatisch einen Schritt zurück.

Verärgert über ihre ängstliche Reaktion auf ein derart irrationales Empfinden schüttelte sie den Kopf.

»Ich muss jetzt duschen«, sagte sie zu Yin, der sie noch immer hartnäckig ignorierte. »Und du kannst von mir aus gerne weiterhin die Terrassentür bewachen und den Garten im Auge behalten, wenn du willst.« Damit wandte sie sich schulterzuckend ab und verließ das Wohnzimmer.