Loe raamatut: «IM ANFANG WAR DER TOD»
INHALTSVERZEICHNIS
COVER
TITEL
1. TEIL
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
2. TEIL
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
3. TEIL
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
4. TEIL
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
NACHWORT
WEITERE TITEL DES AUTORS
LESEPROBE
PROLOG
1
1. TEIL
Im Anfang war der Tod …
KAPITEL 1
Der erste Messerstich kam wie aus dem Nichts. Er traf den alten Mann in die linke Schulter.
Die Klinge bohrte sich nur ein, höchstens zwei Zentimeter tief in den Körper. Beinahe so, als steckte zu wenig Kraft hinter dem Stoß; oder als wäre er nur halbherzig ausgeführt worden. Dennoch floss augenblicklich Blut, sobald das lange Messer zurückgezogen wurde. Der dunkle Lebenssaft wurde gierig von der Kleidung des Mannes aufgesaugt. Das schwarze Kollarhemd färbte sich rund um die Einstichstelle rasch noch dunkler. Der kreisrunde Fleck vergrößerte sich stetig. Er glänzte feucht und sah im Licht der Kerzen wie flüssiges Öl aus.
Auf dem Gesicht des Priesters erschien ein fragender, geradezu verblüffter Ausdruck. Noch schien er den Schmerz überhaupt nicht wahrzunehmen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Klinge des Fleischmessers, das wie durch Zauberei in der Hand seines Gegenübers aufgetaucht war. Sie blitzte einmal kurz auf, als sie das Kerzenlicht reflektierte. An ihrer Spitze hing ein einsamer Tropfen Blut.
Zweifellos war der alte Mann durch die plötzliche Attacke überrumpelt worden, nachdem sie sich bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen zivilisiert unterhalten hatten. Obwohl es beileibe keine nette Plauderei, sondern am Ende ein Streitgespräch gewesen war, war der heimtückische Angriff für ihn gleichwohl aus dem Nichts gekommen.
Erst ganz allmählich dämmerte in seinen dunkelbraunen Augen die Erkenntnis herauf, dass das Blut an der Klinge von ihm stammen musste und er verletzt worden war. Sein Gesicht verzerrte sich, als er nach dieser Erkenntnis nun auch den stechenden Wundschmerz spürte. Es war, als durchbohrte ihn das Messer in diesem Moment erneut. Seine rechte Hand zuckte unwillkürlich nach oben zur Schulter. Sie legte sich auf die Stichwunde, als könnte er dadurch den schwachen, aber dennoch stetigen Blutfluss eindämmen.
Schließlich hob er den Blick von dem Messer, das diesen bislang gefangen gehalten hatte, und sah seinem Angreifer in die Augen.
»Was soll das?«
Seine Stimme, die sonst stets tief und wohlklingend durch das Gotteshaus schallte, klang jetzt unnatürlich hoch und schrill. Sie verriet die Angst und das Unverständnis des Mannes und durchschnitt die nächtliche Stille in der Kirche ebenso mühelos, wie zuvor die Messerklinge seine Kleidung und Haut durchbohrt hatte.
Er bekam allerdings keine Antwort. Zumindest nicht in verbaler Form. Doch was er stattdessen in den Augen seines Gegenübers entdeckte, ließ ihn gleichwohl erschaudern.
Den zweiten Stich sah er daher ebenfalls nicht kommen. Denn sein Angreifer hielt nicht etwa inne, sondern stieß in diesem Augenblick erneut zu.
Dieses Mal drang das Messer in den Bauch des weißhaarigen Mannes und grub sich wesentlich tiefer hinein, als hätte der Angreifer aus seinem ersten Versuch gelernt und wollte das Gelernte sogleich in die Tat umsetzen.
Es schien sich zunächst nur wie ein heftiger Faustschlag in den Magen anzufühlen. Der Geistliche krümmte sich, beugte sich nach vorn und stöhnte laut, während er die Augen sogar noch weiter aufriss. Das Stöhnen klang in der leeren nächtlichen Kirche unheimlich und ließ den Angreifer erschaudern.
Als die blutige Klinge erneut zurückgezogen wurde, folgte der alte Pfarrer mit den Augen unwillkürlich der raschen Bewegung. Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass dies alles tatsächlich geschah; oder als wollte er es einfach nicht wahrhaben. Doch der einsetzende Schmerz dieser zweiten, wesentlich schwerwiegenderen Verletzung belehrte ihn zweifellos eines Besseren. Die stechenden Schmerzen signalisierten ihm, dass ihm dies alles wirklich widerfuhr. Es war kein Traum, aus dem er jeden Moment erwachen würde, um sich dankbar zu bekreuzigen und anschließend auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen. Dies alles war real! Und es würde zweifellos noch viel schlimmer werden, wenn er nicht bald etwas dagegen unternahm.
Mittlerweile wurde der Baumwollstoff seines Hemdes auch in der Bauchgegend vom ausströmenden Blut durchtränkt. Es breitete sich dort sogar wesentlich rascher aus als bei der an sich harmlosen Schulterwunde. Außerdem wurde der Geruch nach frischem Blut so intensiv, dass der Geistliche das Gefühl haben musste, er könnte es sogar auf seiner Zunge schmecken. Er taumelte leicht, als spürte er bereits den Blutverlust, obwohl dieser noch nicht wirklich dramatisch und lebensbedrohlich war.
Dennoch schien der Gedanke, dass er hier verbluten könnte, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren, die in seinem schlanken Körper steckten. Denn mit einer Geschwindigkeit, die ihm sein Gegenüber überhaupt nicht mehr zugetraut hätte, wirbelte er plötzlich herum und rannte davon.
Er lief gebückt und wirkte dadurch von hinten wesentlich kleiner, als er tatsächlich war. Dabei presste er beide Hände gegen die Körpermitte, auch wenn er die Blutung dadurch nicht verringern, geschweige denn stoppen konnte.
Sein Angreifer hingegen hatte keine Eile. Er sah sich um, als interessierte er sich plötzlich mehr für das Innere des Sakralbaus als für sein Opfer oder als hielte er nach Zeugen seiner Tat Ausschau. Doch um diese Uhrzeit war die Kirche bis auf sie beide menschenleer. Und außerhalb des Gebäudes waren die Stimme des Pfarrers und sein Stöhnen gewiss nicht zu hören gewesen.
Es gab also keinen einzigen Zeugen der Tat.
Zufrieden richtete die Person mit dem Messer in der behandschuhten Hand ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr flüchtendes Opfer. Sie trug dunkle Kleidung und hatte die Kapuze ihres Pullis über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen.
Der schwer verletzte Geistliche hatte inzwischen beinahe die Stufen zum Altarraum erreicht. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass er mit seinen Kräften am Ende und vom starken Blutverlust geschwächt war. Er rannte längst nicht mehr, sondern taumelte nur noch voran. Es erschien wie ein Wunder, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.
Vermutlich würde er ohnehin verbluten, auch wenn der Angreifer plötzlich beschlossen hätte, von einer Verfolgung abzusehen und den verletzten alten Mann sich selbst zu überlassen. Doch daran verschwendete dieser überhaupt keinen Gedanken. Stattdessen setzte er sich nun ebenfalls in Bewegung und folgte dem Priester. Und obwohl er nicht rannte, sondern gemessenen Schrittes ging, war er dennoch schneller als sein waidwundes Opfer.
Als der Pfarrer schließlich die Stufen erreichte, hob er die blutbesudelte rechte Hand, um sich an der weiß getünchten Wand abzustützen. Dann blieb er schwer atmend stehen, als fehlte ihm nun doch die Kraft, um auch nur eine einzige der sechs Stufen zu bewältigen. Er hatte allem Anschein nach nicht einmal mehr genug Energie, um den Kopf zu drehen und sich nach seinem Verfolger umzusehen.
Beim Näherkommen konnte dieser die angestrengten, pfeifenden Atemzüge des alten Mannes hören, mit denen er verzweifelt nach Luft schnappte. Es war das einzige Geräusch in der Kirche, denn er selbst bewegte sich absolut lautlos voran.
Der alte Mann hörte ihn daher nicht kommen, obwohl er damit rechnen musste, dass sein Angreifer die Sache hier und jetzt zu einem Ende bringen würde. Aber vielleicht hatte er nun, am Ende sowohl seiner Kräfte als auch seines Lebens, letztendlich resigniert und sich mit seinem Schicksal abgefunden.
Der Verfolger stach, ohne einen Augenblick zu zögern, ein drittes Mal zu. Die Klinge blitzte im Kerzenlicht auf, bevor sie sich tief in den ungeschützten Rücken vor ihm bohrte.
Der Geistliche stieß daraufhin ein weiteres lang gezogenes Stöhnen aus. An diesem Ort und zu dieser Uhrzeit klang es noch gespenstischer als beim ersten Mal und bescherte dem Angreifer ein weiteres Erschaudern.
Dann verstummte das Opfer abrupt und sackte in sich zusammen, als hätten sich sämtliche Knochen seines Skeletts in Gelatine verwandelt. An der Kirchenwand, an der er sich abgestützt hatte, blieb wie eine stumme Mahnung der blutige Abdruck seiner Hand zurück.
Der Angreifer beugte sich zu dem reglosen Körper hinunter.
Der Priester lebte noch, wenn auch nur gerade so. Die Messerklinge hatte sein Herz knapp verfehlt und stattdessen einen Lungenflügel durchbohrt. Bei jedem seiner schwächer werdenden Atemzüge bildeten sich blutige Luftbläschen zwischen seinen geöffneten Lippen.
Der Angreifer stellte befriedigt fest, dass die verbliebene Lebenszeit des alten Mannes gezählt war. Allerdings nicht länger in Jahren, Monaten, Wochen, Tagen und Stunden, sondern allenfalls in Minuten, wenn nicht sogar in Sekunden. Doch scheinbar genügte das der Person mit dem blutigen Fleischmesser nicht. Entweder wollte sie auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall überlassen. Oder ihr lag daran, das Leid des Geistlichen zu beenden. Wie auch immer. Auf jeden Fall setzte sie die Klinge an den Hals ihres bewusstlosen, sterbenden Opfers und schnitt ihm mit einer raschen Bewegung kurzerhand die Kehle durch.
KAPITEL 2
I
Sie wurde von einem schrillen Schrei geweckt.
Anja war von einem Augenblick zum anderen hellwach. Ruckartig setzte sie sich auf. Gehetzt und schwer atmend sah sie sich um. In der Finsternis konnte sie allerdings nichts erkennen.
Ihr Herz klopfte so rasch und heftig, dass es schon beinahe wehtat. Sie fühlte sich, als hätte sie nach einem der Extremmarathons, die ihr Kollege mit Vorliebe lief, gerade die Ziellinie überquert.
Schließlich realisierte sie, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Sie war von ihrem eigenen Schrei geweckt worden.
Anja hob die Hände und vergrub ihr schweißnasses Gesicht darin.
Nur ein Albtraum!
Zweifellos.
Aber was für einer!
Die Bilder ihres Traums standen ihr noch immer so deutlich und lebhaft vor Augen, als handelte es sich nicht nur um bloße Traumbilder, die ihr Unterbewusstsein während des Schlafs produziert hatte, sondern als wären es reale Geschehnisse, die sie selbst erlebt hatte und die sich wegen ihrer Brutalität und Abscheulichkeit in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.
Und wie eine ungeliebte Erinnerung spielte sich die schreckliche Szene nun erneut vor ihrem inneren Auge ab. Sie erschauderte unter dem Ansturm der Albtraumbilder, war aber unfähig, ihn zu stoppen, und musste die brutale Ermordung des Priesters noch einmal miterleben. Und erneut sah sie alles aus der Perspektive und durch die Augen des Mörders. Als wäre sie selbst die Mörderin gewesen und hätte das tödliche Messer eigenhändig geführt, um ihrem Opfer einen Stich nach dem anderen zu versetzen; bis hin zum letzten, dem finalen, lebensbeendenden Schnitt durch die Kehle des alten Mannes.
Anja schüttelte den Kopf. Sie wollte diesen furchtbaren Gedanken abschütteln, bevor er sich in ihrem Verstand verwurzeln und sie weiter quälen konnte.
Nur ein Albtraum!, wiederholte sie trotzig den einzig tröstlichen Gedanken, der ihr in diesem Augenblick einfiel.
Dennoch!
Woher kam dieser Traum? Warum ließ ihr Unterbewusstsein sie die brutale Ermordung eines Geistlichen erleben? Und dann auch noch ausgerechnet aus der Perspektive seines Mörders.
Sie hätte das Ganze als belanglos abtun können. Schließlich war es nur ein Traum. Doch so einfach war die Sache dann doch nicht. Sie hatte einen kleinen, aber entscheidenden Haken: Anja kannte das Opfer!
II
Sie kannte den alten Mann, der in ihrem Albtraum ermordet worden war!
Oder besser gesagt: Anja hatte ihn zumindest früher einmal gekannt, als sie noch ein Kind gewesen war. Doch seit damals waren viele Jahre vergangen, in denen sie den Geistlichen weder gesehen noch gesprochen hatte.
Aber wieso träumte sie dann ausgerechnet jetzt von ihm, gewissermaßen aus heiterem Himmel und ohne jeden konkreten Anlass? Und dann auch noch seine Ermordung in Breitbild und Technicolor.
Anja nahm die Hände vom Gesicht und schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Am liebsten hätte sie den Albtraum so schnell wie möglich vergessen und die dazugehörigen Bilder wie eine Leiche, die man loswerden musste, in einem abgelegenen Winkel ihres Verstandes verscharrt. Aber das ging natürlich nicht! Die Traumbilder waren hartnäckig und widersetzten sich jeglichem Versuch, sie zu verdrängen.
Sie atmete einmal ganz tief durch. Anschließend verlagerte sie ihre Aufmerksamkeit von innen nach außen und überprüfte den Zustand ihres Körpers. Anja stellte fest, dass sich ihr Herz inzwischen wieder beruhigt hatte. Es schlug nun wieder ruhig und gleichmäßig, ohne dass sie das unangenehme Gefühl haben musste, es würde jeden Moment ihren Brustkorb sprengen. Und auch ihre Atmung war wieder normal. Ihr ganzer Körper war zwar weiterhin in kalten Schweiß gebadet, sodass es sie unwillkürlich fröstelte, aber wenigstens schwitzte sie nicht länger.
Anja wunderte sich nicht, dass sie sich körperlich so rasch von ihrem schrecklichen Traumerlebnis erholt hatte. Schließlich hatte sie Erfahrung mit Albträumen; sie war gewissermaßen Expertin darin.
Seitdem sie im Alter von elf Jahren ihren Vater erhängt in seinem Arbeitszimmer gefunden hatte, verfolgte sie dieses traumatische Erlebnis, indem es sie regelmäßig im Schlaf heimsuchte und quälte. Und seit sie vor drei Monaten bei den Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers die Leiche ihres Ehemannes Fabian entdeckt hatte, der zwar erdrosselt, aber wie ihr Vater im Arbeitszimmer seines Hauses aufgehängt worden war, vermischten sich die beiden Erlebnisse zu einem einzigen furchtbaren, immer wiederkehrenden Super-Albtraum.
Doch auch das war nichts, über das sie in diesem Moment gründlicher nachdenken wollte.
Stattdessen wurde sie sich plötzlich darüber bewusst, dass sie leichte Kopfschmerzen hatte. Außerdem hatte sie großen Durst und einen unangenehmen Geschmack im Mund, der sie an die Zeit erinnerte, als sie entschieden zu viel Alkohol getrunken hatte. Doch das gehörte zum Glück der Vergangenheit an; inzwischen rührte sie keinen Tropfen mehr an.
Anja hob den Kopf und sah sich erneut um. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt. Und so konnte sie nun die Konturen ihrer Umgebung besser erkennen. Sie runzelte irritiert die Stirn. Die Schattenrisse, die sie umgaben, kamen ihr fremd vor und waren ihr nicht vertraut.
Wo bin ich?
Sie hatte keine Antwort auf diese Frage. Sie wusste nur, dass sie nicht in ihrem Schlafzimmer aufgewacht war, denn dessen Anblick war ihr sogar in der Dunkelheit vertraut.
Ein starkes Gefühl der Desorientierung überkam sie.
Bin ich etwa bei Konstantin?
Konstantin Steinhauser und sie waren seit knapp einem Monat ein Liebespaar. Soweit seine Dienstpläne als Unfallchirurg und Notarzt es ihnen erlaubten, verbrachten sie nach Möglichkeit mindestens zwei bis drei Nächte in der Woche gemeinsam in seiner oder ihrer Wohnung.
Doch Anja erkannte rasch, dass es sich auch nicht um das Schlafzimmer in Konstantins Eigentumswohnung im Münchener Stadtteil Obermenzing handelte. Außerdem befand sie sich, wie sie erst jetzt feststellte, nicht einmal in einem Bett, sondern saß aufrecht auf einer Couch.
Das ist mein Wohnzimmer!
Die Konturen, die zunächst so fremd und rätselhaft auf sie gewirkt hatten, nahmen endlich vertraute Formen an. Das Gefühl der Desorientiertheit verschwand, und Anja atmete erleichtert auf.
Sie war nicht an einem unbekannten Ort, wie sie zunächst befürchtet hatte, sondern zu Hause in ihrer eigenen Wohnung.
Aber warum lag sie nicht in ihrem Bett, sondern hatte auf der Couch geschlafen? Es kam zwar hin und wieder vor, dass sie nach einem anstrengenden Arbeitstag vor dem Fernseher einschlief. Aber wenn sie dann ein paar Stunden später wieder aufwachte, waren das Licht und das Fernsehgerät noch immer an. Doch jetzt war beides ausgeschaltet.
Ein Stromausfall?
Anja blickte unwillkürlich zum Fernseher und bemerkte, dass das rote Standby-Licht brannte. Also doch kein Stromausfall!
Was war dann der Grund, dass sie hier und nicht in ihrem Bett geschlafen hatte?
Sie zuckte mit den Achseln. Schließlich war es auch nicht so wichtig, dass sie sich darüber lange den Kopf zerbrach. Vermutlich gab es eine einfache und logische Erklärung. Und irgendwann, wenn sie nach ein oder zwei Tassen Kaffee endlich richtig wach war, würde ihr diese auch einfallen.
Anja schwang die Beine von der Couch und stöhnte dabei leise. Der Schmerz in ihrem Kopf hatte sich durch die abrupte Bewegung verstärkt. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die quälenden Kopfschmerzen während des Apokalypse-Killer-Falls. Damals hatte sie sogar zeitweise ernsthaft befürchtet, sie hätte einen Gehirntumor und sollte das vierte Opfer des Serienkillers werden, der sich Johannes genannt und todkranke Frauen umgebracht hatte.
Doch der heutige Kopfschmerz war anders. Ebenso wie der ekelhafte Geschmack und die staubige Trockenheit in ihrem Mund und der quälende Durst erinnerte er sie an längst vergangene Zeiten, in denen sie fast regelmäßig mit einem Kater aufgewacht war.
Aber das kann nicht sein! Oder etwa doch?
Die Angst des trockenen Alkoholikers vor einem Rückfall griff nach Anjas Herz und ließ sie erschaudern.
Sie stand rasch auf. Zu rasch, denn augenblicklich wurde ihr schwindelig und gleichzeitig schwarz vor Augen. Sie schwankte hin und her. Halt suchend griff sie nach dem Couchtisch, um nicht nach vorn zu kippen und auf der Tischplatte zu landen. Ihre Finger stießen gegen einen Gegenstand, der klirrend umfiel. Dann gelang es ihr endlich, sich an der Tischplatte abzustützen und dadurch einen Sturz zu verhindern. Sie wartete darauf, dass sich die Schwärze vor ihren Augen lichtete und das Schwindelgefühl, das sie erfüllte, verschwand.
Zum Glück kehrte ihre Sehkraft schon nach wenigen Augenblicken zurück. Und auch der Schwindel legte sich allmählich. Anja richtete sich wieder auf und ging mit langsamen, vorsichtigen Schritten zur Tür, um das Licht anzumachen.
Als es hell wurde, schloss sie geblendet die Lider; die Helligkeit intensivierte den Schmerz in ihrem Schädel. Dann öffnete sie die Augen behutsam, um sie an das Licht zu gewöhnen. Blinzelnd sah sie sich um.
Es war tatsächlich ihr Wohnzimmer, in dem sie sich befand. Es sah im Wesentlichen auch so aus wie immer. Das einzig Ungewöhnliche und Unerwartete war die Wodkaflasche, die auf dem Couchtisch lag, weil Anja sie umgestoßen hatte. Allerdings war kein Alkohol verschüttet worden, denn die Flasche war leer!
III
Als sie die umgekippte Flasche sah, hatte sie das unangenehme Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in einen Abgrund zu stürzen.
Sie hatte mittlerweile neun Monate lang keinen Tropfen Alkohol angerührt. Ein halbes Jahr davon hatte sie sogar eine volle Wodkaflasche in der Küche aufbewahrt, um ihre Willensstärke auf die Probe zu stellen. Doch selbst in dieser Zeit hatte sie der Versuchung nie nachgegeben. Und nach den schrecklichen Ereignissen im Rahmen der Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers hatte sie den Alkohol ohnehin in den Abfluss geschüttet und die leere Flasche entsorgt.
Woher kam also jetzt diese Wodkaflasche? Und was eigentlich noch viel wichtiger war, hatte Anja sie ganz allein ausgetrunken? Es erweckte zumindest den Eindruck, als wäre es so gewesen, denn auf dem Couchtisch stand nur ein einziges halbvolles Glas. Und auch der bohrende Schmerz in ihrem Kopf, der mit jedem Atemzug intensiver wurde, und all die anderen Begleiterscheinungen sprachen dafür, dass sie eine Menge Alkohol getrunken hatte. Aber doch keine ganze Flasche!
Oder etwa doch?
Anja wandte sich rasch ab und eilte ins Badezimmer. Ihr war plötzlich schlecht geworden. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, Klodeckel und -brille nach oben zu klappen, bevor sie sich übergeben musste.
Als der Würgereiz endlich nachließ, spülte sie das stinkende Ergebnis ihres Übelkeitsanfalls rasch hinunter. Allerdings war der Geschmack in ihrem Mund um keinen Deut besser.
Während sie sich aufrichtete, wurde ihr erneut schwarz vor Augen. Doch dieses Mal lichtete sich die Schwärze sofort wieder, ohne dass ihr schwindelig wurde und sie umzufallen drohte. Sie ging auf wackligen Beinen zum Waschbecken und wurde dort mit ihrem Ebenbild im Spiegelschrank konfrontiert.
»Na prima!«, sagte sie mit krächzender Stimme, denn sie sah exakt so aus, wie sie sich fühlte.
Die verschwitzte Haut ihres herzförmigen Gesichts mit den markanten Wangenknochen war bleich und sah ungesund aus. Die grünen Augen waren blutunterlaufen und glänzten fiebrig. Und ihre kurzen, dunkelblonden Haare standen auf der linken Seite wie beim Struwwelpeter ab, während sie auf der anderen Seite angeklatscht waren und schweißfeucht glänzten.
Gut, dass Konstantin heute Nacht nicht bei mir übernachtet hat, dachte sie. Ein solcher Anblick hätte ihn ansonsten vielleicht dazu bringen können, sein Heil in der Flucht zu suchen.
Anjas Mund, der, wenn sie ein Mitspracherecht gehabt hätte, gern etwas schmaler hätte sein können, verzog sich zur Andeutung eines Grinsens. Es verschwand allerdings augenblicklich wieder, als sie sich an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer erinnerte.
Ich dachte, der Traum, den ich hatte und in dem der Pfarrer ermordet wurde, wäre der Albtraum, dachte sie. Aber ich habe mich getäuscht. In Wahrheit ist das hier der echte Albtraum!
Als sie den Blick vom Spiegel abwandte und an sich heruntersah, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie nicht wie sonst in T-Shirt und Schlüpfer geschlafen hatte, sondern eine schwarze Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli trug. Kein Wunder also, dass sie so stark geschwitzt hatte. Die Sachen waren feucht und klebten teilweise auf ihrer Haut.
Sie zog den Pulli über den Kopf. Darunter hatte sie ein dunkelgraues T-Shirt an. Es war völlig durchgeschwitzt. Sie fröstelte, als der Schweiß auf ihrer Haut trocknete und ihr dadurch kalt wurde.
Rasch entledigte sich Anja der übrigen Kleidungsstücke einschließlich ihres verschwitzten Schlüpfers und der Socken, bis sie nackt und frierend vor dem Waschbecken stand.
Aus Gewohnheit öffnete sie den Teil des Spiegelschranks, in dem sich ihre karge Hausapotheke befand.
Bis zum Fall des Apokalypse-Killers, der damit geendet hatte, dass sie ihn auf dem Waldfriedhof in Notwehr getötet hatte, hatte sie nach ihren regelmäßig wiederkehrenden Albträumen stets wie unter Zwang nach einer Schachtel Schlaftabletten gegriffen. Sie waren ihr wegen ihrer zeitweiligen Schlaflosigkeit aufgrund ihrer damaligen Eheprobleme verschrieben worden; doch Anja hatte sie nie eingenommen. Stattdessen hatte sie die Pillen für den Fall aufbewahrt, dass ihr irgendwann einmal alles zu viel werden und sie nach einem leichten Ausweg suchen sollte. Beim Anblick der Tabletten hatte sie stets den Lockruf des Abgrunds vernommen, der jenseits der Schwelle lag, die der Tod für die Lebenden darstellte. Doch zum Glück hatte sie dem Sirenengesang nie nachgegeben, sondern das Rendezvous mit dem Sensenmann, das allen Menschen früher oder später bevorstand, ein ums andere Mal aufgeschoben. Nach den Erlebnissen mit dem Serienkiller Johannes war der Lockruf dann endlich verstummt. Anja hatte die Tabletten am Grab ihres Vaters ins regennasse Gras fallen lassen. Und den Wodka, mit dem sie die Tabletten im Fall des Falles hatte hinunterspülen wollen, hatte sie weggeschüttet.
Fast erwartete sie nun, die Schlaftabletten wären ebenso wie die Wodkaflasche in ihr Leben zurückgekehrt. Doch das war zum Glück nicht der Fall. Die Stelle, an der sie früher immer gelegen hatten, war noch immer verwaist. Und auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes, den sie früher beim Anblick des Einschlafmittels verspürt hatte, blieb ihr erspart. Sie hatte nicht länger das Gefühl, der Tod wäre eine einfache und praktikable Möglichkeit, all ihre Probleme auf einen Schlag zu lösen. Die Begegnung mit dem Apokalypse-Killer, so schrecklich sie auch gewesen war und so vielen Leuten er den Tod gebracht hatte, hatte ihr zumindest den unbedingten Willen zum Weiterleben zurückgegeben. Und dafür war sie zutiefst dankbar.
Dennoch fragte sie sich, als sie den Spiegelschrank wieder schloss, was hier eigentlich los war. Woher kam die Wodkaflasche? Hatte sie selbst sie besorgt, ohne dass sie sich daran erinnern konnte? Und hatte sie dann die Flasche ausgetrunken und auf der Couch das Bewusstsein verloren, um in einem der fürchterlichsten Albträume mitzuerleben, wie ein Geistlicher, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte, ermordet wurde?
Das kann doch alles nicht wahr sein!, dachte Anja. Wie an einen Strohhalm klammerte sie sich verzweifelt an den plötzlich in ihr aufkeimenden Einfall, dass sie noch immer träumte. Dass sie weiterhin tief und fest schlief und der Albtraum noch gar nicht zu Ende gegangen war.
Doch dann überzeugte der Schmerz in ihrem Kopf sie davon, dass sie wach war und nicht träumte.
Ihr wurde erneut bewusst, dass sie großen Durst hatte und fror. Außerdem stank sie nach dem Schweiß, der zum größten Teil auf ihrem Körper getrocknet war. Alles in ihr sehnte sich nach einer heißen Dusche. Sie wusste zwar nicht, wie spät es war, doch ihre innere Uhr sagte ihr, dass es noch ein paar Stunden dauern würde, bis der neue Tag heraufdämmerte. Und da sie ohnehin so schnell keinen Schlaf finden würde, weil ihr so viele beunruhigende und beängstigende Gedanken durch den Kopf gingen, konnte sie genauso gut duschen, sobald sie sich die Zähne geputzt hatte, um den üblen Geschmack loszuwerden, und etwas Wasser getrunken hatte, um ihren Durst zu stillen.
Wenn sie hinterher immer noch nicht müde war, wollte sie einen großen Becher Kaffee trinken und anschließend eine Runde durch den Westpark joggen. Vielleicht kam sie dabei auf andere Gedanken.