Geist & Leben 1/2018

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Geist & Leben 1/2018
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Inhalt

Heft 1 | Januar–März 2018

Jahrgang 91 | Nr. 486

Notiz

Den Seelen helfen Bernhard Bürgler SJ

Nachfolge

Abgrenzung oder Anpassung? Impulse aus der Frühen Kirche

Franz Dünzl

Wer ist Christus für uns heute? Beispiele einer Theologie der Nachfolge aus der Evangelischen Kirche

Bernd Liebendörfer

Nachfolge | Kirche

„Wie konntet ihr mich vergessen?“ Anfragen an klerikale Tendenzen Edith Kürpick FMJ

Klerikalismus 2.0. Über die Wiederkehr eines alten Phänomens in neuen Formen

Alois Halbmayr

Nachfolge | Junge Theologie

Ein Tag für das Leben. Vom Sabbat und seiner heilsamen Zweckfreiheit Jan Oliva

Reflexion

Kontemplation und Freiheit

Walter Schaupp

Dem Namen Jesu zugewandt.

Kontemplative Übungen nach Franz Jalics

Pieter-Paul Lembrechts SJ

Tiefendimension des Betens. Reflexionen im Anschluss an Franz Jalics‘ „Kontemplative Exerzitien“

Simon Peng-Keller

Mitten im Leben Gott erfahren. Sakramentale Mystik bei Henri de Lubac

Dominik Arenz

Spiritualität in Krisenzeit. Louis Lallemant und seine Doctrine Spirituelle

Tibor Bartók SJ

Ein Stadtkloster in Berlin. Erfahrungsbericht aus der evangelischen Communität Don Camillo

Georg Schubert

Lektüre

Wie ein Dieb (Teil II)

Michel de Certeau SJ

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Simon Peng-Keller / Zürich

Jörg Nies SJ / Rom

Andrea Richter / Berlin

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

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Bernhard Bürgler SJ | Wien

geb. 1960, Provinzial der Österreichischen Provinz der Jesuiten, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

bernhard.buergler@jesuiten.org

Den Seelen helfen

„Unmöglich, das geht nicht“: Das war mehr oder weniger die Meinung vieler außerhalb und innerhalb seines Ordens, als er von seinem Vorhaben erzählte, ein „kontemplatives Exerzitienhaus“ zu eröffnen. „Er träumt! Die Nachfrage nach seinen Kursen ist nicht so groß, und ein eigenes Haus kann sich nicht tragen.“

1978, nach seiner Ankunft in Deutschland, begann P. Franz Jalics, kontemplative Exerzitien zu begleiten. Es gab viel positive Resonanz auf seine Art von Exerzitien und so dachte er daran, nicht mehr herumzureisen und Kurse in verschiedenen Häusern anzubieten, sondern ein eigenes Zentrum zu schaffen. Schließlich hat er es mit Erlaubnis seiner Oberen getan. Und, es ist gegangen – sehr gut sogar! Das Haus Gries und die Kontemplativen Exerzitien wurden ein Erfolgsprojekt.

P. Franz Jalics ist am 16. November 2017 90 Jahre alt geworden und er kann auf ein großes Lebenswerk zurückschauen. Was war, was ist das Geheimnis seines „Erfolges“? Drei Begriffe fallen mir ein: Mensch, Weg, Ort.

Ich weiß noch, als ich ihm das erste Mal begegnete. Es war kurz nachdem er von Argentinien nach Deutschland gekommen war. Ich war beeindruckt von seiner Ausstrahlung, von seiner Lebensgeschichte, von seinem Anliegen, Menschen zu Gott zu führen. Ich hatte das Gefühl, einen Menschen zu treffen, der in sich einen Auftrag spürt, der weiß, was er will und der einen geistlichen Weg zeigen kann, der für heutige Menschen gehbar und hilfreich ist. Seit damals haben sich viele Menschen seiner Führung anvertraut. Sie haben ihn erlebt als jemanden, der Gott erfahren hat, und der andere näher zu ihm hinführen will und kann: einen Lebemeister. Geistliche Menschen – sie werden gesucht, innerhalb und außerhalb der Kirche, gerade heute.

Franz Jalics hat vielen Menschen einen Weg zu Gott, zu sich selbst und zu den Menschen gezeigt. Diesen Weg wurde er selbst geführt und ist ihn konsequent gegangen. Auf seiner eigenen Erfahrung aufbauend hat er ihn weitervermittelt. Dieser Weg ist eine Gebetsweise, das kontemplative Jesus-Gebet. Er ist aber mehr als das, er ist eine Lebensweise; eine Weise des Umgangs mit der Welt, den Menschen und sich selbst. Dieser Weg führt vom Denken zum Spüren und Wahrnehmen, von der Vergangenheit und Zukunft ins Hier und Jetzt, in die Gegenwart. So kann allmählich etwas von der Gegenwart Gottes aufleuchten, so kann der Ich-Bin-Der-Ich-Bin erfahrbar werden.

Franz Jalics ist ein Praktiker. Seine Stärke ist weniger über das Wesen von Kontemplation nachzudenken, zu schreiben und zu sprechen, als Menschen ganz konkret, Schritt für Schritt einen kontemplativen Weg zu zeigen und sie auf ihm zu begleiten. Die Beschreibung, was im Gehen dieses Weges geschieht, was einem begegnet, wie man mit bestimmten Phänomenen, die sich einstellen, umgehen und wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll, damit der Weg weiterführt, ist sein Anliegen. Hilfreiche Anleitung und Begleitung eines kontemplativen Weges, darum geht es ihm.

Diese einfache Weise des Betens und Lebens, die er zeigt, gründet zutiefst in der christlichen Tradition. Sie trifft ein Bedürfnis unserer heutigen Zeit. Die Sehnsucht nach Ruhe und Stille, nach einfachem Dasein und nach Erfahrung ist groß. Durch den Weg, den er zeigt, ist es ihm gelungen, eine in vielen Menschen lebende Sehnsucht zu stillen. Auf diesem Weg geschieht Verwandlung und Heilung. Viele Menschen haben das erfahren. In Religion, in der christlichen Religion steckt eine große transformative Kraft.

Mit dem von ihm gegründeten Haus Gries hat Franz Jalics zudem einen heute weit über Deutschland, ja sogar über Europa hinaus bekannten Ort geschaffen, der unzähligen Menschen Bezugspunkt und Heimat geworden ist. Menschen, die dort Kurse besucht haben, fühlen sich mit ihm verbunden. In Zeiten, in denen Menschen sich mit einer Bindung an die Kirche als Ganze oder eine bestimmte Pfarrei schwer tun, sind solche geistliche Orte von Bedeutung.

Bis heute werden in diesem Haus das ganze Jahr über kontemplative Exerzitienkurse angeboten, die nach wie vor gut besucht sind. Luxus gibt es nicht. Ausstattung und Lebensstil sind einfach. Eine Gruppe von Voluntär(inn)en macht die Hausarbeit, die Kursteilnehmer(innen) helfen mit. Es wird auch nicht auf die Armen vergessen. Projekte in Entwicklungsländern werden unterstützt. Die Atmosphäre der Stille, der Einfachheit, der Solidarität ist spürbar. Sie zieht Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Religion und Konfession an. Dort finden sie einen Raum, in dem sie zur Mitte finden können, wo das göttliche Wort hörbar werden kann.

Mensch, Weg, Ort – diese drei Begriffe, die für mich das Lebenswerk von Pater Franz Jalics charakterisieren, scheinen mir zukunftsweisend zu sein. Wenn es der Kirche, wenn es uns gelingt, mehr davon zu haben, dann ist es möglich, die meines Erachtens große spirituelle Sehnsucht der Menschen heute aufzugreifen und „den Seelen zu helfen“ – wie es Ignatius von Loyola ausgedrückt hat, zu dessen Orden Franz Jalics gehört.

 


Franz Dünzl | Würzburg

geb. 1960, Professor für Kirchengeschichte des

Altertums, christliche Archäologie und Patrologie

franz.duenzl@mail.uni-wuerzburg.de

Abgrenzung oder Anpassung?

Impulse aus der Frühen Kirche

Den Mentalitätswandel nachzuzeichnen, der die frühen Christen aus einer ursprünglich dominierenden Fremdheit in der Welt zu einer stärkeren Integration führte, war ein Anliegen, dem ich in einer 2015 erschienenen Monographie nachgegangen bin.1 Dieser Wandel war weder eingleisig noch geradlinig, auch wenn sich, auf lange Sicht hin, doch eine klare Tendenz in Richtung einer weltlicher werdenden Kirche abzeichnete. Dennoch blieben die beiden Pole Weltdistanz und Weltverantwortung in den christlichen Milieus unterschiedlich wirksam, und das Fazit der Studie verwies seinerseits auf die notwendige Spannung, die christliche Spiritualität bleibend prägen sollte: Sie bliebe – auf persönlicher wie auch auf gesellschaftlicher Ebene – „unvollständig, wenn das Moment des Engagements oder das Moment der Weltdistanz völlig fehlen würde“,2 auch wenn deren Gewichtung sich immer wieder ändern kann oder neu justiert werden muss. Hier die rechte Balance zu finden, ist keineswegs leicht, es bedarf der „Unterscheidung der Geister“ (vgl. 1 Kor 12,10), wie ich an folgendem Beispiel zeigen will.

Der Streit um die „Servicekirche“

Das Thema, das die innerkirchlichen Diskussionen schon mehrfach beschäftigt hatte,3 wurde im Februar 2016 virulent,4 nachdem sich der damalige Pfarrer der Münsteraner Heilig-Kreuz-Kirche, Thomas Frings, aus seinem Amt zurückgezogen hatte, weil er u.a. in der Sakramentenpastoral nicht länger die Erwartungen und Ansprüche derer erfüllen wollte, die die Kirche als Dienstleister sehen und einen entsprechenden Service nach ihren eigenen Wünschen verlangen, ohne sich selbst nachhaltig in die Gemeinde einzubringen.

Dieser publik gemachte Protest5 stieß nicht nur auf viel Verständnis, sondern auch auf harsche Kritik:6 Welchen anderen Auftrag hätte die Kirche denn als zu dienen?! Das kirchliche Amt sei doch nicht dazu da, Herrschaft auszuüben und den Gläubigen die „Erwartungen der kirchlichen Funktionsträger“7 aufzudrängen, mit denen sie nichts anfangen könnten; vielmehr sollten sie in ihren Bedürfnissen und ihrer Lebenswirklichkeit ernst genommen und begleitet werden. Gerade so erfülle die Kirche den Auftrag Christi.

Das Problem lässt sich auf die Frage zuspitzen: Sollen die Bischöfe und ihre pastoralen Mitarbeiter(innen) kirchlicherseits Ansprüche formulieren, mit denen sie die Gläubigen bzw. potenzielle Interessent(inn)en konfrontieren, oder ist es ihre Aufgabe, für eine sich verändernde Nachfrage das jeweils erforderliche Angebot bereitzustellen und es nach Möglichkeit mit spirituellem Leben zu erfüllen? Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt (Abgrenzung oder Anpassung?), würde es mehr oder eben weniger Taufen und kirchliche Eheschließungen sowie Zulassungen zur Erstkommunion und Firmung geben und dementsprechend eher Zufriedenheit oder Unmut bei den potenziellen Interessent(inn)en, deren Erwartungen erfüllt oder eben enttäuscht würden. Die Lösung dieser Frage liegt keineswegs auf der Hand, denn natürlich stellen Ereignisse wie eine Hochzeit oder die Geburt eines Kindes Wegmarken einer Biographie dar, die die Betroffenen aus der Alltagsroutine herausreißen und den Boden bereiten können für neue Erfahrungen und Sinndeutungen des Lebens. Die Erstkommunion und die Firmung wiederum bieten auch heute noch oft den Anlass, dass Familienangehörige, Freunde und Paten zu einem Fest zusammenkommen, um mit den Kindern und Jugendlichen zu feiern. Andererseits wird wohl niemand bestreiten können, dass die Pastoral, die gerade mit Hilfe der Sakramente diese Erfahrungen und Anlässe „in einen Deutungszusammenhang mit der Heilszuwendung Gottes bringen“ soll,8 in vielen Fällen keine dauerhafte Wirkung erzielt – und es wäre m.E. ungerecht, das pauschal der Inkompetenz der Seelsorger(innen) anzulasten, auch wenn es abschreckende Beispiele geben mag.

Gibt es einen Königsweg in dem Dilemma zwischen „Sakramentenservice“ und „Sakramentenrigorismus“, die ein jeweils anderes Weltverständnis und -verhältnis repräsentieren?

Frühchristliches Paradigma Katechumenat

Nimmt man das frühe Christentum zum Maßstab, wäre die Antwort (zumindest in der Zeit vor Konstantin) der Tendenz nach klar: Die Anforderungen an die Taufbewerber(innen) waren hoch, es fand eine regelrechte Auslese statt. Das Motto lautete nicht: Möglichst schnell möglichst viele Leute taufen! Es ging vielmehr darum, das religiöse Niveau der Gemeinde zu halten. Die Taufinteressent(inn)en brauchten Bürgen (Paten), die sie auf dem mehrjährigen Weg zur Taufe begleiteten, für die Ernsthaftigkeit ihres Taufwunsches einstanden und ihre Bewährung bezeugen sollten. Noch vor Beginn der Taufvorbereitung wurden die Motivation der Interessent(inn)en geprüft und ihre persönlichen Lebensumstände eruiert – einige Berufe waren vom Katechumenat grundsätzlich ausgeschlossen. Die Taufvorbereitung dauerte ungefähr drei Jahre und verlangte von den Katechumenen nicht nur die Teilnahme an Unterweisungen, Gebeten, Wortgottesdiensten, sondern auch soziales Engagement in der Gemeinde, weil „Trittbrettfahrer“ eben nicht erwünscht waren. Vor der Zulassung zur eigentlichen Taufe fand nochmal eine Prüfung statt, die das gesamte Verhalten der Katechumenen während der Vorbereitungszeit in den Blick nahm, um entscheiden zu können, ob die Bewerber(innen) schon „reif“ für die Taufe wären oder zurückgestellt werden müssten. Diese Hürden galten im Übrigen zugleich auch für die Firmung und Kommunion, die ursprünglich im Rahmen einer einzigen Initiationsfeier gespendet wurden – die Teilhabe an der Eucharistie, in der sich die volle Zugehörigkeit zur Gemeinde konkretisierte, war ja das letzte Ziel der jahrelangen Vorbereitung.

Ohne dieses Vorgehen mit den heutigen Kategorien Machtausübung oder Dienstleistung messen zu wollen, ist festzuhalten, dass die Katechumenen einer Vielzahl von Anforderungen und einer strengen Kontrolle unterworfen waren – dem konnte man sich natürlich entziehen, musste dann aber das Risiko des Taufaufschubs in Kauf nehmen. Die Gemeinden sahen sich zu dieser Praxis legitimiert, weil man fest davon überzeugt war, den Taufinteressent(inn)en den (einzigen) Weg zum Heil zu zeigen, der ihnen freilich auch etwas abverlangte. Man wollte das Initiationssakrament (Taufe – Firmung – Eucharistie) nicht vorschnell spenden, um keine „halben“ Christen in die Gemeinde aufzunehmen.

Diese Gefahr wurde erst nach der sog. Konstantinischen Wende zum ernsten Problem, als sich die Kirche infolge des Massenzustroms an die geänderten Verhältnisse anpasste und eine intensive Prüfung und Beurteilung der einzelnen Bewerber(innen) im Katechumenat nicht mehr möglich war. Die Taufvorbereitung wurde formalisiert und stärker ritualisiert, und nach und nach entstand die Volkskirche, in der es freilich viele „halben“ Christen gab.9 Die Kirche gewann an gesellschaftlicher Bedeutung, verlor aber an Profil. Die allmähliche Durchsetzung der Kindertaufe tat ein Übriges, denn sie machte den Katechumenat in der bisherigen Form und das persönliche Erlebnis der Taufe als Lebenswende unmöglich und zog die Verselbständigung der Firmung und Erstkommunion nach sich – das Initiationssakrament wurde entzerrt und die Eingliederung in die (Volks-)Kirche zeitlich gestreckt. Immerhin war aber gewährleistet, dass die Kinder und Jugendlichen in einer christlich geprägten Gesellschaft aufwuchsen.

Heute hat sich die Dynamik umgekehrt: Die Pluralität unserer Gesellschaft nimmt von Generation zu Generation zu, die Volkskirche löst sich allmählich auf, und so liegt das Motto nahe, zu retten, was zu retten ist, und über jede Anmeldung zur Taufe froh zu sein, auch wenn eine christliche Sozialisation der Kinder nach der Taufe nicht mehr zu erwarten ist. Es stellt sich dann aber doch die Frage, ob die Kirche damit nicht nur „halbe“ Christen in Kauf nimmt, sondern sich mit einem rudimentären Christentum in „homöopathischer Verdünnung“ zufrieden gibt? Können Taufe, Eucharistie und Firmung in einem solchen Umfeld wirklich noch die „bedingungslose Zuwendung Gottes zu den Menschen“ erfahrbar machen, oder bedeuten sie nur noch formalisierte Riten, die zu einem Familienfest traditionell eben mit dazugehören, aber mangels Vorbereitung und wegen fehlender Konsequenzen im Leben nicht verankert sind und so gerade nicht zum Ausdruck bringen können, was sie zum Ausdruck bringen wollen? Dazu gehört (bei jedem Sakrament!) ja auch der Lebensbezug zur kirchlichen Gemeinschaft.

Profilierung – aber wie?

In einer Gesellschaft, die sich dem Christentum nach und nach entfremdet, scheint mir eine Rückbesinnung auf das besondere Profil des Glaubens notwendig, das nicht nur in einer unbestimmten Dienst-Willigkeit besteht. Das Matthäusevangelium etwa endet mit dem Auftrag des Auferstandenen, zu allen Völkern zu gehen, sie zu taufen und zu lehren, alles zu befolgen, was er seinen Jüngern geboten hatte (Mt 20,28); dabei ist, wie der Neutestamentler U. Luz anmerkt, auch an die Bergpredigt gedacht, in der Matthäus die Lehre Jesu zusammengefasst hatte.10 Profillos kann man diese Lehre nun wirklich nicht nennen (eher radikal …), und fraglich scheint mir nicht, ob die Taufe Ansprüche an die Jünger(innen) Jesu stellt, sondern inwieweit diese Ansprüche überhaupt erfüllbar sind.

Vor diesem Hintergrund hielte ich es für ungerecht, das Anliegen einer Profilierung des Glaubens als Machtbesessenheit kirchlicher Amtsträger zu deuten, denn es geht dabei ja um das Selbstverständnis aller Christen, die ihren Glauben ernst nehmen und dem Anspruch Jesu, so weit es ihnen möglich ist, gerecht werden wollen. Dass eine Intensivierung der Taufvorbereitung – und das heißt: der Vorbereitung der Eltern und Paten – und ebenso der Kommunion- und Firmvorbereitung nicht den einzelnen Gemeinden überlassen bleiben kann, sondern wenigstens im Grundsatz von den Bischöfen bzw. den Bischofskonferenzen geregelt werden müsste, ist eine Frage der Effizienz, damit alle am gleichen Strang ziehen (und wenn möglich in dieselbe Richtung …). Ohne gemeinsame Regelungen käme es zu pastoralen Konkurrenzsituationen oder gar zu individueller Willkür.

Aber führt dieses Plädoyer nicht doch in die verkehrte Richtung? Verbirgt sich dahinter nicht die böse Vorstellung vom „Gesundschrumpfen“ der Kirche, das nur einen „heiligen Rest“ – oder eine Sekte von Fanatiker(inne)n? – übrig lassen wird bzw., um es bildhaft auszudrücken, eine „Wagenburg“, die sich nach außen hin abschottet? Wäre es verantwortbar, so viele Leute vor den Kopf zu stoßen, die mit den durchschnittlichen Erwartungen an Taufe, Erstkommunion, Hochzeit herangehen und dann mit Ansprüchen konfrontiert werden, die sie nicht erfüllen wollen? Werden sie damit zum Kirchenaustritt nicht geradezu motiviert?

Mir scheint, dieses Dilemma hat ursächlich damit zu tun, dass in unserer gesellschaftlichen Realität in gewisser Weise die Illusion der Kirchenzugehörigkeit äußerlich aufrechterhalten wird, in den Registern der Standes- und Finanzämter sowie in den kirchlichen Matrikelbüchern bzw. Datenbanken. Das „automatisierte“ Kirchensteuersystem in Deutschland ist dazu angetan, diesen Anschein zu bestätigen, denn die innere Zugehörigkeit zur Kirche ist dabei als Maßstab nicht bedeutsam – im Konfliktfall aber wird die Diskrepanz bewusst, und es scheint doch verständlich, dass jemand, der sich zur Kirche nicht zugehörig fühlt, dann auch die Konsequenzen zieht. Das tun immer mehr Menschen, die aus der katholischen oder evangelischen Kirche austreten. Dieser Prozess ist im Gange, unabhängig davon, welche Anforderungen an die Gläubigen gestellt wurden oder noch gestellt werden könnten. Er kann beschleunigt werden, aber aufzuhalten ist er in der jetzigen Situation aller Voraussicht nach nicht.

 

Insofern sollten sich die Kirchen nicht vorrangig von der Zahl der Kirchenaustritte und den Prognosen über schwindende Kirchensteuereinnahmen leiten lassen, wenn es um ihr eigenes Profil geht. Es ist auf Dauer nicht sinnvoll, sich etwas vorzumachen, eine Illusion am Leben zu erhalten, man muss der Realität ins Auge sehen. Die Option, die Sakramente der Taufe, Eucharistie, Firmung und Eheschließung von der Sakraments-Fähigkeit bzw. -Befähigung abhängig zu machen, könnte man als ein Plädoyer zu mehr Weltdistanz verstehen; aber in einem dialektischen Sinn würde das umgekehrt der Weltverantwortung der Kirche dienen, weil sie ohne erkennbares Profil nicht mehr „Salz der Erde“ sein kann, vom „Licht der Welt“ ganz zu schweigen.

Beispiel Ehekatechumenat

Einen Schritt in Richtung einer intensivierten und anspruchsvolleren Sakramentenpastoral sind im Februar 2017 die deutschen Bischöfe in ihrem Hirtenwort zum Papstschreiben Amoris laetitia gegangen,11 das sich mit dem Thema Ehe befasst. Im Blick auf die Ehevorbereitung schreiben sie: „Hier bedarf es weiterer Anstrengungen zur Entwicklung eines Ehekatechumenats, der den Weg zur Ehe als bewussten Glaubensweg begleitet.“ Zwar gebe es bereits zahlreiche Initiativen, aber „viele dieser Angebote finden (…) zu punktuell statt und erreichen zu wenige Paare (…) Unsere Ehevorbereitungspastoral bedarf daher einer Intensivierung, eines verbindlicheren und zugleich überzeugenderen Charakters.“12

Im Blick auf mögliche Einwände13 ist festzuhalten: Ziel des ganzen Unternehmens wäre nicht die Bevormundung der Interessent(inn)en, sondern die Ermöglichung einer Entscheidung: Die Paare sollten selbst zu Wort kommen, ihre eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen formulieren und mit dem Verständnis der Ehe als Sakrament abgleichen können, was freilich auch hohe soziale Kompetenz bei den Seelsorger(inne)n voraussetzt. Sinnvoll wäre eine solche Ehevorbereitung ja schon deswegen, weil viele Paare – wie Papst Franziskus wohl zu Recht vermutet – heutzutage trotz kirchlicher Trauung keine gültige Ehe schließen, da ihr Eheversprechen nur bedingt bzw. vorläufig ist, selbst wenn das nicht dokumentiert wird.14 Das Wissen darum, was eine sakramentale Ehe bedeutet oder voraussetzt, ist alles andere als selbstverständlich.

Dass ein solcher Ehekatechumenat zeitaufwändig wäre und viele Paare von einer kirchlichen Trauung abhalten könnte, weil sie sich mit der sakramentalen und spirituellen Dimension der Eheschließung nicht intensiver auseinandersetzen wollen, ist erwartbar. Aber der Trend unserer Zeit geht ja sowieso schon dahin, dass sich weniger Paare als früher für eine kirchliche Trauung entscheiden. Dieser Trend würde durch die Einführung eines verbindlichen Ehekatechumenats verstärkt und vielleicht gehen die Bischöfe ja genau deshalb eher behutsam an das Thema heran, um ein drastisches Einbrechen bei der Zahl der kirchlichen Eheschließungen und eine weitere Zunahme der Kirchenaustritte (inklusive einer Verminderung der Kirchensteuereinnahmen) zu vermeiden. Das ist sicher pragmatisch gedacht, verlängert aber die Zeit des unvermeidlichen und oft auch quälenden Übergangs von der früheren Volkskirche hin zur Entscheidungskirche, die sich erst langsam und fast unauffällig entwickelt.

Beispiel Firmung – Folgerungen

An einigen Punkten freilich wird dieser Übergang bereits deutlich: Zur Firmvorbereitung sollen sich Jugendliche in etlichen Bistümern heute selber anmelden (auch um ihre Taufe, die sie ja meist nicht bewusst miterlebt haben, in eigener Verantwortung zu ratifizieren), aber längst nicht mehr alle folgen der Einladung dazu. Es scheint mir auch ehrlicher, wenn Jugendliche, die mit dem Glauben und dem kirchlichen Leben nicht viel anzufangen wissen, sich nicht pro forma der Firmung unterziehen, auch wenn das Phänomen halb-initiierter Christen (getauft, aber nicht gefirmt) z.B. im Blick auf eine spätere kirchliche Eheschließung neue Fragen und Probleme aufwirft.

Zu konstatieren ist also, dass getaufte Jugendliche bewusst auf Firmvorbereitung und Firmung verzichten; ähnlich könnten sich junge Paare künftig gegen ein Ehekatechumenat und die kirchliche Trauung entscheiden und Eltern könnten sich die Frage stellen, ob sie an einer anspruchsvolleren Vorbereitung auf die Taufe ihrer Kinder teilnehmen wollen oder nicht. Natürlich sind Kinder, die nicht getauft wurden, Jugendliche, die sich nicht firmen lassen, und Paare, die keine kirchliche Eheschließung wünschen, deshalb keine schlechteren Menschen. Sie liegen Gott auch nicht weniger am Herzen als überzeugte Christen, und ihr Leben wird ebenso von Glück und Unglück erfüllt sein wie das aller anderen Menschen. Der Unterschied ist nur, dass sie ihr Leben nicht in den Deutungszusammenhang der christlichen Botschaft stellen und auf deren Sinnpotenzial verzichten. Und ebenso gilt: Wer getauft ist und die Taufe bewusst in sein Leben integriert, erlebt nicht schon deshalb mehr oder weniger Glück oder Unglück als andere, aber er wird anders damit umgehen. Wer gefirmt ist und den Beistand des Heiligen Geistes immer wieder sucht, wird deshalb nicht klüger, erfolgreicher, fröhlicher sein als andere, aber er wird immer wieder neu Maß nehmen an der inspirierenden Botschaft des Evangeliums und teilhaben am inspirierten Gebet und am Gottesdienst der Gemeinde. Paare wiederum, die sich bewusst auf das christliche Fundament ihrer sakramentalen Ehe beziehen, bleiben deshalb auch nicht von Schwierigkeiten und Krisen verschont, aber sie werden versuchen, sie in einem anderen Horizont zu bewerten und zu meistern.

Das setzt aber jeweils voraus, dass getaufte, gefirmte und sakramental verheiratete Christen irgendwann mitbekommen haben, was Taufe, Firmung und das Sakrament der Ehe für ihr gesamtes Leben bedeuten – denn diese Sakramente sind keine Einzelereignisse (auch wenn Taufe und Firmung nur einmal gespendet werden können und eine bestehende Ehe nicht sakramental erneuert werden kann), sondern Zeichen, die über der menschlichen Existenz als ganzer aufgerichtet werden und in ihrer Bedeutung nach und nach erlebt und eingeholt werden müssen. Sie können ihre Wirksamkeit (die Gnade) nur im Prozess entfalten. Es ist darum entscheidend, dass die Beteiligten im Vorfeld klären, ob sie an diesem Prozess tatsächlich teilnehmen und ihn mitgestalten wollen oder nicht – das gilt natürlich auch für die Erstkommunion, die ja den Beginn (und nicht das Ende) eucharistischer Gemeinschaft bezeichnen soll.

Kreative Neujustierung

Von daher scheint es mir – durchaus im Bewusstsein, dass es Gegenargumente gibt, dass Chancen vertan werden können und Unmut erzeugt wird – dennoch langfristig sinnvoller, nicht nur allgemein die Anstrengungen in der Sakramentenpastoral zu verstärken, sondern im Blick auf den Anspruch des Evangeliums die Anforderungen zu formulieren, die in der Vorbereitung auf die Sakramente zum Tragen kommen sollten, und diese Anforderungen auch verbindlich zu machen. Ein solcher Abschied von der „Servicekirche“ kann freilich nicht in einer halsbrecherischen Kehrtwende vollzogen werden. Über die Richtung aber sollte Klarheit erzielt werden, damit in den Bistümern, sozusagen im Wettbewerb, kreative Modelle der Motivklärung und Sakramentenbefähigung entwickelt, miteinander verglichen und nach und nach verbessert werden können.

Doch noch einmal die Rückfrage, die notwendig ist, um Voreiligkeit und Einseitigkeit zu vermeiden: Wendet sich die Kirche bei einem solchen Kurs(wechsel) nicht von weiten Kreisen der Bevölkerung ab, lässt sie sie nicht im Stich, verrät sie damit nicht ihren Auftrag? Das muss nicht so sein. In dem Buch, das Thomas Frings nach seinem Rückzug aus der Arbeit als Pfarrer veröffentlicht hat, finden sich dazu wichtige Impulse: Er kann sich offenere Angebote für Menschen vorstellen, die nicht in die Gemeinden integriert sind und sich auch nicht enger an die Kirche binden wollen.15 Für Eltern etwa, die ihr Kind unter den Schutz Gottes stellen wollen, ohne damit eigene Verpflichtungen im Blick auf eine christliche Erziehung einzugehen, die sie dann doch nicht erfüllen würden, wäre – statt der Taufe – eine Segensfeier angemessen, die auch eher den individuellen Wünschen der Beteiligten angepasst werden könnte. Sie könnte ggf. mit Riten des Katechumenatsbeginns gestaltet werden, als Anfang eines Weges, der fortgesetzt werden kann oder eben nicht (ein berühmtes Beispiel aus der Alten Kirche ist Augustinus, der schon als Kleinkind in den Katechumenat aufgenommen, aber erst mehr als drei Jahrzehnte später getauft wurde). Diese Entscheidung hängt von den Eltern ab – erst wenn die Eltern zum „inneren Kreis“ der Gemeinde gehören und deshalb ihr Kind auch taufen lassen wollen, käme die Taufvorbereitung (für Eltern und Paten) ins Spiel. Taufe bedeutet ja weit mehr als eine Segnung und ist auch mit der „Zuwendung Gottes“ nur unzureichend umschrieben: Sie nimmt den Täufling hinein in Tod und Auferstehung Jesu Christi; anders gesagt: Sie stellt sein Leben unter das Kreuz, das er oder sie in der Nachfolge Christi tragen muss, ohne dabei die Hoffnung aus dem Blick zu verlieren. Ich kann mir vorstellen, dass Eltern, die ihrem Kind ja nur Gutes wünschen, vor dieser Perspektive erst mal zurückschrecken. Von daher wäre das Format einer Segensfeier, die allen offensteht, die diesen Zuspruch Gottes für ihr Kind wünschen, durchaus sinnvoll.16