Loe raamatut: «Lebendige Seelsorge 2/2019»

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INHALT

THEMA

Hör auf(!)s Scheitern…

Von Maria Elisabeth Aigner

Scheitern und Aufhören als spirituelle Herausforderung und Ressource

Von Katharina Karl

Was hat Scheitern mit Gott zu tun?

Die Replik von Maria Elisabeth Aigner auf Katharina Karl

Sein dürfen und Sein lassen

Die Replik von Katharina Karl auf Maria Elisabeth Aigner

Im Scheitern aufhören können

Praktisch-theologische Impulse zum Umgang mit bedeutsamen Verlusten

Von Christian Kern

PROJEKT

Letzte-Hilfe-Kurse

Ein Beitrag zu einer sorgenden Gemeinschaft

Von Petra und Tilman Kirste

INTERVIEW

„Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Schabbat.“

Ein Gespräch mit Werner Kohler

PRAXIS

Schluss machen

Oder: Von der Kunst, mit dem Aufhören anzufangen

Von Hans-Joachim Höhn

Eine Ordensgemeinschaft hört (auf)

Oder: Das Ende des einen ist der Anfang eines anderen

Von Sr. Benedicta-Maria Kramer

Gepflegt scheitern

Der Salzburger Coworking Space „Mirabell5“ und die „FuckUp Nights“ für junge Unternehmer

Von Dominik Elmer

Erfolgskritische Faktoren einer charismenorientierten Pastoral

Lernen aus einem gescheiterten Experiment

Von Theresa Faupel

Mit Gott aufhören

Von Gotthard Fuchs

Als die Geschichte zu Ende war

Deuteronomistische Theologie angesichts der Katastrophe des Exils

Von Barbara Schlenke

FORUM

Homiletische Entwicklungen in Polen

Einblicke in eine kaum bekannte Landschaft

Von Leszek Szewczyk

POPKULTURBEUTEL

Ikonen

Von Stefan Weigand

NACHLESE

Re:Lecture

Von Peter Walter

Buchbesprechungen

Impressum


Bernhard Spielberg Mitglied der Schriftleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

dreißig Stunden müssen reichen. So viel Zeit ist für das Durchschreiten der Niederlage vorgesehen. So lange ist Unordnung erlaubt, steht das Programm still. Dann muss es weitergehen. Noch prächtiger als zuvor. Dreißig Stunden liegen zwischen dem „Es ist vollbracht“ der Karfreitagsliturgie und dem „Lumen Christi“ der Osternacht. Dreißig von achttausendsiebenhundertsechzig Stunden im Jahr.

In Kirchen lässt sich in dieser Zeit beispielhaft beobachten, wie unterschiedlich auch in der Seelsorge mit dem Scheitern umgegangen wird: Die einen bleiben beim Alten. Weggeräumt wird nur, was man beim Auszug unkompliziert aus dem Altarraum mitnehmen kann. Es muss ja ohnehin bald wieder alles an seinem Platz sein. Andere können es kaum erwarten, wieder Halleluja zu singen. Das Osterfeuer wird noch im Sonnenschein des Karsamstags entzündet. Wieder andere verklären Leid zur Tugend und Schmerz zur Prüfung – untermalt durch detaillierte Darstellungen. Und es gibt die, die der Leere Platz machen, die sich in Liturgie wie Pastoral dem Scheitern aussetzen, sich aber auch nicht damit abfinden.

In dieser letzen Spur bewegt sich dieses Heft. Es hat zwei merkwürdig unverbundene Themen: Scheitern und Aufhören. Beide werden zunächst für sich betrachtet: Maria Elisabeth Aigner und Katharina Karl gehen den psychologischen bzw. spirituellen Ebenen des Scheiterns auf den Grund. Christian Kern nimmt daran anschließend die feine Verbindung zwischen beiden in den Blick: Im Widerfahrnis des Scheiterns kann die unverfügbare Gabe des Aufhörens liegen. Sie braucht Orte und Rituale, um wirksam zu werden und zu einem neuen Anfang zu verhelfen. Auf dieser Linie bewegen sich die weiteren Beiträge: So beschreiben unter anderem Petra und Tilman Kirste ganz praktisch „Letzte-Hilfe-Kurse“, Hans-Joachim Höhn entfaltet die Kunst, mit dem Aufhören anzufangen. Schließlich zeigen Gotthard Fuchs und Barbara Schlenke – in je eigener Perspektive –, was passieren kann, wenn man Gott aufhört.

Die dreißig Stunden nach dem Kreuzestod sind ein kostbares Leerzeichen der Liturgie: Ostern wird es nicht trotz des Scheiterns, und auch nicht wegen des Scheiterns. Ostern kann es im Scheitern werden. „Das Gelingen“ – so hat es Klaus Hemmerle formuliert – „muss immer erscheitert werden. Die Erlösung muss immer erscheitert werden.“

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!


JProf. Dr. Bernhard Spielberg

THEMA

Hör auf(!)s Scheitern…

Soeben hat es draußen zu regnen aufgehört – so wie das Klavierspiel des Nachbarn direkt ober mir plötzlich zu einem Ende gekommen ist. Hat er von selbst zu spielen aufgehört? Hat ihm jemand gesagt: „Hör auf zu spielen!“? Oder ist er an dem anspruchsvollen Stück gescheitert? Im Tod fallen das Aufhören und das Scheitern zusammen. Das Leben geht zu Ende, es hört auf – unwiederbringlich. In dem Moment scheitern wir mit all unseren Vorhaben und Vorgaben, unserem Sehnen und Verlangen, dem Dasein noch ein wenig Zeit abzuringen. Jedes Leben geht auf dieses Scheitern zu.

Maria Elisabeth Aigner

Im ursprünglichen Wortsinn war es das Schiff, das „scheiterte“, und zwar an den Klippen der Küste. Dort zerbirst und zerschellt es, bricht in tausend Stücke, wird zerstört (vgl. Klessmann, 256). So kann sich scheitern auch existentiell anfühlen, und zwar dann, wenn das Leben nicht von Erfolg gekennzeichnet ist, nicht „geglückt“ zu sein scheint.

Die Psychologie hat – um lebensgeschichtliche Brüche zu beschreiben und zu veranschaulichen – vor allem auf die Begriffe Krise, Trauma oder Konflikt rekurriert und auch deutlich gemacht, wie wir uns dazu verhalten können: mittels Kriseninterventionen, Resilienz, Trauma- und Konfliktbewältigungsstrategien.

Der Begriff des Scheiterns hingegen suggeriert Endgültiges. Scheitern scheint in westlichzivilisierten kapitalistischen Gesellschaften mit ihren neoliberalen Wirtschaftssystemen genau das Gegenteil von „Erfolg“ zu sein. Das Start-up Unternehmen ist gescheitert, weil es pleitegegangen ist; Ehen und Paarbeziehungen scheitern, die Medizin „scheitert“, wenn die Krankheit zum Tod führt; „gescheiterte Existenzen“ sind es, die man unter den Psychiatriepatient/innen in der geschlossenen Abteilung, den Obdachlosen und Pennern zu finden meint. Auch Jesus „scheitert“ am Kreuz. Scheitern gehört insofern konstitutiv in das begriffliche Repertoire christlicher Theologie. Wenn das Gegenteil von Scheitern zur Voraussetzung und Bedingung für das Leben wird, ist es die Theologie, die ihre Stimme erheben muss.

SCHEITERN UND CHANCE

Krisen, Konflikte, traumatische Ereignisse sind ebenso wie das Scheitern gewissermaßen Bestandteil jeder Biografie. Sie gehören zu den Wachstumsprozessen im Lebensverlauf. Das Leben „wider-fährt“ uns mit voller Wucht – auch wenn wir geneigt sind, uns manches Mal gegen dieses Widerfahrnis aufzulehnen und entgegenzustemmen, dagegen aufbegehren wollen. Heftige Ereignisse von außen können Prozesse des Scheiterns in Gang setzen. Scheitern gibt es jedoch auch im Stillstand, in der Erstarrung der Lebendigkeit, im Festgezurrt-Sein durch Muster und unhinterfragte Gewohnheiten. Zum Leben gehört auch all das, was überhaupt Leben ermöglicht: materielle und geistige Nahrung, Sicherheit und Geborgenheit, Zuwendung, Beziehung, Liebe und Glück. Um den Alltag bewältigen zu können, benötigen Menschen eine bestimmte Form von ontologischer Sicherheit („ontological security“), wie dies der Soziologe Anthony Giddens bezeichnet. Im Kontext von Pastoralpsychologie und Seelsorge spricht man in diesem Zusammenhang von „Seinsgewissheit“ (Ziemer, 221), die nötig ist, um angesichts menschlicher Kontingenzerfahrungen Boden unter den Füßen zu behalten.

Maria Elisabeth Aigner

Ao. Univ.-Professorin am Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz; Leiterin der Abteilung für Pastoralpsychologie; Lebens- und Sozialberaterin; Bibliodrama- und Bibliologtrainerin international; Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen an der Universität Graz.

Krisenphänomene erschüttern diese Seinsgewissheit in zweifacher Hinsicht. Zum einen sind sie Bestandteil jeder lebensgeschichtlichen Übergangssituation und haben mittlerweile auch im populärpsychologischen Sprachgebrauch Eingang gefunden: Pubertätskrisen, Ehe- oder Beziehungskrisen und der Pensionsschock gehören als Entwicklungskrisen zur Alltagserfahrung. Im verhaltenen oder offensiven Trubel und Chaos andauernder Identitätsfindungsprozesse macht sich aus dem Unterbewussten langsam ins Bewusstsein tretend die Erkenntnis breit, dass Veränderung ansteht. Etwas funktioniert im eigenen System und in Relation zur Umwelt nicht mehr so wie bisher. Die Krise signalisiert, dass es zu einem Wandel kommen wird. Es ist dies die Zeit, wo verfestigte Muster und Strukturen sich verflüssigen und der Stillstand aufgehoben wird.

Die Lebenserfahrung zeigt, dass Krisen- und Konfliktsituationen ein großes Potenzial beinhalten. Zugleich erleben Menschen diese Phasen mitunter äußerst schmerz- und leidvoll und trachten nach möglichst schneller Bewältigung, was einem heilsamen Entwicklungsprozess zumeist entgegensteht.

Zum anderen wird in sogenannten „Aktualkrisen“ (Rössler, 454) erfahren, dass die selbstverständliche und vertraute Routine des Lebens einen gewichtigen Einschnitt erfährt. Wenn die Krise nicht mehr allein ein verunsichernder, angstmachender, mit Schmerz verbundener Teil des Alltags ist, sondern sich wie ein Zusammenbruch anfühlt, der das Leben bis in die tiefsten Ritzen hinein erschüttert und infrage stellt, nimmt die Krisenerfahrung eine anders gelagerte Bedeutung an. Trennung, Tod, Verlust, Missbrauch, Krankheit, Ruin können Menschen so sehr zusetzen, dass es zu Traumatisierung, Störungen und totalem Rückzug kommt, der auch in einer suizidalen Krise enden kann, wenn die notwendigen Bewältigungs- und Copingstrategien nicht im hinreichenden Ausmaß vorhanden sind.

Die seelsorgliche Konnotation mit dem Begriff „scheitern“, sowie die Tatsache, dass das Scheitern größeren Endgültigkeitscharakter zu haben scheint als die Krise, verweisen auf die Schuldthematik und die Thematik der Schuldgefühle. Menschen erfahren sich gerade in Zusammenhang mit der Erfahrung von Scheitern in Schuld verstrickt oder werden von Schuldgefühlen geplagt, der bewussten oder unbewussten Überzeugung also, etwas Falsches getan zu haben, was womöglich gar nicht der Fall ist. Es gibt Anteile von Selbst- und Fremdverschulden im Scheitern und selten lassen sich diese klar benennen – weder von Seiten der Betroffenen noch von außen.

Das Erleiden-, Erdulden-, Ertragen-Müssen erzeugt Ohnmacht. Schuldgefühle stellen eine erahnte Möglichkeit dar, für das Geschehene Verantwortung zu übernehmen und sich dadurch nicht mehr so entsetzlich ohnmächtig zu fühlen. Scheitern hat mit Versagen, Niederlagen, Begrenzungen, Scham, sowie mit dem Gefühl des Ausgeliefert-Seins zu tun – allesamt Tabus in einer leistungsorientierten Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund ist das Einsetzen jeglicher Chancenrhetorik im Zusammenhang mit Krisen und Scheitern mit Vorsicht zu genießen. In den Erschütterungsprozessen der Seinsgewissheit auch ungeahnte Chancen zu wittern, kann fatal und notwendig zugleich sein. Es ist fatal und grenzt an Zynismus, dem Gescheiterten in seinem Elend vorschnell mit der Hoffnung, oder mit Potenzialen und Chancen zu kommen. Die Chancen aufzuzeigen ist dennoch wichtig, weil das Wissen, dass im Prozess des Scheiterns auch die Möglichkeit des Eintauchens in eine neue Kehre des Lebens – der Umkehr – liegt, Mut machen kann, nicht aufzugeben. Dem Schicksal des Scheiterns nicht zu erliegen, sondern in ihm in paradoxer Weise den Keim des Neubeginns zu erahnen, dazu gehören Vertrauen ins Leben und Lebenskunst.

In den Erschütterungsprozessen der Seinsgewissheit auch ungeahnte Chancen zu wittern, kann fatal und notwendig zugleich sein.

HÖR AUF (MICH)!

Kinder wissen noch am besten, wie mit Scheitern umgegangen werden kann, denn sie erproben sich spielerisch im Experiment, das das Scheitern mit einschließt. Immer wieder scheitert das Gehen im Probieren der ersten Schritte des Kleinkindes, weil es hinfällt. Und erneut steht es unermüdlich auf, bis die Füße von selber in der aufrechten Fortbewegung tragen. Der kindliche Entdeckungs- und Erkundungssinn und das Wiederholen kennen mitunter keine Grenzen – auch wenn Gefahr droht. „Hör auf!“ ist dann das Signal aus dem Mund der Erwachsenen, um zu verdeutlichen, dass es nun genug ist. „Hör damit auf!“, lautet der Appel, der zugleich suggeriert: „Hör auf mich, ich sage dir, was gut für dich ist!“. Aufhören geschieht, weil wir auf etwas hören – auf die Stimme der Mutter oder auf unsere eigene innere Stimme, die so wie andere Menschen, auf die wir hören, zu uns gehört.

Aufhören hat ähnlich wie das Scheitern etwas mit Grenzerfahrung zu tun. Das Aufhören markiert selbst die Grenze. Das, was war, ist nicht mehr – es wurde beendet. Es gibt einen Bruch, ein Zerschellen der Kontinuität an der Entscheidung, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Die Distanz zum Vorhergehenden kann als schmerzlicher Verlust oder aber auch als befreiende Erleichterung wahrgenommen werden. Die Distanz zu dem, was kommen wird, birgt einen hohen Grad an Verunsicherung in sich. Aufhören, beenden, beschließen heißt in einem ersten Schritt, die Leere auszuhalten, es sei denn, diese Leerstelle wird nicht sofort mit neuer Aktivität aufgefüllt. Es gibt das Aufhören als aktiven Beschluss, aber auch als resigniertes klein Beigeben. Mit etwas bewusst aufzuhören und Schluss zu machen, bedroht, besticht, verunsichert und verletzt, oder es schafft Raum, ermöglicht, erfreut, bereichert.

In diesem Sinne bedeutet Aufhören auch, sich einer bestimmten Ambivalenz auszusetzen. Die Ambivalenz trifft jene, die den Akt des Aufhörens vollziehen, aber auch jene, die passiv davon betroffen sind. Denn einerseits heißt Aufhören oder Beenden, dass etwas Neues entstehen kann, andererseits stirbt etwas Altes. Die eine Seite verlangt, das Alte gehen zu lassen, die andere, sich dem Neuen in einem intensiven Prozess zu öffnen.

Wenn der Schnitt gesetzt wird, ist noch nicht klar, in welche Richtung es sich entwickelt: Kann der Verlust ausgehalten und betrauert werden? Bleibt er eine klaffende Wunde, die sich erst nach langer Zeit schließen wird? Ist das Beendete unwiderruflich beendet oder kann wieder damit „angefangen“ werden? Wird das neu Entstehende wahrgenommen und erkannt, lässt es sich mutig gestalten?

Wie grausam sich der Schnitt des Aufhörens anfühlen kann, ist in Mt 18,8-9 verdeutlicht: „Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu werden.“ Der Preis ist hoch, der Gewinn mächtig: Es geht darum, ins Leben zu kommen und das, was daran hindert, dem Feuer preiszugeben, auch wenn es in einer solchen Nähe zu uns steht wie unser eigener Augapfel.

DAS GESCHENK DES LEBENS

Einfach da zu sein, sich dem Leben ohne viel Aufhebens hingeben zu können und darauf zu vertrauen, dass es durch die Tage und Wochen hindurch trägt, ist möglich durch die unhinterfragte Gewissheit, zu existieren. Krisen und Scheitern bringen Ungewissheit, die vertraute Selbstverständlichkeit der Gewissheit gerät ins Wanken. Dieser Lebensungewissheit und der damit verbundenen tiefen Verunsicherung versucht die Seelsorge etwas entgegenzusetzen, das bestärkt und Empowerment bedeutet. Die Pastoralpsychologie verwendet dafür den Begriff „Lebensvergewisserung“ und meint damit „[…] den Prozess, zu lernen, auf das Leben zu vertrauen“ (Weiß, 50).

Scheitern und aufhören zu können heißt, zu akzeptieren, dass eine gestaltende Lebensmacht unsere Fixierungen, Muster und Anhaftungen aufzubrechen im Stande ist. Mit beidem – dem Scheitern wie dem Aufhören – gehen Schmerz und Leid einher und es wird deutlich, dass es etwas zu verabschieden und zu betrauern gibt. Sicherheit und Gewissheit erscheinen statisch, Vergewisserung bedeutet hingegen, dass es notwendig ist, sich auf einen Prozess einzulassen.

Wenn das Leben ins Wanken gerät, erleben sich Menschen nicht nur orientierungslos und ohnmächtig, sondern auch fragend und suchend. In diesen Lebensabschnitten ist es eine Kunst, sich treu zu bleiben, wehrhaft zu sein und vor allem den eigenen Opferstatus-Anteil zu durchschauen. Das erfordert von seelsorglichen und therapeutischen Expert/innen ein hohes Maß an Realitätswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Demut.

Seelsorge heißt hier, die Angst, das Entsetzen und das Verstummen auszuhalten, ohne sich selbst davon wegschwemmen zu lassen, oder sich mit vorschnellen Vertröstungen dagegen zu immunisieren. Die von Scheitern und Verlusterfahrungen betroffenen Menschen sind diejenigen, die den Keim von Verwandlung und Transformation in sich tragen. Sie kennen den Faden der zu ihren Widerfahrnissen führt, auch wenn dieser Faden noch so dünn sein mag. Menschen, die in Not geraten sind, tragen Wunden in sich und laufen Gefahr, tiefer in diese Wunden gestoßen zu werden (vgl. Lieben, 99). Das geschieht häufig in der Umgebung, die weder am Scheitern noch an den damit verbundenen Konsequenzen interessiert ist, aber auch durch den eigenen „Ankläger“ oder „Richter“ in uns. Wunden brauchen Zuwendung und einen freundlichen Umgang, damit sie der Verwandlung ausgesetzt werden können. Denn es gibt den paradoxen wie unheilvollen Zusammenhang zwischen Wunden und Verachtung. Verachtung aber macht dumpf und fremd sich selbst und seinem Schmerz gegenüber.

Der Seelsorger/die Seelsorgerin erfährt die Begleitung als Spiegelung in Bezug auf den eigenen Umgang mit der Kontingenz des Lebens. Förderlich sind Klarheit, Genauigkeit und Sorgfalt, die Ordnung schaffen im psychischen Chaos, das Katastrophen im Normalfall hinterlassen. Wenn das Spiegelbild vorschnelle Erklärungsmodelle, Genugtuung oder Mitleid sichtbar werden lässt, ist das ein Anlass, sich auf den Weg zu machen, die eigenen abgespaltenen Anteile aufzusuchen.

Im Scheitern liegt Endgültigkeit, weshalb es noch stärker als in Krisensituationen Normen und Glaubenssätze zerbrechen lässt. Was Menschen in dieser Situation in erster Linie brauchen, ist Achtung und das Wiedergewinnen von Verantwortung durch das Aufgeben der Opferrolle. Das ist eine Zumutung – für die/den vom Scheitern Betroffene/n ebenso wie für das begleitende Gegenüber. Das Schicksal der Betroffenen und sie selbst sind weder zu romantisieren noch zu bagatellisieren. Das, was geschehen ist, was losgelassen oder beendet wurde, hinterlässt Leere und Verwirrung. Schuldzuweisungen und Verurteilungen, das Ausüben einer Deutungsmacht, die sich über das Wissen der Betroffen erhebt, schafft Unheil. Menschen wollen in der Würde ihres Schicksals gesehen, verstanden und angenommen werden.

Die Dunkelheit und das Böse lösen Depression, Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Elend aus. Zugleich stehen diese Realitäten ganz nah an der Sehnsucht der Menschen, sich dem Leben ganz und gar anzuvertrauen und es vertieft und sinnerfüllt zu begreifen. Der Apostel Paulus spricht in seinem Brief an die Gemeinde in Rom von der Gewissheit der Hoffnung in allem Leid und schreibt: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes […]“ (Röm 8,38f). Daran zu glauben ist angesichts von Not und Elend, das Menschen aufgrund bestimmter Schicksale aushalten müssen, eine Herausforderung. Jedoch ist anscheinend im Leben selbst – in seiner Natur und schöpferischen Kraft – die Gewissheit zugrunde gelegt, dass es sich ständig selbst verschenkt und erneuert. Das Scheitern will also gehört werden und Gehör finden, weil ihm anscheinend eine bedeutende Botschaft innewohnt.

Die erst kürzlich achtzig Jahre alt gewordene österreichische Autorin, Sängerin und ehemalige Schauspielerin am Burgtheater Wien,Erika Pluhar, formulierte jüngst in einem Interview, dass das Leben ein Geschenk sei, auch wenn es einem nichts schenkt. In Bezug auf den Tod ihrer Tochter erzählt sie: „Ich habe alles gemacht und wahrgenommen wie hinter Glas. Aber das Leben ist stark. Und langsam ist das Glas gesplittert und plötzlich merkt man die Sonne und spürt, die ist eigentlich schön“ (Pluhar-Interview). Sie beschreibt in ihrem Buch „Die öffentliche Frau“ ihren Umgang mit einer in Stücken gebrochenen Welt: „Aber mit der Zeit […] klebt man alles, was gebrochen ist, die Welt, das Herz, die Hoffnung, das Vertrauen wieder irgendwie zusammen und lebt weiter“ (Pluhar, 87). Das geschenkte Leben ermöglicht es, dass das, was gebrochen ist, sich auf bestimmte Weise wieder irgendwie zusammenfügt, dass die Welt sich wieder neu findet im eigenen Herzen.

LITERATUR

Giddens, Anthony, The Consequences of Modernity, Cambridge 2010.

Klessmann, Michael, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 32010.

Lieben, Christl, Im Antlitz des Bösen. Ich weinte die Tränen der Mörder und fand das Licht, München 2016.

Pluhar, Erika, Die öffentliche Frau. Eine Rückschau, Berlin 2015.

Pluhar-Interview: www.looklive.at/people-ich-lebe-mit-demschmerz.

Rössler, Ingeborg, Krise, Trauma und Konflikt als Ausgangspunkt der Seelsorge, in: Engemann, Wilfried (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 32016, 451-47 5.

Weiß, Helmut, Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie, Neukirchen-Vluyn 2011.

Žanrid ja sildid

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