Loe raamatut: «Das Haus in der Schlosserstrasse»

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Das Haus in der Schlosserstraße

Über dieses Buch

Der Viehhändler Fritz Levy. Letzter Jude von Jever. Geboren 1901. 1939 Flucht vor den Nazis nach China und Amerika. 1950 Exil und Rückkehr nach Jever. Schwere Depressionen in den 1960er Jahren. In den 1970ern nannte er sich „Berufsverbrecher, Viehlosoph und Stabsdirektor“. 1981 wurde er Ratsmitglied: Freitod 1982.

Wer war Fritz Levy? War er ein Spinner oder ein Clown? War er ein Provokateur oder ein Genie? Was hat ihn bewegt? Wie hat er gelebt? Hatte er Familie, Frau und Kinder? Warum ist er zurückgekommen nach Jever? Was hat ihn bewogen im hohen Alter für den Stadtrat zu kandidieren? Weshalb hat er den Freitod gewählt? Warum bewegt uns Fritz Levy noch immer?

Es gibt viele Fragen rund um Fritz Levy, viele Legenden, Halbwahrheiten und jede Menge Unfug, der über ihn geredet wird. Eckhard Harjes erzählt in seinem Buch eindrucksvoll das Leben seines Freundes Fritz Levy unter Einbezug der heute bekannten Fakten.

Als 14-jähriger lernte er Levy 1974 in Jever kennen. „Dieser Mann hat mich in all den Jahren nie mehr losgelassen. Er war irgendwie immer in meinem Kopf. Mal mehr, mal weniger“, sagt Eckhard Harjes heute zurückblickend. Fritz Levy bewegt die Gemüter seit Jahrzehnten. Seine Lebensthemen – Ausgrenzung, Rassismus, Flucht und Exil – sind aktueller denn je.

Fritz Levy hilft dabei Stellung zu beziehen gegen Rassismus, gegen das Vergessen und für eine demokratische Gesellschaft.

für Hella, Paulette und Michael

„Leider ist der Homo Sapiens ein Kollektivwesen, das

sozusagen nur macht, was alle machen, sei es

Kriegführen oder andere Schandtaten.“

Fritz Levy

I Rückkehr

Mittwoch, 22. November 1950: Fritz stieg aus dem Zug. Es war ein kalter Tag. Er ging durch die Wartehalle und trat aus dem Bahnhof, wie schon oft in seinem Leben. Er war hierher zurückgekommen. Seine unfreiwillige Reise von Jever nach Jever war zu Ende. Elf Jahre war er fort gewesen. Elf Jahre waren vergangen. Elf Jahre, die die Welt verändert hatten.

Fritz stellte seinen Koffer ab und blieb im Ausgang des Bahnhofs stehen. Er hörte den Zug abfahren. Sein Blick fiel auf den Bahnhofsvorplatz mit dem alten Rondell, dann auf das Bahnhofshotel, das direkt gegenüber lag.

Hier hatten sie gespielt – Johanne, Helene, Albert, Erwin, Berthold, Markus - und die anderen Kinder, jüdische und nichtjüdische. Hier am Bahnhof war immer etwas los gewesen. Hier war das Tor zur Welt für die friesische Provinzstadt im Nordwesten des Deutschen Reiches. Reisende kamen und gingen. Händler reisten an, reisten ab, übernachteten im Bahnhofshotel. Lastwagen fuhren heran, Fuhrwerke rollten vorbei. Waren wurden verladen drüben am Güterbahnhof - Kohlen, Getreide, Kartoffeln und Vieh. Die Viehhändler brachten ihre Tiere zum Verladebahnhof - Kühe, Schweine, Pferde, Schafe, Ziegen -, stellten sie unter, trieben sie in die Wagons, holten sie ab, begutachteten sie, handelten, redeten, lachten und gingen dann in die Bahnhofsgaststätte, tranken Bier, Doornkaat, rauchten dicke Zigarren und spielten Skat.

Fritz stand auf den Stufen. Sein Blick fiel in die Schlosserstraße. Er sah sein Haus, das jetzt dem Taxiunternehmer gehörte, dem er es unter Wert verkaufen musste, damit er heraus kam aus Deutschland im Mai 1939, damit er das Geld hatte für seine Flucht nach China. Sein Haus in der Schlosserstraße war schemenhaft zur erkennen im fahlen Licht der Straßenlaternen. Alle Fenster waren dunkel. Er wollte sofort hingehen, aber er konnte nicht.

Ein Zittern durchfuhr ihn. Widersprüchliche Gefühle lähmten ihn. Er wollte schreien, weinen und lachen zugleich. Und Wut stieg in ihm empor, aber auch ein Gefühl des Triumphes und der Freude, dann wieder Angst, Zweifel und Traurigkeit im Anblick seines Hauses, das sie ihm weggenommen hatten und das er wieder zurückhaben wollte.

Elf Jahre hatte Fritz auf diesen Tag gewartet. Immer hatte er sich gefragt, wie es sein würde, wenn er hier ankäme. Und jetzt war dieser Tag da. Und alles war anders, als er gedacht hatte. Alles in ihm war in Unordnung. Dass man ihn nicht empfangen würde, dass Jever nicht auf seine Rückkehr gewartet hatte, dass man ihn, den verrückten Juden, nicht mit offenen Armen empfangen würde, dass man ihm keine Entschuldigung entgegenbringen würde, das war ihm klar, das hätte er sowieso nicht erwartet und auch gar nicht gewollt. Das war unvorstellbar nach all dem, was diese Stadt ihm angetan hat.

Fritz wollte stark sein in diesem Moment, aber die Rückkehr nach Jever, der Bahnhofsvorplatz, sein Haus in der Schlosserstraße, die Erinnerungen, diese chaotischen Gefühle in ihm, all das brachte ihn durcheinander.

Immer wieder hatte er diesen Moment in seinen Träumen erlebt, in seiner Vorstellung, in den Gesprächen mit anderen Juden in China, in Amerika, mit den Verbannten, den Flüchtlingen, die dieser Krieg in die ganze Welt geworfen hatte, nach Shanghai, Havanna oder New York. Noch auf dem Dampfer, mit dem er heute in Rotterdam angekommen war, hatte er mit Reisenden gesprochen. Sie hatten sich ihre Geschichten erzählt über die vielen Schicksale der zerrissenen Familien, die Berichte über das Verdammtsein zum Warten im Exil.

Ein Traum verfolgte ihn immer wieder in all den Jahren: Fritz war noch ein Kind, spielte hier auf dem Bahnhofsvorplatz. Am Abend rannte er nach Hause. Er rannte, aber er kam kaum voran. Zu Hause saßen seine Mutter Nanni, seine älteren Schwestern Helene und Johanne und sein Bruder Albert am Esszimmertisch. Er konnte sie sehen. Sie warteten mit einem herrlichen Essen auf ihn, koscher, so wie Nanni es gerne und gut zubereitete. Kerzen brannten. Der Tisch war festlich eingedeckt. Alles sah friedlich aus und eine himmlische Musik klang durch das ganze Haus in der Schlosserstraße.

Auch sein Vater Julius und seine Brüder Erwin, Markus und Berthold waren dort. Sie saßen etwas abseits in einer dunklen Ecke des großen Esszimmers. Fritz konnte nur ihre bleichen Gesichter erkennen. Sie alle streckten ihre Hände nach ihm aus, als wollten sie ihn an unsichtbaren Bändern zu sich holen. Und sie riefen scheinbar seinen Namen, bewegten die Lippen, ohne dass er sie wirklich hören konnte.

Aber Fritz kam nicht zu ihnen, so sehr er sich auch anstrengte. Kurz vor der Haustür kam er nicht weiter, kam nicht mehr von der Stelle, musste aufgeben. Erschöpft brach er zusammen. Er konnte sie alle sehen, aber er konnte sie nicht erreichen.

Dann wachte Fritz auf und Schweiß rann ihm von der Stirn. Es dauerte, bis er realisierte, dass alles nur ein Traum war. Jedes Mal zweifelte Fritz, ob er nach Deutschland zurückkehren sollte. Aber tief in seinem Innern wusste er, er wollte zurück nach Jever.

Und jetzt stand er tatsächlich hier im Ausgang des Bahnhofs auf den alten, ausgetretenen Steinstufen und blickte auf sein Haus in der Schlosserstraße, den Kopf voller Erinnerungen an diesen schrecklich-wundervollen Ort.

Die Schlossturmuhr riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte den vertrauten Klang und der war schön. Er war zu Hause. Man konnte das Läuten hier am Bahnhof gut hören. Und nur einen Moment nach der Schlossturmuhr ertönte die Kirchturmuhr. Die Klänge mischten sich mit dem Kreischen der aufgescheuchten Krähen, die wohl seit Jahrhunderten ihre Nester in den Bäumen am Kirchplatz bauten.

Das alles erinnerte Fritz an eine andere Rückkehr nach Jever. Damals kam er aus Berlin. Das war im September 1919. Fritz war gerade 18 Jahre alt, als sein Vater der Viehhändler Julius Levy und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Erwin durch einen schrecklichen Unfall unerwartet, vor den Augen der halben Stadt aus dem Leben gerissen wurden. Es war ein Schicksalsschlag für ihn und die Familie, der seine Lebenspläne komplett veränderte.

Fritz ging in Berlin zur Schule. Tierarzt wollte er werden. Das war sein Ziel. Er konnte schon immer sehr gut mit Tieren umgehen, insbesondere mit dem Weidevieh, das er von klein auf kannte. Schon als Kind war er mit seinem Vater bei den Viehhändlern, Bauern und Schlachtern im Jeverland unterwegs gewesen. Er kannte und liebte das Leben auf den Höfen, den Stallungen und Viehmärkten. In dieser Welt fühlte sich Fritz wohl. Er konnte Tiere schnell und gut beurteilen, Alter, Stärken, Schwächen und Krankheiten sofort erkennen.

Als Tierarzt wollte er seinen Vater unterstützen. Erwin sollte den Betrieb übernehmen und dafür machte er eine Ausbildung zum Schlachter bei Bekannten in Speyer. Zusammen wollten sie dann den Betrieb Levy in Jever weiterführen und nach vorne bringen.

Fritz dachte an seine Kindheit und Jugend, die damals mit seiner Rückkehr aus Berlin im September 1919 abrupt endete. Als Kind war Fritz jeden Morgen die Schlosserstraße hoch gegangen zur Stadtknabenschule am Schlosserplatz, wo das Denkmal stand mit dem Spruch, den er immer im Kopf hatte: „Wehe dem Volk, dem die Wahrheit nicht mehr heilig ist“. Hier in der Schlosserstraße wohnten viele jüdische Geschäftsleute mit ihren Familien - die Sternbergs, die Josephs, die Familie de Levie, Viehhändler, Landwirte, Pferdehändler. Fritz kannte sie alle gut. Auf dem Schlosserplatz vor der Schule spielten die Kinder Verstecken und Fangen rund um das Denkmal. Von der Knabenschule aus konnte er die Kuppel der Synagoge in der Wasserpfortstraße sehen.

Fritz war ein aufgewecktes Kind und er lernte schnell Lesen und Schreiben. Es war eine unbeschwerte Zeit. Bald ging er zusammen mit Erwin diesen Weg zur Schule. Fritz brachte gute Noten mit nach Hause und 1912 schickten seine Eltern ihn auf das Großherzogliche Mariengymnasium in Jever, das er bis Weihnachten 1916 besuchte. Hier lernte er Latein und die deutschen Klassiker kennen. Und er hörte zum ersten Mal von Sokrates und Diogenes, Goethe, Schiller, deutscher Geschichte mit dem Blick des Kaiserreiches. Fritz hatte eine gute Auffassungsgabe und früh zeigte sich seine Wortgewandtheit.

Er sah den Unterricht und die Lehrer am Mariengymnasium vor seinen Augen, die Schüler aus den gutbürgerlichen, meist deutsch-nationalen Akademikerfamilien, Lehrerkinder, Arztkinder, Juristenkinder. Und er sah sich selbst: den wortwitzigen Lausebengel aus der jüdischen Viehhändlerfamilie vom Bahnhof.

An dem altehrwürdigen Gymnasium gab es mehrere jüdische Jungen. Und die meisten von ihnen machten hier das Abitur. Aber der lebhafte Fritz legte sich immer wieder mit den kaisertreuen Lehrern an. Es herrschte eine nationalistische Stimmung in der Schule und nach Ausbruch des I. Weltkrieges gab es ein klares Feindbild: die Franzosen, die Engländer, Amerikaner und natürlich die Sozialdemokraten und Kommunisten. Militarismus und Patriotismus prägten das Bild der Schule und der Stadt.

Fritz hatte ständig Unfug im Kopf und gab nicht viel auf das nationalistische Getue. Seine burschikose, vorlaute Art gefiel den Gymnasialprofessoren ganz und gar nicht. Es verwunderte also niemanden, dass Fritz schließlich sitzen blieb und die 6. Klasse wiederholen musste.

Doch sein Vater wünschte, dass er einen guten Schulabschluss machte und so holte er Fritz Weihnachten 1916 aus der 8. Klasse des Mariengymnasiums, damit er nicht noch von der Schule flog. Er meldete Fritz zu Beginn des neuen Schuljahrs 1917 an der Städtischen Oberrealschule in Oldenburg an. Doch auch hier ging es streng nationalistisch zu und die Noten wurden nicht besser.

Deshalb wurde Fritz von Julius nach Berlin auf eine Privatschule geschickt – auf die Friedrich-Körner-Realschule, eine moderne Einrichtung mit vielen hundert Schülern. Körner war ein guter Pädagoge. Die Jungen fühlten sich wohl und respektierten auch den Direktor der Schule - Prof. Dr. Lücking. Fritz wohnte mit einigen anderen Jungen aus wohlhabenden Jeverländischen Familien in einer Pension in Wilmersdorf.

Fritz war gerne in Berlin. Und Familie Körner war dankbar über die Schüler vom Lande, denn regelmäßig kamen aus Jever Fresspakete mit Rindfleisch, Würsten und allerlei anderen guten Sachen. Die Körners genossen das, denn es gab große Versorgungsschwierigkeiten in Berlin vor allem im letzten Kriegsjahr 1918.

Sonntags unternahmen die Jungen Ausflüge aufs Land oder zogen gemeinsam in die Stadt. Es wurde gelacht, gesungen, getrunken. Wenn die anderen Jeveraner an Wochenenden zurück nach Jever fuhren, blieb Fritz in Berlin und ging allein auf Erkundungstour. Er lernte die Hauptstadt kennen. Es war eine aufregende Zeit.

Berlin war in Aufruhr nach dem Krieg: Novemberrevolution, Sturz der Monarchie, Rätesystem, die Republik wurde ausgerufen, Spartakusbund, Demokratie, Versailler Friedensverträge, Reichstagswahlen, Friedrich Ebert wurde Reichspräsident, Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, rechte Freikorps verbreiteten Angst und Schrecken. Neue Kunst- und Kulturrichtungen der Moderne entstanden. Und Fritz Levy aus der friesischen Kleinstadt war mittendrin in diesem brodelnden Berlin.

Manchmal fuhr Fritz mit der Straßenbahn zum Alexanderplatz. Dort stieg er aus und ließ die Stadt auf sich wirken. Nicht selten lief er zurück bis nach Wilmersdorf. Die neuen politischen Ideen, Parlamentarismus, Sozialdemokratie, Kommunismus, beschäftigten ihn und er saugte sie auf in diesen Jahren des Umbruchs.

Aber im September wurde er aus dieser Welt herausgerissen. Am 22.09.1919 erreichte ihn das Telegramm aus dem Postamt Jever. Fritz war gerade erst nach Berlin zurückgekehrt. In Jever hatte er mit der Familie die Hochzeit seiner Schwester Helene gefeiert. Dann erreichte ihn diese Nachricht: „An Fritz Levy, Uhlandstraße 7, Berlin-Wilmersdorf – stopp – Komm nach Hause – stopp – Dein Vater ist schwer verletzt – stopp – Mutter.“ Fritz las das Telegramm wieder und wieder. Sein Herz schlug schnell. Sein Vater war sein Vorbild. Er wollte so werden wie Julius.

Fritz schmiss eilig einige Sachen in seinen Koffer, rannte zur Schule und wollte sich abmelden, um mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. „Levy“, rief der Direktor Prof. Dr. Lücking, „wo wollen Sie denn jetzt hin?“ Fritz reichte ihm das Telegramm. Lücking las es und dann legte er die Hand auf Fritz Schulter. „Das tut mir leid. Sie reisen aber jetzt nicht ab. Morgen nach dem Frühstück nehmen Sie den ersten Zug, Levy. Sie kommen heute Nacht ab Hannover sowieso nicht mehr weiter. Und es sind unruhige Zeiten.“ Fritz machte in dieser Nacht kein Auge zu. Am nächsten Morgen stieg er in den ersten Zug nach Hannover und mit dem Nachmittagszug kam er in Jever an.

Er rannte durch die Bahnhofshalle, stolperte die Stufen hinunter und lief, so schnell er konnte, mit dem Koffer unter dem Arm nach Hause. Er öffnete die Haustür. Drinnen war alles still. Seine Mutter Nanni saß auf einem Stuhl im Wohnzimmer. „Gut dass du da bist, Fritz. Gut, dass du da bist. Hier ist so viel Arbeit und du kannst mit anfassen“, sagte sie. Johanne stand stumm in dem dunklen Raum. Sie war in Schwarz gekleidet und blass, tiefe Ränder unter den Augen. „Was ist passiert?“ rief Fritz. „Wo ist Vater? Wo ist Erwin?“

Nanni erhob sich langsam. In ihrem weiten, schwarzen Kleid trat sie ans Fenster und blickte auf die Schlosserstraße. Sie berichtete kühl und sachlich und scheinbar unberührt von den Geschehnissen der letzten Tage: „Erwin ist tot, Fritz. Dein Vater ist verletzt. Er liegt im Krankenhaus.“

Fritz stellte den Koffer ab und setzte sich auf einen Stuhl. Johanne lief weinend die Treppe hoch. „Mutter, was ist geschehen? Sprich doch, bitte“, insistierte Fritz.

Nanni stand am Fenster und beherrschte mit ihrer Erscheinung das ganze Wohnzimmer. Ihr Umriss setzte sich in scharfen Konturen vor dem herbstlichen Nachmittags-Sonnenlicht ab, das durch das Fenster fiel. Fritz starrte auf seine Mutter. Sie wirkte unnahbar.

„Erwin ist nach Helenes Hochzeit noch in Jever geblieben. Am Montag war auf dem Alten Markt dann die Stierkörung und dein Vater musste mit Erwin ja unbedingt dorthin, um unseren großen Stier vorzuführen. Du erinnerst dich. Die Stadt war voller Menschen. Selbst Albert war dort.“

Von ihrem Sohn Albert hielt Nanni nicht viel. Sie ließ es ihn jeden Tag spüren. Albert entsprach nicht dem, was sie von einem Mann erwartete. Er war ruhig und geduldig, verständnisvoll und einfühlsam - anders als Julius, Fritz oder Erwin. Albert verstand nicht viel vom Weidevieh, interessierte sich nicht für den Viehhandel und die Schlachterei. Er war stets gut gekleidet, höflich und elegant. Albert studierte die Aktienkurse in der Tageszeitung, dem Jeverschen Wochenblatt, und er sprach häufig von Amerika. „Albert ist zu zart besaitet“, sagte Nanni immer. Er war anders, als andere Männer und er wollte immer nur heraus aus Jever. „Irgendwann gehe ich nach Amerika“, sagte er.

Albert war sechs Jahre älter als Fritz. Eigentlich hätte er als älterer Bruder jetzt das Ruder in die Hand nehmen müssen, aber er tat es nicht. Er konnte es nicht. Er zog sich zurück. Aber auch wenn Albert anders war und jetzt nicht die Verantwortung für den Betrieb übernahm, Fritz nahm es seiner Mutter übel, dass sie ständig über Albert herzog und auf ihm herumhackte.

„Johanne und ich waren zu Hause geblieben, um die Wäsche zu machen“, fuhr Nanni fort. „Wir warteten schon mit dem Mittagessen, als Albert aufgeregt in die Küche kam. Er war blass und bekam kein Wort heraus. Dann kam unser Nachbar Sternberg und wir erfuhren, dass der Stier sich losgerissen hatte, als Erwin ihn vorführen wollte. Das riesige Tier rannte in die Blankgraft, wo es in Wasser und Schlick versank und dabei wild um sich trat. Erwin versuchte den Stier zu halten, verfing sich in den Seilen, wurde mitgerissen und von dem Tier unter Wasser gedrückt. Vater wollte Erwin, der immer wieder um Hilfe schrie, helfen. Vater wurde dabei selbst von dem Stier verletzt. Er steckte tief im Schlick, konnte aber von einigen Männern herausgezogen werden. Für Erwin aber kam jede Hilfe zu spät. Hunderte haben das mit angesehen. Warum musste dein Vater auch zu dieser Stierkörung gehen? Hier in der Schlachterei ist so viel zu tun. Und der Fleischversand muss weiter gehen, sonst verdirbt die Ware. Aber nein, dein Vater musste ja dahin.“

Fritz konnte in Nannis Gesicht erkennen, wie böse sie auf Julius war. Sie zeigte keine Spur von Mitleid oder Trauer. Sachlich berichtete sie über jedes Detail des schrecklichen Unfalls. „Der wilde Stier kämpfte sich irgendwie aus dem Schlick heraus und rannte tobend in die Wallanlagen, bis er dort von der Polizei erschossen wurde. Den Kadaver musste Wilhelm abholen und nun liegt er seit Montag hinten in der Schlachterei. Er muss dringend geschlachtet werden.

Und Vater ist im Sophienstift. So schlecht geht es ihm aber eigentlich gar nicht. Er liegt dort im Bett, während hier so viel zu tun ist. Hier liegt fast alles brach, Fritz. Die Schlachtungen und der Fleischversand müssen weiter gehen. Die Kunden warten nicht. Gut dass du da bist, Fritz. Geh nach oben, zieh dich um und dann geh nach hinten in die Schlachterei zu Wilhelm und pack mit an, wo du kannst.“ Wilhelm Schünemann arbeitete als Schlachter bei Julius Levy.

„Wo ist Albert? Wann kommt Vater nach Hause?“, wollte Fritz wissen. „Ach, deinem Vater geht’s bestimmt bald besser. Das ist nicht so schlimm. Der soll sich bloß nicht vor der Arbeit drücken dort im Sophienstift. Und deinen Bruder Albert, den hat niemand mehr gesehen seit Montag. Und jetzt sieh zu, dass du zu Wilhelm in die Schlachterei kommst.“

Fritz sah seine Mutter an. Es ärgerte ihn, dass sie die Familie immer nur antrieb, hetzte und kein Verständnis aufbringen konnte für Julius, Albert, für Johanne und ihn.

Es klingelte an der Haustür. „Das ist der Bestatter. Fritz, geh und öffne ihm! Ich will mit ihm sprechen, denn Erwin muss beerdigt werden. Donnerstag soll die Beerdigung sein. Das ist spät, aber anders geht es nicht. Es muss jetzt weitergehen, Fritz. Und nun mach die Tür auf und zieh dich um. Geh in die Schlachterei. Frag Wilhelm, was zu tun ist.“ Fritz nahm seinen Koffer und ging nach oben.

Er zog sich um und ging ins Hinterhaus, wo die Schlachterei und der Laden waren. Er wusste, was er zu tun hatte. Der tote Stier lag dort, wie ein Berg. Fritz ging auf Wilhelm zu: „Der Stier muss geschlachtet werden. Heute noch!“ Fritz übernahm wie selbstverständlich das Kommando. Die beiden arbeiteten bis in die Nacht. Sie zerlegten das riesige Tier, bis die Arbeit erledigt war. Wie in einem Rausch zertrennte Fritz den großen Fleischberg, als wenn er sich an dem Tier rächen wollte für den Tod seines Bruders.

Fritz ging müde ins Wohnhaus. Nanni und Johanne schliefen bereits. Er schlich langsam in die Küche, um etwas zu trinken. Er wollte sich gerade waschen gehen, als plötzlich Albert vor ihm stand.

„Mein lieber Bruder Fritz, gut, dass du in Jever bist, wenigstens ein vernünftiger Mensch hier in diesem Haus.“

„Man, Albert, wo kommst du denn jetzt so spät noch her? Du hast mich erschreckt.“

„Sag mal Fritz, willst du etwa hierbleiben?“, fragte ihn Albert. „Ich halte es hier nicht mehr aus. Mutter kommandiert hier immer nur alle herum.“

„Ja, ich bleibe bis es Vater wieder besser geht und er nach Hause kommt.“

„Du musst ja selbst wissen, was du tust. Vater wird sich freuen, wenn du bleibst.“

„Hast du etwas von Vater gehört? Warst du bei ihm im Sophienstift?“

„Ja, ich war dort. Es geht ihm schlecht, Fritz. Aber er will natürlich unbedingt nach Hause. Er ist verzweifelt. Er trauert um Erwin und er macht sich Vorwürfe. Und er möchte dich sehen, Fritz. Du musst zu ihm gehen. Er hat viel dreckiges Wasser geschluckt in der Blankgraft. Und er war lange unter Wasser, hat keine Luft mehr bekommen. Und der Stier hat ihm übel zugesetzt. Aber Vater lässt sich nichts anmerken. Du kennst ihn ja. Geh morgen zu ihm, Fritz.“

„Ja Albert, das mach ich. Morgen früh. Ich wollte ihn heute schon besuchen, aber hier muss so viel erledigt werden. Da kannst du auch mal mit anpacken, Albert. Hier ist so viel zu tun. Wir können jede Hilfe gebrauchen.“ Albert erwiderte nichts.

Er freute sich, Fritz zu sehen. Fritz war der einzige der Nanni etwas entgegensetzen konnte, der ihr auch einmal widersprach. Albert steckte sich eine Zigarette an. Die beiden setzten sich ins Wohnzimmer. Und sie redeten noch lange. Fritz fielen irgendwann die Augen zu und er schlief ein im Armlehnensessel.

Am nächsten Morgen weckte Nanni ihn dort und schickte ihn erst einmal zum Waschen. „Und danach beeile dich Fritz. Fleisch muss ausgeliefert werden. Johanne, geh du in den Laden und ich kümmere mich hier um alles andere. Wo ist nur Albert, dieser Nichtsnutz?“

Fritz wusste nicht, wo Albert war. Keiner wusste es. Im Haus war er nicht. So plötzlich, wie er in der Nacht aufgetaucht war, so plötzlich war er wieder verschwunden. Seiner Mutter erzählte Fritz nichts von der nächtlichen Begegnung.

Fritz dachte an Alberts Worte. „Ich gehe zuerst zu Vater. Und danach liefere ich das Fleisch aus.“ Fritz sagte dies mit solcher Bestimmtheit, dass Nanni dem nichts entgegensetzte, obwohl man ihrem Gesichtsausdruck deutlich entnehmen konnte, dass sie damit nicht einverstanden war. „Dann sag deinem Vater, dass hier Arbeit auf ihn wartet. Er soll zusehen, dass er nach Hause kommt“, rief sie Fritz noch hinterher.

Fritz ging die Außentreppe vom Sophienstift hinauf. Er mochte Krankenhäuser nicht. Kranksein gehörte für ihn nicht auf den Plan. So war er erzogen worden. Das Leben war Arbeit und die hatte immer Vorrang. Kranksein gab es da nicht. Und er hatte seinen Vater noch niemals krank erlebt.

An der Anmeldung fragte Fritz nach dem Zimmer. Ein einarmiger Kriegsversehrter öffnete mit dem verbliebenen Arm ein kleines rundes Fenster und murmelte „Ist keine Besuchszeit“. Fritz ging einfach weiter und der Einarmige murmelte noch irgendetwas Unverständliches. Fritz fragte bei einer Krankenschwester nach seinem Vater. „Zimmer 43 im ersten Stock“, erfuhr er schließlich.

Er klopfte an die Krankenzimmertür und ging hinein ohne ein ‚Herein‘ gehört zu haben. Er sah seinen Vater im Bett liegen. Das war ein ungewohnter Anblick.

Sein Vater war morgens immer schon wach gewesen, wenn Fritz aufstand. Julius hatte immer etwas zu erledigen, er war immer unterwegs. Auf den Höfen und Viehmärkten fühlte er sich zu Hause. Er war bekannt in Jever und im Jeverland, ein geschätzter Geschäftsmann, beliebt bei den Bauern, den Viehhändlern und Schlachtern.

Aber so, wie jetzt, hatte Fritz seinen Vater noch nie gesehen. Julius schien um Jahre gealtert zu sein. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er krümmte sich im Bett, wohl wegen der Schmerzen.

Fritz trat an das Krankenbett. Jetzt erst erkannte Julius ihn. „Fritz …“, sprach er leise, „Fritz, mein Sohn, du musst mir etwas versprechen.“ Er machte eine lange Pause, in der es sehr still war und nur sein Atem in Krankenzimmer zu hören war. Julius rang nach Luft und schloss die Augen. Er versuchte seine Schmerzen zu verbergen. „Fritz, du musst dich jetzt um alles kümmern. Du bist jetzt der Mann im Haus. Du musst übernehmen, Fritz.“

„Aber Vater, was redest du? Wenn du wieder gesund bist, machen wir das zusammen, du und ich, wir beide schaffen das, Vater und Sohn, ganz bestimmt.“ Julius schloss die Augen und drehte sich um. Fritz drückte seine Hand und ließ ihn schlafen. Dann ging er.

Das war nicht der Vater, den Fritz kannte. Julius war ein Mann, der anpackte und die Dinge immer zu Ende brachte. Wenn er einen Weg eingeschlagen hatte, dann konnte ihn nichts mehr aufhalten. Julius trug fast immer Arbeitskleidung – einen grauen Viehhändlerkittel und seinen Handstock, so wie alle Viehhändler. Und immer rauchte er Zigarren.

Julius wurde 1866 als Joseph Levy in Wittmund geboren. Er änderte seinen Namen in Julius. Er meinte, das wäre besser für das Geschäft und die Familie. Er war ein Planer und ein Macher. Niemals schwankte er. Jeden Tag musste er sich und anderen beweisen, dass er ein guter Geschäftsmann war. Er hasste es, wenn irgendetwas seine Pläne durchkreuzte und er sie ändern musste. Julius war streng und er konnte sehr zornig werden, wenn ihm jemand widersprach. Menschen, die an sich selbst zweifelten oder zögerten, konnte er nicht verstehen. Er glaubte immer an seine Instinkte, an sein Bauchgefühl, und daran, dass harte Arbeit zum Erfolg führen würde. So war Julius erzogen worden und so erzog er seine Kinder.

Fritz lief vom Sophienstift nach Hause, spannte den Gaul an und lieferte bis zum Abend Ware aus. Unterwegs besuchte er noch einige Bauern und handelte ein paar Viehkäufe für die nächste Woche aus. „Vater wäre stolz auf mich“, dachte Fritz.

Um sieben Uhr am Abend kam Fritz zurück nach Hause. Da sah er seinen Vater in der Schlachterei. Julius trug gerade eine Kalbshälfte in den Kühlraum. Fritz verstand überhaupt nicht, weshalb Julius nicht mehr im Krankenhaus war. Er spannte das Pferd aus, versorgte es und lief zu seinem Vater, der jetzt die Schlachtmesser reinigte. „Vater, was ist mit dir? Was machst du hier? Warum bist du nicht mehr im Sophienstift?“ Julius schwieg. Dann nahm er seine erkaltete Zigarre, die auf einem Tisch lag und zündete sie wieder an. Schließlich sagte er: „Fass mit an, Fritz, und stell hier keine dummen Fragen“. Fritz gehorchte und half seinem Vater die Schlachterei aufzuräumen. Fritz erzählte von seinem Tag und dem Handel, den er abgeschlossen hatte. „Gut, gut, Fritz“, sagte Julius nur. Dann gingen sie ins Haus zum Abendessen. Fritz hatte einen Bärenhunger.

Sie saßen zu viert am großen Esszimmertisch. Erwins und Alberts Plätze blieben leer. Niemand sagte ein Wort. Johanne sah auf Erwins Platz und fing wieder an zu weinen. „Sei still, Kind“, fuhr Nanni sie an. „Am Donnerstag um elf Uhr ist die Beerdigung. Der Rabbiner war heute Nachmittag hier, um alles zu besprechen“, berichtete Nanni. „Wenn einer von euch Albert sieht, gebt ihm Bescheid.“

Julius sagte nichts an diesem Abend. Er aß kaum etwas. Nach dem Essen ging er sofort nach oben ins Elternschlafzimmer und legte sich ins Bett. So kannte Fritz seinen Vater nicht. Meistens blieb Julius noch draußen auf dem Hof, kümmerte sich um das Vieh, räumte auf oder ging noch auf ein Bier in die Bahnhofsgaststätte. Aber heute ging er direkt ins Bett. Er wirkte müde und krank.

In der Küche fragte Fritz seine Mutter: „Warum ist Vater hier und nicht mehr im Sophienstift?“

„Er wollte unbedingt raus und nach Hause. Er wollte es so.“

„Aber es geht ihm schlecht. Siehst du das nicht? Er ist noch nicht wieder gesund, Mutter. Sollen wir nicht morgen besser einen Arzt rufen?“

„Ach die Ärzte, diese Quacksalber, die können doch auch nicht helfen. Das wird schon wieder. Dein Vater soll sich nicht so anstellen. Und die viele Arbeit hier, die macht sich auch nicht von alleine. Und er lässt sich sowieso nichts von mir sagen.“

Fritz spürte, wie die Wut in ihm empor stieg. Fritz war wütend auf seine Mutter wegen ihrer Härte und auf seinen Vater wegen dessen Leichtsinn und seiner Unvernunft. Aber was sollte er tun? Sie waren die Eltern.

Fritz ging nach oben und wusch sich. Er wollte mit Johanne reden, aber sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Fritz klopfte leise an ihre Tür, aber sie öffnete ihm nicht. Fritz ging in Erwins Zimmer und eine Träne rann über seine Wange, als er Erwins Bücher und Hefte für die Ausbildung zum Schlachter ordentlich neben dem Bett aufgereiht sah. Dann stand Johanne plötzlich neben ihm. „Fritz, ich vermisse Erwin. Er tut mir so leid. Und ich vermisse Helene. Ich muss ständig weinen, aber Mutter ist immer böse, wenn ich’s tu.“ Erwin konnte doch nicht wirklich für immer fort sein. Sie konnten es beide immer noch nicht glauben.

Johanne hatte dunkles, langes Haar und dunkelbraune Augen. Sie war fast genau zwei Jahre älter als Fritz und ebenso lebhaft wie er. Und auch sie setzte sich gerne mal über Regeln hinweg, genau wie Fritz, was die beiden miteinander verband.

Sie saßen auf Erwins Bett und blätterten in den Büchern und Heften. Erwin war ein guter Lehrling gewesen und geboren für Viehhandel, Landwirtschaft und die Schlachterei. „Glaubst du, Vater wird wieder gesund“, fragte sie. „Natürlich Johanne, natürlich wird er gesund“, flüsterte Fritz leise. „Vater ist hart im Nehmen. Den haut nichts um.“ Johanne wusste, dass Fritz sie damit nur beruhigen wollte. Sie blieben lange so sitzen, dachten an Erwin und irgendwann schlief Johanne neben Fritz in Erwins Bett ein. Fritz grübelte bis tief in die Nacht. Das Schicksal hatte ihn schneller, als er es wollte, zurückgeholt nach Jever.