Loe raamatut: «Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke», lehekülg 13
Siebzehntes Kapitel
Die Überzeugung, dass alles gut werden würde, hatte sich Rosa nicht ohne Kampf errungen. Mitten in der Nacht war sie endlich zur Klarheit, wie sie meinte, über ihre Lage und zu einem festen Entschluss gelangt.
Während es ringsum still und finster war und nur die Turmuhr des Gymnasiums ihr melancholisches Bimbam herübersandte, hatten Furcht und Verzagtheit Rosa ergriffen; Ambrosius wird sie doch verlassen. Die Schank und Lanins werden doch recht behalten, und alles – alles wird vorüber sein! Ihr Leben gestaltet sich dann noch leerer und qualvoller. Sie wird verachtet, verspottet. Niemand geht mit ihr um. Oder sie muss fort – in die Fremde – muss Kinder spazierenführen und waschen. O nein! Nie!
Angstvoll saß Rosa in ihrem Bette auf. Sie konnte nicht so ohne weiteres ihre Hoffnungen fahrenlassen. Endlich mussten doch auch die Festtage ihres Lebens kommen! Wieder zu den unklaren, schwermütigen Träumereien eines armen Mädchens zurückkehren, sich wieder unter die Sittenregeln der Schank beugen; wieder immer nur andere beneiden, nur heimlich wünschen, das konnte sie nicht. Alles, was sich in einer jungen Seele nach Genuss sehnt, kochte in Rosa auf. Fiebernd und weinend bohrte sie ihren Kopf in die Kissen und stöhnte: »Amby – Amby!« Das arme Kind hielt Ambrosius für die Verkörperung ihres Glückes, für den Türhüter ihres Paradieses. Mit ihm stand und fiel das Glück. – Er wollte fort? – Gut, sie auch. Er liebte sie ja; er hatte es ihr versprochen, sie in eine große Stadt zu bringen. Dort durfte niemand sie stören, dort – dort – würde das große, schöne, einzig ihrer würdige Leben ihnen weit die Tore öffnen. Das war es! Der einzige Ausweg war gefunden, und nun arbeitete sie ihren Plan aus. Ganz genau; nichts ward vergessen. Die Rede, die sie Ambrosius halten wollte, die Vorwände, unter denen sie, am Abend der Flucht, den Vater entfernen würde, die Kleider, die mitzunehmen waren – den Brief, den ihr Vater am Morgen nach der Flucht in ihrem Zimmer finden sollte. – Alles überdachte sie, und als die Sonne ins Zimmer schien, erhob sich Rosa, nach der schlaflosen Nacht bleich und müde, aber ruhig und entschlossen. Sie bestellte Ambrosius für den Abend zum Trödler. »Es hängt alles davon ab, dass ich dich heute sehe«, schrieb sie…
Um die Zeit des Sonnenunterganges ging Rosa fort. »Bleibe wenigstens nicht zu lange aus!« rief ihr Agnes nach. – Wenigstens! Das verdroß Rosa. Es war wohl an der Zeit abzureisen; alle, selbst Agnes, verletzten sie und sagten ihr unangenehme Dinge. – Von der Herzschen Wohnung bis zum Trödler war es nicht weit, nur eine Straße brauchte man hinabzugehen – und doch! – wieviel Widerwärtiges sich auf solch einem kleinen Stück Weg ereignen kann! Als Rosa aus dem Hause trat, ging der Sekretär Feiergroschen an ihr vorüber.
Er blieb stehen, lächelte süß und sagte »Guten Abend«. Dabei winkte er mit der flachen Hand einen Gruß und nahm den Hut nicht ab.
»Eine Unverschämtheit«, sagte sich Rosa und dankte nicht für den Gruß. Kaum war sie wenige Schritte gegangen, als Lanin und Klappekahl ihr entgegen kamen; sie richtete sich stramm auf, biss sich auf die Unterlippe und machte ihr hochmütiges Gesicht. Die Herren waren in ihr Gespräch vertieft und schrien laut; als Rosa aber an ihnen vorüberging, schwiegen sie plötzlich; Klappekahl wandte sich ab und sagte ein gedehntes Ja, das nicht zur Sache zu gehören schien, Lanin aber sah das Mädchen scharf an und grüßte nicht. Rosa ward rot und stieß ihren Sonnenschirm grimmig auf die Steine. Konnte sie sich denn nicht mehr zeigen, ohne gekränkt und gedemütigt zu werden? Gott sei Dank, da war das Trödlerhaus schon! Wer bog aber dort um die Ecke? Wieder ein Bekannter? Meiner Seel, der junge Toddels! Wird er grüßen, oder wird er es auch wagen…? Nein, er grüßte schon von weitem, zog tief seinen Hut ab, rief »Guten Abend, reizendes Wesen«, und zwei Finger an die Lippen drückend, warf er Rosa eine Kusshand zu. Das war zuviel! Rosa traten die Tränen in die Augen, und sie begann zu laufen. Sie wollte es Ambrosius klagen, er musste sie schützen, sie fortnehmen aus diesem Ort, wo man sie zu Tode folterte.
Hastig stieß sie die Türe zur Trödlerwohnung auf. »Ist der junge Herr da?« rief sie Ida zu.
»Ja, Fräulein Rosa; der junge Herr ist draußen im Laden beim Vater.«
»Ruf ihn!«
Ungeduldig trommelte Rosa mit den Absätzen. Wo blieb er nur? Es war sonst niemand im Gemach, selbst die alte Jüdin fehlte. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, auf dem Tische stand ein Strauß von Astern und wohlriechenden Erbsen, das Bett in der Ecke war mit frischem Leinenzeug überdeckt. Das dunkle, unreinliche Gemach schien heute einen Versuch gemacht zu haben, festlich auszusehen. Lag es nun am Strauß auf dem Tische oder am reinen Bettzeug – es missfiel Rosa, sie wusste nicht warum.
Da Ambrosius noch säumte, zog sie sich ihren Mantel aus, legte ihren Hut ab, schaute sich nach einem Spiegel um – dort auf dem Tische stand ja einer, ein kleiner alter Spiegel mit abgeriebenem Goldrahmen. Er lehnte sich an einen Stoß Bücher und war mit bunten Bonbonpapieren geschmückt, wie Ida sie zu sammeln liebte. Vor dem Spiegel lagen ein Stecknadelpolster und ein Kamm, dem die Hälfte seiner Zähne fehlte. Seltsam. Wozu diese Vorbereitungen? Rosa dachte nach… – Endlich kam Ambrosius in einem neuen hellen Anzug, das Haar sorgfältig gebrannt, die Wangen rot, ein heiteres, sorgloses Lächeln auf den Lippen. »Nun Schatz! Wir haben uns lange nicht gesehen!« rief er munter und breitete seine Arme aus. Stürmisch warf sich Rosa in diese Arme. Jetzt hielt sie ihn, jetzt war er wieder da, mit seinem guten, leichtfertigen Gesicht, mit seiner lustigen Stimme, die alle Widerwärtigkeiten wie einen Spaß besprach, über den man zusammen kichert.
»Hm, Liebchen«, sagte Ambrosius und klopfte Rosa verlegen auf den Rücken. »Komm, setzen wir uns. Dir ist es nicht gut ergangen, wie du mir schreibst?«
»Nein, nicht gut«, erwiderte Rosa und lachte, während die Tränen ihr über die Wangen liefen. Ambrosius führte sie ritterlich zum großen Sessel. »Setz dich her – erzähle.« Rosa musste sich auf seine Knie setzen, fest an ihn geschmiegt, den Arm auf seiner Schulter. »Was gibt es, Liebchen? Sag.« Rosa ward sehr ernst, ja, sie hatte viel erdulden müssen. Da war zuerst der Auftritt in der Schule mit der tollen Sally. Ambrosius hatte gut lachen, Sally war doch eine schlechte Person. Dann die Schank mit ihren Vorschlägen. Eine Bonne – so etwas! Nicht wahr? Endlich Lanin und seine Intrigen, der Vater, der auf das Geschwätz dieser Leute hörte, dazu noch die Demütigungen auf der Straße. Es war schrecklich! Sie ertrug es nicht länger; wurde sie doch verfolgt und gehetzt wie ein Wild. Ein jeder glaubte ihr etwas antun zu dürfen. Sie war schon krank vor Zorn und Schmerz. »Glaube mir, Amby – geht das so fort, dann sterbe ich an gebrochenem Herzen.« Ambrosius lächelte. »O nein, lache nicht! Gewiss, ich sterbe, ich fühle das. Und dann«, Rosa zog die blonden Augenbrauen zusammen, dass sie fast grimmig aussah: »Ist es wahr, dass du morgen abreist?«
Diese Frage machte Ambrosius verlegen. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Gott! Rosa sollte nicht glauben, man ließe ihm Ruhe. Den ganzen Tag mit Lanins beisammen zu sein, war eine Hölle. Übrigens, wenn der Onkel ihn nicht behielt, musste er wohl gehen – da war nichts zu machen, jedenfalls käme er aber wieder. Diese Trennung, wenn auch bitter, war in gewisser Beziehung vielleicht gut…
»Trennung?« unterbrach ihn Rosa. »Reist du ab, so reise ich auch.«
»Wie? Du reist auch?«
»Ja – gewiss!«
Glaubte Ambrosius vielleicht, sie hier zurücklassen zu können? Er hatte es versprochen, sie mitzunehmen. Gut, sie war bereit. Jetzt war Rosa im Zuge und fuhr eifrig zu sprechen fort. Mit der flinken, instinktiven Menschenkenntnis der Frauen hatte sie es bald erkannt, dass das schwanke Gemüt ihres Geliebten anfangs vor jeder Tat zurückschreckte, um schließlich – ward es gedrängt – sich wohlgemut in alles zu fügen. Sie legte ihm den Plan der Flucht vor. Sie wollte den Vater überreden, morgen zu Klappekahl zu gehen. Agnes legte sich, wie Rosa sie kannte, um neun Uhr zur Ruhe. Um neun Uhr also konnte Rosa fortgehen. Bis zur nächsten Eisenbahnstation hatten sie drei Stunden, und dann lag die ganze Welt vor ihnen.
»Wie im Himmel werden wir leben«, rief sie begeistert. »Du wirst mir alles zeigen, erklären, denn du kennst ja alles, du weißt alles, du bist doch ein Weltmann.« Sie lehnte ihre Stirn an Ambrosius’ Stirn und schaute ihm in die Augen. »Willst du?«
»Gewiss, gewiss«, erwiderte er unsicher. Anfangs hatte er mit großem Unbehagen zugehört. All das erschien ihm abenteuerlich und unmöglich. Aber Rosa war schön, während sie sprach. Die Augen leuchteten in Erregung und Tränen, über der Stirn das wirre blonde Haar, eine energische, eigensinnige Falte zwischen den Augenbrauen. Und wenn sie die Stirn krauszog, die Zähne aufeinanderbiss, die Lippen zu einem bösen, ungezogenen Lächeln aufwarf und Sally oder Lanin etwas recht Übles nachsagte, dann sah sie wie ein schöner wütender Bube aus; aber, gleich wieder, wenn sie Ambrosius gerade und flehend in die Augen schaute, wenn sie sich eng – eng an seine Brust schmiegte und, ihre Lippen ganz nah den seinen, fragte, ob er sie mitnehmen wolle, da war es wieder die umstrickende Milde und Süßigkeit der Frau. Je länger Ambrosius Rosa anblickte, um so möglicher erschien ihm der Plan. Warum auch nicht? Vor seinen Eltern fürchtete er sich nicht, er war ihnen schon einmal davongelaufen, und sonst? Was konnte ihn sonst noch halten? Rosa konnte er nicht verlassen, das wurde ihm mit jeder Minute klarer, er hätte sich ja schämen müssen, diesem tapferen Mädchen zu sagen: »Ich wage es nicht.« Rosa setzte ein so großes Vertrauen in ihn, sie bewunderte ihn und nannte ihn einen Weltmann; zeigte er sich jetzt kleinlich und zaghaft, dann war es vielleicht vorbei mit dieser Bewunderung und Liebe, und ihm entging dieses schöne, seltsame Wesen. Zum ersten Mal zweifelte er an seiner Unwiderstehlichkeit und lieh unbeholfen diesem Gefühl Worte, indem er flüsterte: »Bei Gott! Liebchen! Ich wusste es nicht, dass ich so stark in dich verliebt bin.«
»Also ja, Amby, morgen reisen wir?«
»Natürlich! Wohin aber?«
»Ja, wohin?« Rosa eilte zum Tisch. Unter den Büchern des Trödlers befand sich auch ein zerfetzter Schulatlas, und der sollte ihnen sagen, wo sie ihr Glück finden würden. Sie steckten ihre Köpfe über dem Atlas zusammen. »Nach Paris?« fragte Rosa.
»Ja –«, erwiderte Ambrosius gedehnt.
»Oder ist das zu weit? Übrigens würde ich dort immer an die französischen Stunden der Schank erinnert werden.« Mit Wollust fuhr Rosas Finger über die abgegriffenen, verblassten Blätter hin. »Vielleicht nach Wien?«
Kannte Ambrosius Wien? – Ja, er kannte es; der Gedanke an Wien machte ihn erröten, denn dorthin war er seiner ersten Liebe, der Kunstreiterin, gefolgt.
»Oh, Wien würde ich gern sehen. Also nach Wien – nicht?«
»Ja – gut!« Ambrosius erwärmte sich für diesen Plan und schlug sich allerhand peinliche Geldfragen, die sich melden wollten, aus dem Kopf. Er nahm Rosa wieder auf seine Knie und erzählte, beschrieb. Oh, sie sollte erfahren, was Leben heißt! Mit dem Hass gegen die Gegenwart, der beide beseelte, gegen die ruhigen Tage voll regelmäßiger Pflicht und Arbeit malten sie sich eine Zukunft von lauter Festen und Vergnügungen aus. Verwirrt und berauscht von unklaren Visionen eines bunten Glückes schloss Rosa die Augen und lauschte der heimlichen Stimme ihres Geliebten, die, ein warmer, wollüstiger Hauch, über ihre Wange lief. Es war finster geworden, durch die Vorhänge sah man den trübroten Lichtfleck der Laterne über dem Hoftor. Die Erbsenblüten auf dem Tisch begannen zu welken und mischten ihren starken süßen Duft in den faden Staubgeruch, der ringsum von den alten Sachen aufstieg. Draußen – im Laden – sang Ida mit heiserer Kinderstimme ein Lied, immer dieselbe scharfe, traurige Notenfolge.
Ambrosius schwieg. Die beiden Liebenden hatten sich in einen alles vergessenden Traum hineingewiegt. Rosa hatte keinen Gedanken, fast kein Bewusstsein ihrer selbst, als Ambrosius sie in seine Arme nahm und durch das Zimmer trug. Es war ihr, als würde sie von einem lauen, sanft rauschenden Wasser fortgetragen – weit fort. Draußen, im berauschenden Hauch der Sommernacht, hatte sie widerstanden, hier, in der engen, dumpfen Trödlerstube, gab sie sich hin. Der durchdringende süße Duft der Erbsenblüte betäubte sie halb – und in die schwüle Luft dieser Liebesstunde drängten sich – wie Fieberträume – die Visionen breiter, lärmender Straßen, hell erleuchteten Säle, und dann kam wieder, wie aus weiter Ferne, Idas scharfe, säuerliche Stimme mit ihrem schläfrigen Lied.
Am Abend hatte es zu regnen angefangen. Als Rosa auf die Straße hinaustrat, schlugen ihr große kalte Tropfen so heftig in das Gesicht, dass es schmerzte. Dazu fegte noch ein heftiger Wind durch die Gassen, rüttelte an den Blechschilden der Läden und ließ den Regen laut auf die Dächer trommeln. Rosa lief; dieses Pfeifen, Klatschen und Lärmen erschreckte sie; fast hätte sie den Weg nach Hause nicht gefunden, so wirre drehten sich die Gedanken in ihrem Kopf. Die feuchten Straßen, der zuckende Widerschein der Laternen auf den Plätzen, die Fenster, durch die man in friedlich erleuchtete Wohnstuben blickte, wo Familien ruhig um die Lampe versammelt waren – alles zog an Rosa vorüber wie blasse, fremde Traumbilder, wie jene Visionen, die sich so seltsam immer wieder in den Sinnenrausch hineingeschoben hatten. In ihren Ohren klang Idas Lied eigensinnig fort, und auf ihrem Körper glaubte sie noch Ambrosius’ heiße Hände und Lippen zu spüren. Atemlos rannte sie vorwärts, erst vor ihrer Wohnung blieb sie einen Augenblick stehen und sann – dann stieg sie langsam die Treppe hinan.
Der Flur und das Wohnzimmer waren finster, nur in der Küche brannte das Feuer. Durch die halb offene Türe sah Rosa Agnes stehen, sie musste gehört haben, dass die Türe geöffnet wurde, denn ohne sich umzuwenden fragte sie: »Rosa – bist du’s?«
»Ja«, erwiderte Rosa. Ohne Hut und Mantel abzulegen, blieb sie im Flur stehen und schaute in die Küche hinein. Dieser matt vom kleinen Herdfeuer erleuchtete Raum mit seinen dämmerigen Ecken, in denen zuweilen auf einem Kupfergerät ein roter Blitz erwachte, Agnes in ihrem grauen Kleide, ihrer großen weißen Haube, dazu das behagliche Prasseln in der Pfanne auf dem Herde – das ergriff Rosa – machte sie traurig und tat ihr doch wohl.
»Der Vater ist fortgegangen«, berichtete Agnes, noch immer ohne sich nach Rosa umzudrehen. »Er hat auf dich gewartet. Als du nicht kamst, ging er in den Klub. Er hat nichts gegessen, meinte nur, ich soll das Essen für dich warmhalten.«
Rosa stand regungslos da und schwieg.
»Wo warst du denn?« fuhr Agnes fort. »Du weißt doch, dass er allein nichts essen mag und dass es ihm nicht gut ist, ohne Nachtmahl fortzugehen. Du könntest auch an den Vater denken. Was du draußen bei dem Wetter zu suchen hast, weiß ich nicht, aber du solltest wenigstens zur Zeit wieder da sein. Wer läuft denn bei Nacht auf den Straßen herum!« Agnes schüttelte die Pfanne, dass es ärgerlich in ihr aufzischte. Rosa wandte sich ab und ging in ihr Zimmer hinüber, sie war gänzlich durchnäßt und musste die Kleider wechseln. In ihrem Zimmer aber fühlte sie sich zu erschöpft, um die Kerze anzustecken. Sie setzte sich im Finstern auf ihr Bett und brütete vor sich hin, folgte wieder willenlos der Jagd ihres heißen Blutes, das ihr in den Schläfen und in der Brust hämmerte und brannte. So fand sie Agnes, als sie ins Zimmer trat. Anfangs schalt sie: Warum saß Rosa im Finstern? Warum ließ sie das Essen kalt werden? Als sie aber Rosa näher betrachtete, erschrak sie. »Gerechter Gott! Was ist dem Kinde? Du bist ja ganz nass? Hat man so etwas gesehen? Nur schnell andere Kleider.« Eilig zog sie Rosa die nassen Kleider aus, immer halblaut vor sich hinbrummend. »So – so! Ganz kalt ist das Kind. Ei – ei – die Füße wie Eis.« Geschäftig lief sie in die Küche, um die Wäsche am Herdfeuer zu wärmen. »Ganz warme Strümpfe, die werden guttun. Nicht wahr, die sind heiß?« Sie kniete nieder, zog Rosa die Strümpfe an. Die mütterliche Sorgfalt, die sich warm und liebend ihrer bebenden, erstarrten Glieder annahm, tat Rosa sehr wohl, und als sie – wieder trocken und behaglich angekleidet – dasaß, blickte sie müde und dankbar lächelnd zu Agnes auf. »Nun wird es recht sein«, meinte die alte Frau. »Bis auf das Hemd nass zu werden, du liebe Zeit! Das wird einen Schnupfen geben! Komm, iss schnell etwas Warmes.«
Im Speisezimmer brannte die Hängelampe. Vor Rosas Gedeck prasselten die Schweinsrippchen in ihrer Schüssel noch sachte fort, daneben stand ein Teller mit Apfeltörtchen und eine Flasche Rotwein. »Komm – iss«, drängte Agnes.
Rosa war hungrig. Sie aß und trank mit wahrer Lust; lange schon hatte es ihr nicht so gut geschmeckt. Agnes lehnte am Büffet und schaute ihr bedächtig zu. Dieser ruhige, forschende Blick war Rosa unbequem; las ihr die alte Frau nicht alles, was sie erlebt hatte, vom Gesicht ab? Sie beugte ihren Kopf tiefer auf den Teller nieder und aß hastig weiter.
»Nicht so schnell, lass dir Zeit«, mahnte Agnes einmal.
»Ich bin fertig«, sagte Rosa endlich und blickte auf; da Agnes sie aber wieder so ernst anschaute, errötete sie und schlug die Augen nieder.
»Das hat geschmeckt«, versetzte Agnes und versuchte zu lächeln. »Geh jetzt zu Bett, Kind!«
Als Rosa wieder allein in ihrem Zimmer war, ward sie von bangen, schmerzvollen Gedanken bedrängt. Sollte sie zu Agnes hinausgehen? Die Gegenwart der alten Wärterin flößte ihr immer noch das beruhigend sichere Gefühl ein, wie sie es als Kind empfand, wenn die kleine Rosa durch alle Schrecknisse der finsteren Wohnstube glücklich in die Küche gelangt war und sich an Agnes’ Schürze hängen durfte. Aber Agnes hatte sie heute so streng angesehen – Rosa ertrug diesen Blick nicht. Sie legte sich zur Ruhe – sie fühlte sich wie zerschlagen. Wüst und furchtbar erschienen ihr jetzt die Vorgänge im Trödlerhause, und das Fieber, das sich beim Gedanken an jene Stunde in ihrem Blut entzündete, war ihr unheimlich und widerwärtig. Dazu noch der kommende Tag mit seinen Abenteuern, seinen Gefahren. Nein, sie würde gewiss nicht den Mut finden, all das auszuführen! Plötzlich erwachte in ihr die Liebe für ihre enge Heimat, für die behagliche Welt, in der Agnes Stockmaier regierte. Ja – warm im Neste sitzen, sich von Agnes pflegen lassen – da war man sicher und gut aufgehoben!
Im Nebenzimmer ging Agnes ab und zu, rückte den Tisch, klapperte mit den Tellern. Durch die halbangelehnte Türe drang der gelbe Schein der Lampe in Rosas Zimmer und vergoldete ein Stück des alten roten Bettschirmes. Alles war, wie es stets gewesen, seit Rosa denken konnte, die wirren, unruhigen Bilder verblassten vor der Macht des langgewohnten Friedens. Ruhig und lächelnd schlief Rosa ein, als wäre sie noch ein kleines, unschuldiges Kind.
Ambrosius war noch eine Weile im Zimmer des Trödlers sitzengeblieben. Ein angenehmes, stolzes Gefühl beseelte ihn das Bewusstsein, im Besitz eines schönen, begehrenswerten Mädchens zu sein. Rosa gehörte jetzt ihm, dafür wollte er sie auch beschützen und ihr ein hübsches, vergnügliches Leben bereiten. Sie hatte sich ganz in seine Hände gelegt. »Da hast du mich, mache etwas Glückliches daraus.« Dieser Augenblick im Leben eines Jünglings ist immer erhebend, und Ambrosius verstand ihn voll zu würdigen.
Nachlässig in dem großen Sorgenstuhl der Jüdin hingegossen, nahm er die schlaffe, melancholische Haltung eines müden Herzenskönigs an und träumte von den schönen Kleidern, die er Rosa kaufen, von den prächtigen Sachen, die er ihr zeigen wollte. Sie sollte die Welt sehen; aber die Welt sollte auch Rosa sehen, sollte sie und ihn bewundern. Wie wird das kleinstädtische Mädchen über all die Pracht staunen, wie wird es zu ihm aufblicken, wenn er sich elegant und sicher in der Großstadt zurechtfindet – wie wird es ihn dann lieben! Also nach Wien, das stand fest.
Eine lustige Zeit in einer großen Stadt mit Rosa zubringen, seine Liebe in die Zimmer eines ersten Hotels einquartieren, sie mit dem Luxus eleganter Läden schmücken, mit ihr in Theaterlogen paradieren – eine Weile den reichen jungen Ehemann auf der Hochzeitsreise spielen – das war jetzt der Kuchen, den Ambrosius um jeden Preis haben musste. Der Gedanke einer Heirat tauchte auch mitunter in seinen Phantasien auf – aber unklar und verschwommen. O ja, warum nicht? Man würde ja sehen! Heute erschien ihm alles möglich, nur ging er diesen Bewegungen gern aus dem Wege – fertigte sie kurz ab. Ein anderer Gedanke aber ließ sich nicht so ohne weiteres abweisen und machte Ambrosius Sorge. Er hatte Geld nötig, viel Geld; genug, um einige Wochen auf großem Fuß leben zu können. Merkwürdig war es, wie sich Ambrosius’ Vorsorge nur immer auf einige Wochen erstreckte. Später? Ach was, das wird sich finden. Die Eltern taten ihm ja alles zu Willen; er würde sie schon zu etwas Geeignetem bestimmen. Aber woher das Geld für den Augenblick nehmen? Ambrosius hatte zwar gestern Geld von den Eltern erhalten; das reichte jedoch nicht hin. Nur einer konnte helfen – der Trödler. Er war reich und Wucherer, kannte außerdem die Verhältnisse der Tellerats und hatte somit keinen Grund, das Geld nicht herzugeben. Seufzend erhob sich Ambrosius. Galt es ein Vergnügen zu erjagen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte, so konnte er zur Not auch eine Unannehmlichkeit mit in den Kauf nehmen; sie durfte nur nicht zu groß sein. Er ging in den Trödlerladen hinaus.
Von der Decke hing eine Petroleumlampe nieder, deren trübgelbe Flamme unruhig flackerte. Die Türe zur Straße hin stand offen, laut klatschend schlugen die Regentropfen auf die Steinschwelle, und der enge Raum war voll des kühlen, feuchten Duftes, den ein Sommerregen zu verbreiten pflegt. Wulf saß hinter seinem Ladentisch, eine Brille auf der Nase, und schrieb. Ida kauerte auf der Türschwelle, sah, die Hände um die Knie schlingend, in den Regen hinaus und sang. Bei Ambrosius’ Eintreten schaute Wulf auf, lächelte und fragte: »Der Vogel schon ausgeflogen?«
Ida hielt im Singen inne, um Ambrosius mit blanken, neugierigen Augen zu betrachten. – »Ja – hm«, erwiderte Ambrosius und lachte diskret: »Was machen Sie denn da, Wulf? Rechnen, immer rechnen. Ja, wenn man so reich ist –«
»Reich – gerechter Gott!« rief der Trödler und schlug sein Buch zu. »Wenn Sie, junger Herr, so reich wären wie ich, dann wär es aus mit dem hübschen Leben. Immer Spaß – feine Kleider – hübsche Fräuleins – das kann ich nicht.«
»Ach was! Sie haben genug«, scherzte Ambrosius und drohte mit dem Finger. Dann griff er nach dem wackeligen Rohrstuhl, der in der Ecke stand, und setzte sich. Es machte ihm Vergnügen, selbst vor Wulf den Mann zu spielen, der matt von Liebestriumphen ist. Langsam strich er sich mit der Hand über die Stirn und bat Ida um ein Glas Wasser.
Als Ida fort war, schwieg Ambrosius; er konnte sich nicht entschließen, mit seinem Anliegen herauszurücken, er beugte sich über den Tisch, musterte die Glasringe, nahm einen heraus und hielt ihn gegen das Licht: »Für die Leute vom Lande«, erklärte Wulf.
»Hm – nicht übel«, bemerkte Ambrosius, kniff ein Auge zu und schaute durch das bunte Glas. »Wulf«, sagte er plötzlich, immer noch den Ring am Auge haltend, »ich brauche Geld.« Der Jude antwortete nicht sogleich, blickte auch nicht auf, sondern tat, als wär das eine unwichtige Mitteilung, die nicht ernstgenommen sein wollte.
Erst nach einer Weile sagte er – so obenhin: »Ja – Geld, das braucht einer bald.«
»Nein, im Ernst, Wulf«, versetzte Ambrosius lebhaft, »ich brauche viel Geld, und Sie sollen’s mir geben.«
»Ich?« Wulf lachte. Herr von Tellerat spaßte wohl. Wo sollte er – Wulf – Geld hernehmen? Er brauchte selbst welches.
»Seien Sie kein Narr. Sie wissen doch, dass es ein sicheres Geschäft ist, Sie verdienen ja dabei.«
»Freilich, wer das hätte, würde was verdienen – aber ich…«
»Keine Flausen, Wulf. Sie haben genug im Kasten liegen. Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus. Morgen brauche ich das Geld.«
»Es ist keines da, lieber junger Herr. Wieviel soll es denn sein?«
»Achthundert.«
»Das ist hübsch viel. Auf wie lange denn?«
»Auf kurze Zeit – ein – zwei – oder drei Monate.«
»Wer das hätte, könnte das Geschäft machen«, meinte Wulf und ließ seinen dünnen, abgetragenen Bart nachdenklich durch die Finger gleiten. »Ich habe nichts – Ehrenwort. – Wer kaviert denn auf dem Wechsel?«
»Wozu ist denn ein Kavent nötig?« fuhr Ambrosius auf. »Bin ich Ihnen nicht sicher genug?«
»Ich sage nicht nein, Gott bewahre!« besänftigte ihn der Trödler: »Sicher ist schon ein Papier, wo Sie daraufstehen; das ist wie bares Geld. Wer das Geld hat, gibt es auf Ihre Unterschrift allein.«
»Sie haben’s doch, sagen Sie doch nicht solche Dinge.«
»O Gott, nein! Und dann – ich würde Ihnen das Geld von Herzen gern geben, aber meine Alte erlaubt es nicht, sie hat es. Ja, wenn ich es hätte!«
»Wieder etwas Neues!«
»Werden Sie nicht böse, junger Herr. Wir sprechen ja nur über die Sache. Wenn die Alte will, so ist’s gut, reden Sie morgen mit ihr.«
»Abgemacht. Morgen hole ich das Geld.«
Der Jude sah den jungen Mann aus seinen kleinen gelben Augen misstrauisch an: »Zwei sind immer sicherer als einer«, bemerkte er.
»Sie immer mit Ihrem Zweiten«, rief Ambrosius entrüstet. »Es ist wirklich unverschämt. Wo soll ich denn einen Zweiten hernehmen!«
»Gott, wenn Sie nur wollten«, meinte Wulf lächelnd.
Ärgerlich und nervös nagte Ambrosius an seiner Unterlippe; es war zu widerwärtig, so in den alten Schelm dringen zu müssen. Ida war längst wieder da, sie wollte jedoch nicht stören und stand neben Ambrosius, das Glas Wasser in der Hand haltend. Sie hörte aufmerksam zu und begriff vollkommen, dass man nicht durstig ist, wenn man von Geld spricht. Jetzt blickte sie ihren Vater bedächtig an und sagte: »Der Herr Lurch drüben, der tut’s schon – für Fräulein Rosa.«
Ambrosius lachte – doch – Ida hatte vielleicht nicht unrecht. Auch Wulf lachte gerührt über sein Kind. »Ida – was weißt du! Der junge Herr wird das besser wissen; der ist gescheiter als wir beide zusammen.«
»Nein, lassen Sie sie nur. Sie hat recht.« Ambrosius gefiel der Einfall. Lurch war ja sein blindes Werkzeug, der würde ihm helfen. Bei Gott! Ida hatte das Wahre getroffen, und gut gelaunt kniff Ambrosius das Mädchen in die gelbe Backe, was Ida steif und kühl entgegennahm: »Also Lurch.« Ambrosius erhob sich. »Morgen komme ich. Ich rechne auf Sie – Wulf.«
»Ergebenster Diener, junger Herr«, erwiderte der Jude, »aber nichts Bestimmtes kann ich sagen.«
»Gehen Sie, Alter, die Sache ist abgemacht. Adieu, Ida, du bist ein kluges Mädchen.«
»Empfehl mich, junger Herr.«
Vornehm mit der Hand winkend verließ Ambrosius den Trödlerladen.