Loe raamatut: «Die Niederlage der politischen Vernunft»
EGON FLAIG
Die Niederlage der politischen Vernunft
Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen
Egon Flaig,
geboren 1949, lebt in Berlin.
Er lehrte als Professor für Alte Geschichte an den Universitäten Greifswald und Rostock. Gastprofessuren führten ihn ans Collège de France, die Sorbonne und an die Universität Konstanz. Von 2003 bis 2004 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und von 2009 bis 2010 Stipendiat des Historischen Kollegs München. 1996 wurde ihm der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen »Weltgeschichte der Sklaverei« (2009), »Die Mehrheitsentscheidung« (2013) und bei zu Klampen »Gegen den Strom.
Für eine säkulare Republik Europa« (2013).
Inhalt
Cover
Titel
Der Autor
Widmung
Zitate
Vorwort: Drei grenzenlose Aussagen
I. Die politische Vernunft vor ihrem höchsten Zweck
II. Die dreifach negierte Aufklärung
III. Faschistoider ›Antikolonialismus‹ – Frantz Fanon
IV. Heiliger Ausbruch aus dem Universalismus – Michel Foucault
V. ›Recognition‹ – eine moralisch gerechtfertigte Apartheid
VI. Die Wahrheit unterm Stiefel der Antidiskriminierung
VII. Gedächtnispolitik – die »Therapie durch die Lüge«
VIII. Die Kritische Theorie und die Abdankung der Republik
IX. Rechtlich betriebene Auflösung des Politischen
X. ›Unpolitik‹ – zum Verhältnis von Wahrheit und Öffentlichkeit
XI. Ohne Feindschaft keine Werte – ohne Rückbesinnung keine Aufklärung
Schlußbemerkung: Freiheit und Dankbarkeit
Anmerkungen
Literaturhinweise
Impressum
Für Achim und seine Generation
»People will not look foreward to posterity, who never look backward to their ancestors.«
Edmund Burke
»Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.«
Hannah Arendt
»Jede Generation glaubt zweifellos dafür geweiht zu sein, die Welt umzuschaffen. Die meinige jedoch weiß, daß sie sie nicht umschafft. Aber ihre Aufgabe ist vielleicht größer. Sie besteht darin, zu verhindern, daß die Welt zerfällt.«
Albert Camus
Vorwort: Drei grenzenlose Aussagen
»Das sind keine Menschen, das sind Verbrecher!« So urteilte der sächsische Ministerpräsident Tillich am 23. Februar 2016 über Bewohner eines Dorfes, die einen Bus von Migranten blockiert hatten. »Es gibt keine Obergrenzen!«, so verlautbarte die Kanzlerin Angela Merkel monatelang, um deregulierte Migration nach Deutschland zu rechtfertigen. Und Martin Schulz appellierte auf dem SPD-Parteitag am 10. Dezember 2015: »Für den Sieg des Bösen reicht es, daß die Guten nichts tun.« Diese drei Aussagen markieren die Fluchtpunkte einer Weltsicht, die beansprucht, als einzige diskursfähig zu sein. Sie hängen miteinander zusammen und beruhen auf gemeinsamen Axiomen.
»Das sind keine Menschen.« Wie ist es möglich, Bürgern, die zivilen Widerstand leisten gegen staatliche Maßnahmen, das Menschsein abzusprechen? Den politischen Gegner zu kriminalisieren heißt, sich an einer Grenze zu bewegen – genauso wie wer zivilen Widerstand übt, sich an einer Grenze bewegt, aber eben nicht zum Verbrecher wird. Doch selbst wenn ziviler Widerstand zum Verbrechen würde: Wie kann ein Politiker öffentlich behaupten, bestimmte Menschen seien keine Menschen? Wieso steht ein Verbrecher außerhalb des Menschseins? Immerhin spricht Tillich nicht von Mördern, sondern von Bürgern, die einen Bus mit Migranten nicht in ihr Dorf einfahren lassen wollten. Wenn Verbrecher keine Menschen sind, was sind sie dann? Sind es Tiere, Untermenschen oder Dämonen? Tillichs Aussage stellt uns vor das Problem, wie Grenzen zu ziehen sind. Wenn eine radikale Moralität die Grenzen zieht, und wenn diese Grenze zur ultimativen und sakralisierten wird, dann freilich ist der Satz richtig: Verbrecher sind keine Menschen. Sie haben ihr Menschsein verwirkt, in dem Augenblick als sie den Bus mit Migranten stoppten. Die gesamte Menschheit sagt sich los von ihnen und anerkennt sie nicht mehr als zur Gattung zugehörig.
»Keine Obergrenzen«, so lautete das Mantra, mit dem die Kanzlerin die unkontrollierte und rechtswidrige Zuwanderung nach Deutschland befahl und jedweden Einwand abschmetterte. Am 7. Oktober, in einem Interview, behauptete sie, Deutschland habe 3 000 Kilometer Landgrenze; diese Grenze sei nicht zu schließen. Folglich liege es »nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen«. Demnach würde Deutschland sogar die 60 Millionen Flüchtlinge auf dem Globus aufnehmen, und wenn nötig auch 100 oder 200 Millionen. Zum erstenmal in der Geschichte der staatlich organisierten Menschheit verkündigte eine Regierung, daß die Grenzen offen stünden für eine ungehinderte und unbegrenzte Zuwanderung in einen Staat. Eine Entgrenzung dieser Art, wenn sie dauert, läßt jedwede rechtliche und politische Ordnung kollabieren. Ein Staat, der die Hoheit über seine Grenzen aufgibt, gibt seine Staatlichkeit auf.
Vom »Sieg des Bösen« sprach Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag, Edmund Burke zitierend. Den Guten stehen nicht die Schlechten gegenüber, sondern das Böse. Das Böse ist nicht bloß das Schlimme, nicht das Übel. Es ist keine moralische Kategorie, sondern eine kosmische. Das Böse ist die kosmische Macht, die alle bösen Handlungen verursacht und bewirkt. Wenn das Böse zu einer Realität in der politischen Arena wird, dann kämpfen die Guten gegen die Agenten des Bösen, gegen dämonische Feinde. Wer im Dienste des Bösen steht, der ist nicht bloß verworfen, sondern gefährlicher als der schlimmste Killer; er steht jenseits der absoluten Grenze.
Der manichäische Schematismus von Martin Schulz leistet dasselbe wie der moralische Extremismus von Tillich; beide grenzen den politischen Gegner aus der Menschheit aus. Dieser Rückfall hinter sicher geglaubte Hegungen, die wir nicht zuletzt der Aufklärung verdanken, wirft Fragen auf. Unter anderem danach, wie vernunfthaltig diese Exklusion ist. Sie operiert mit zwei Entgrenzungen: Erstens entgrenzt sich die Feindschaft, denn sie wird, das Menschsein der Gegner negierend, zu einer Abwertung ohne Maß, zweitens entgrenzen sich die möglichen Maßnahmen; denn es gilt nicht bloß, diesen Feind zu besiegen, sondern ihn zu vernichten. Und dafür ist die konventionelle europäische Hegung des Kampfes und Krieges untauglich. Solche hysterische Maßstabslosigkeit ergibt sich logisch aus den Axiomen, die alle drei Aussagen konstituieren. Der Vernunftverlust in dieser Grenzenlosigkeit der Feindschaft indiziert, daß der hegemoniale Diskurs wesentliche Errungenschaften der Aufklärung stillgelegt hat. Die politische Vernunft hat eine Niederlage erlitten. Das ist erstaunlich, weil ja alle drei Aussagen zweifelsohne ein universalistisches Anliegen artikulieren: Merkels Satz nimmt die Einigung der Menschheit in einer grenzenlosen Weltrepublik vorweg, nämlich den asylbezogenen Kosmopolitismus. Die beiden anderen Aussprüche flankieren diesen Universalismus, indem sie radikal exkludieren, was sich ihm entgegenstellt. So gerät eine Staatsgrenze – immerhin die konstitutive Bedingung für einen Staat – zum universalismusfeindlichen Ärgernis. Indes, alles in der Welt ist begrenzt. Einen grenzenlosen moralischen Universalismus stur durchzusetzen, erheischt einen hohen kognitiven und moralischen Preis. Sogar einen politischen; denn der britische Souverän hat dieser Entgrenzung sein klares Nein entgegengestellt. Eine Grenze zu haben ist das entscheidende Merkmal aller Existenzen und sogar aller Ideen. Alles Bestimmen und alles Definieren begrenzt das Definierte. Wer Grenzenlosigkeit zum Ideal erhebt, macht die Selbstverdummung zur moralischen Pflicht. Dagegen muß die Politische Vernunft Einspruch erheben.
Diesen Einspruch will das vorliegende Buch begründen. Um die Gründe darzulegen, hat es sich drei Fragen zu stellen: Worin besteht die Niederlage der Politischen Vernunft? Wieso kam es zu dieser Niederlage – in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland? Was bedeutet diese Niederlage für die Politische Kultur? Demgemäß entfaltet das erste Kapitel zunächst den Begriff der Politischen Vernunft; es erörtert, warum diese einerseits einem menschenrechtlichen Universalismus verpflichtet ist, und wieso sie anderseits die historische Dimension in ihren Begriff einschließt; es verdeutlicht die erheblichen Konsequenzen, die sich für vernunftorientiertes politisches Denken ergeben, sobald es die Verlierbarkeit aller kulturellen Errungenschaften berücksichtigt. Der Gegenstand des zweiten Kapitels sind drei Weisen, die Aufklärung zu negieren, zunächst das Theorem der grenzenlosen Nächstenliebe, dann der Antiuniversalismus in seiner doppelten Gestalt als Negierung universaler Wahrheitsansprüche und als Kulturrelativismus. Das dritte Kapitel behandelt die maßgebliche Triebfeder für die Zerstörung des menschenrechtlichen Universalismus, nämlich die antikolonialistischen Diskurse, wobei die ethnopluralistischen und rassistischen Grundsätze von Frantz Fanon besondere Beachtung finden. Es folgt im vierten Kapitel eine kritische Besinnung auf Foucaults späte politische Verirrungen, auf seine Idee einer pseudoreligiösen Befreiung aus der Geschichte und auf seine Hinwendung zu einer Politik der permanenten antirepublikanischen Schuldsuche. Auf dieser ideengeschichtlichen Basis beruht die Politik der Recognition, die im fünften Kapitel untersucht wird; dabei erweist sich, daß kommunitärer Multikulturalismus und Ethnopluralismus Parallelphänomene auf derselben ideellen Grundlage darstellen und ideengeschichtliche Nachfolger von chauvinistischen Ideologien sind. Das sechste Kapitel bespricht, wie die Politik der Antidiskriminierung in die Rechtsdiskurse übersetzt wird und sich zu einem Instrument entwickelt, um sowohl die Meinungsfreiheit als auch die wissenschaftliche Wahrheitssuche einzuschränken und um Grundprinzipien der Demokratie auszuhebeln. Daran schließt sich im siebten Kapitel eine kritische Besinnung auf die Gedächtnispolitik an, insbesondere auf deren Funktion bei der Konstituierung kommunitärer Denkungsarten, die sich gegen alle Kriterien historischer Wahrheit sträuben. Das achte Kapitel legt zunächst dar, daß der Begriff des Gemeinwohls unverzichtbar bleibt und daß keine Demokratie bestehen kann, wenn die individuelle Freiheit der politischen Freiheit übergeordnet wird; anschließend wird erörtert, warum die Kritische Theorie unfähig war, sich dem Trend zur Entlegitimierung von Demokratie und Menschenrechten entgegenzustemmen. Im neunten Kapitel rückt der Zerfall kardinaler staatlicher Funktionen ins Blickfeld, insbesondere der Verlust der Wehrfähigkeit und die Diskreditierung der Ordnungsorgane. Dabei wird die Rolle der Rechtsprechung kritisch zu besehen sein, insbesondere ihre Transformation unter dem Druck der EU und ihre Funktion bei dem Angriff auf die Grenzen 2015. Das zehnte Kapitel befaßt sich mit der partiellen Zerstörung der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Im Fokus stehen diskursive Praktiken, mit denen die Massenmedien 2014–2016 evidente Realität leugneten und Hyperrealität erzeugten, Praktiken, die nachhaltig die politische Kultur der Republik beschädigt haben. Das elfte Kapitel schließlich untersucht, wieso Werte auf Opferbereitschaft angewiesen sind, ferner wieso ein pervertierter Toleranzbegriff notwendig in die politische Apathie und zum Verlust von Aufklärung führt. Soll der Verlust nicht endgültig werden, ist kulturelle Selbstbesinnung zu leisten; diese beinhaltet jedoch historische Rückbesinnung, um in der Vergangenheit orientierende Landmarken zu ermitteln. Am Schluß steht eine Betrachtung des Zusammenhangs von historischer Dankbarkeit und politischer Freiheit.
I. Die politische Vernunft vor ihrem höchsten Zweck
Notre pensée n’est qu’une continuelle commémoration.
Alain
Was ist politische Vernunft?
Es geht um die politische Vernunft. Diese ist nicht die Kunst der Politik; und sie ist nicht eine spezifische Rationalität politischen Handelns. Sie ist eine Schwester der praktischen Vernunft kantianischen Stils. Bei Kant findet sich dieser Vernunfttyp nicht. Allerdings verficht er die »Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat.« Die Vernunft gebiete: exeundum e statu naturali – die Menschheit hat die Pflicht, aus dem Naturzustand herauszufinden und »das größte Problem für die Menschengattung« zu lösen, nämlich eine »vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung« zu erreichen. Zuerst gelte es, sich in rechtlich geordneten Staaten zusammenzuschließen. Nicht von der Moralität der Bürger rühre »die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr, umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volkes«.Sogar ein Volk von Teufeln müßte im Rahmen allgemeiner Gesetze sich so verhalten, daß das allgemeine Wohl befördert würde. Ob der Königsberger Philosoph hierbei den Kitt, ohne den Republiken auseinanderfielen, allzu unbeachtet ließ, davon soll im achten Kapitel die Rede sein. Jedenfalls hält er dafür, daß auch die Einzelstaaten den Naturzustand, in dem sie sich befinden, überwinden müßten. Und auch auf diesem Wege bedient sich die Natur der Antagonismen, ja sogar der Kriege: »Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen (…) bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der (…) so wie ein Automat sich selber erhalten kann.«1 Eine Naturabsicht treibe die menschliche Geschichte mittels Konkurrenz und Feindschaft asymptotisch ihrem Endzweck zu, einer republikanischen Weltföderation. Kant setzte in diese geschichtsphilosophisch wichtige Hohlstelle kein menschliches Vermögen ein; ihm genügt die blinde Logik der unsichtbaren Hand, die sich durchsetzt hinter dem Rücken der Akteure und ohne deren Bewußtsein. Hegel hat daraus die List der Vernunft gemacht. Aber läßt sich an dieser Stelle nicht ein menschliches Vermögen auffinden?
Es ist das Vermögen, alle Menschen als zugehörig zu einer einzigen Gattung zu denken. Es ermöglicht den Menschen, sich vorzustellen, daß diese Gattung nicht nur dazu taugt, transethnische Heiraten zuzulassen und interethnische Kriege zu führen, sondern auch ein Schicksal hat. Die meisten Erlösungsreligionen auf transethnischer Basis huldigen einem solchen Universalismus. Dieses Vermögen, obschon allen Menschen gegeben, hat sich in den meisten bisherigen Kulturkreisen der Menschheit nicht entfaltet. Unter den Zehntausenden Kulturen, die bisher auf dem Globus existierten, ist ein solcher Universalismus etwas Seltenes. Noch seltener ist ein Universalismus, der es sich zum expliziten Ziel setzt, die gesamte Menschheit auf die Wanderschaft zu bringen – hin zu einem weltbürgerlichen Zustand, unter der Fahne der politischen Freiheit. Das geistige Vermögen, diese Wanderschaft zu ersinnen und ihre Implikationen zu durchdenken, soll »Politische Vernunft« heißen.
Warum wird sie erst jetzt zum Thema? Weil bestimmte historische Phänomene oft erst erkennbar werden, sobald sie am Verschwinden sind. Hegel läßt die Eulen der Minerva bei Einbruch der Dämmerung fliegen: Der Tag ist vorbei, zum Handeln ist es zu spät, nun bleibt nur noch die Erkenntnis. Indes, wo für den Philosophen eine geschichtliche Formation erst im Zielzustand des Gewesenseins eingefroren sein muß, bevor sie sich seinem Erkennen erschließt, rechnet der Historiker anders: Existentielle Gefahren versetzen dem reflexiven Innewerden schöpferische Impulse. Krisen befördern spezifische Einsichten; sie stellen sich dar als Situationen beschleunigten Wandels, wo sich plötzlich stark umkämpfte Alternativen auftun. Je heftiger der Streit um die Orientierung tobt, desto deutlicher zeichnen sich die Umrisse von historischen Komponenten ab, deren Wichtigkeit man bisher nicht bemerkt hatte, weil sie selbstverständlich schienen. Das ist gegenwärtig der Fall.
Sowohl in der logischen Struktur als auch in den Inhalten unterscheidet sich der hier dargestellte Begriff der politischen Vernunft von der kantischen praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ der politischen Vernunft lautet: Die Menschheit soll sich vereinigen in einem weltbürgerlichen politischen Zustand, in einer Weltrepublik. Ihre kardinale Bedingung besteht darin, daß ein Großteil der Menschheit einen spezifischen Fortschritt zur Kenntnis nimmt. Denn die Globalisierung der Menschheit ist unbestreitbar, in technischer, infrastruktureller, völkerrechtlicher und noch mancher anderen Hinsicht. Zwar vollzieht sich dieses Geschehen katastrophisch. Trotzdem ist im Bewußtsein sehr vieler Menschen der zeitliche Verlauf der menschlichen Kommunikationen, den wir Geschichte nennen, keinesfalls ein ungeheurer chaotischer »Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt«, keine »sinnlose Unendlichkeit des Weltgeschehens«.2 Globalisierung ist nicht denkbar ohne Universalismus; allerdings ist der aufklärerische Universalismus nicht der einzige. Der Prozeß der Globalisierung folgt überwiegend einem ›Trend‹; er hat also eine Richtung, folglich einen Sinn, wie schwach und undeutlich dieser sich auch ausnehme. Dieser Trend kommt teilweise als blindes Resultat zustande, teilweise haben ihn Akteure in schwersten politischen Kämpfen intentional vorangetrieben. Die Sklaverei wurde abgeschafft nur durch allergrößte politische und militärische Anstrengung, entgegen jeglicher ökonomischen Logik und trotz heftigstem und andauerndem Widerstand. Wenn man die vielfältigen Gebiete der Universalisierung betrachtet, dann ist der Fortschritt rasant geworden. Aber er ist nicht stufenmäßig garantiert. Was Kant annahm, nämlich daß man hinter erreichte Stufen der Aufklärung nicht zurückfallen könne, ist zweifelhaft geworden. Angebracht ist eine skeptische Version der Aufklärung, nämlich die Einsicht, daß die Menschheit zum Zustand weltbürgerlicher Vereinigung fortschreiten muß, wenn sie überleben will. Denn die demographische Explosion, der klimatische Umbruch, der gleitende ökologische Kollaps, die ökonomische Privatisierung von gigantischen Ressourcen, die epidemische Virulenz des Terrorismus sowie die ausufernden religiösen Bürgerkriege berauben die Menschheit der Chance, auf diesem Planeten globale Katastrophen zu vermeiden, Katastrophen, die einen Großteil der kulturellen Errungenschaften der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende annihilieren werden. So wie Kant ein »principium exeundum e statu naturali« postuliert, ein Prinzip, wonach die Menschen notwendigerweise den Naturzustand verlassen müssen, um mittels des Staates im Zustand des Rechts leben zu können, so drängt sich im Angesicht der heutigen Drohungen als analoges Prinzip die Notwendigkeit auf, aus dem Naturzustand der Staatenwelt herauszufinden. Die Perspektive verstattet keinen hoffnungsfrohen Blick auf den Fortschritt, sondern nötigt zu einer nüchternen Suche nach einem Ausweg.
Gegenüber der praktischen Vernunft muß sich die politische in zwölf Hinsichten einschränken. Diese Einschränkungen sind konstitutive Eigenschaften dieses Vernunfttyps; sie sind in ihm impliziert, es sind also Implikate. Während Postulate theoretische Voraussetzungen in notwendiger praktischer Absicht sind, haben diese Implikate eine empirische Bewandtnis bedingender Art; sie bedingen sachlich und faktisch den Gebrauch der Politischen Vernunft. Daher möchte ich sie Bedingnisse nennen. Daß es zwölf sind, ist der gewählten Systematik der Aspekte geschuldet; eine andere Systematik ergäbe eine andere Anzahl von Bedingnissen.
Erstens kann der Fortschritt zu einer föderierten Weltrepublik sich nur vollziehen im Raum des Politischen. Dieses ist eine autonomisierte soziale Sphäre, in welcher soziale Macht dermaßen gebündelt und organisiert wird, daß auch die stärksten sozialen Gruppen sich den Anweisungen fügen müssen, die aus dieser Sphäre ergehen. Wird die Autonomie des Politischen beschädigt und wird das Politische zersplittert, oder wird es gar weitgehend vom Globus verschwinden, dann ist es den Menschen nicht mehr möglich, intentional und planmäßig einzugreifen in die unterschiedlichsten sozialen, rechtlichen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bereiche, um definierte kollektive Zwecke anzuvisieren. Denn weder die Ökonomie noch die Demographie korrigieren ihre eigenen Entwicklungen selber. Das Recht ist ohnehin zur Gänze angewiesen auf funktionierende Staatlichkeit und geht ohne solche augenblicklich verloren, wie die Beispiele der failing states veranschaulichen. Und dann wird es keinen Weg geben zu Kants höchstem geschichtlichem Ziel.
Zweitens ist die Struktur dieses autonomisierten Bereiches eine säkulare und republikanische. Diese beruht einerseits auf radikaler Anthroponomie, nämlich dem Ausschluß göttlicher Einflußnahme und Offenbarung aus der Gesetzgebung und aus der Formung der politischen Ordnung. Das heißt nicht, der menschlichen Hybris mit Fürsprache zu dienen; ist doch im Laufe des vergangenen Jahrhunderts im Übermaß ans Licht und zur Sprache gekommen, wie haltlos und zerbrechlich der Mensch im Kosmos existiert. Die Anthroponomie entspringt nicht mehr dem renaissancehaften Stolz des emanzipierten Menschen, sondern der resignierten Einsicht, daß die Theokratie sich als das größere Übel erwiesen hat; denn sie ersetzt die sozialen und ethnischen Konflikte letztlich durch zyklisch wiederkehrende religiöse Bürgerkriege. Worauf Dostojewskijs Großinquisitor lauert, das setzt der menschlichen Freiheit ein Ende. Anderseits erfordert dieser Raum des Politischen eine republikanische Gestalt, um die herrschaftsmäßige Konzentration von sozialer Macht zu begrenzen, zu kontrollieren und sie institutionalisiert an den Willen des souveränen Volkes zu binden. In dieser Hinsicht bietet die griechisch-römische Antike die eindrucksvollsten Vorbilder. In ihr entstand jener genuin politische Raum, in dem Menschen als Bürger kollektive Entscheidungen treffen, innerhalb von Institutionen und entlang von selbstgesetzten Regeln; und sie entwickelte Lösungen, die in vieler Hinsicht bis heute maßstäblich und großenteils gültig geblieben sind.
Drittens unterscheidet die politische Vernunft scharf zwischen dem Menschen überhaupt und dem Bürger, der seine Rechte in seinem Staat ausübt. Diese Unterscheidung ist fundamental für alle Gemeinwesen, die auf Partizipation beruhen, wohingegen sie unter Diktaturen tendenziell ihren Sinn verliert. Partizipation und Zugehörigkeit sind aufeinander angewiesen, wenn Menschen nicht nur als bloße Menschen in der Gesellschaft leben wollen, sondern sich als Zugehörige von politischen Gemeinschaften mit republikanischer Verfassung verstehen. Dieser Unterschied wird im achten Kapitel begründet.
Viertens aktualisiert die politische Vernunft sich in einem unaufhebbaren Widerspruch: Jener menschenrechtliche Universalismus, zu welchem die Aufklärung durchgedrungen ist, stellt einerseits die einzige und letzte Instanz dar für den Erlaß normativer Regelungen; anderseits dürfen normative Regelungen nicht die republikanische Substanz der Gemeinwesen beeinträchtigen – weil nur im Rahmen demokratisch legitimierter Staaten die partialisierte Menschheit ihren Weg zur Weltrepublik gehen kann. Demzufolge ist es für unabsehbare Zeit nicht möglich, die Menschenrechte so anzuwenden, als seien sie positive Gesetze. Die virulente Praxis der internationalen und nationalen Justizapparate, mittels neuer Dogmatisierungen eben das zu tun, bedeutet politiktheoretisch, daß sich die Justiz dazu ermächtigt, das staatliche Handeln zu paralysieren und sogar die Staatlichkeit in ihren Fundamenten zu bedrohen und zu zerstören. Davon wird in den Kapiteln sieben und neun die Rede sein.
Fünftens beinhaltet die politische Vernunft das Wissen, daß dieser Prozeß hin zu einer Weltrepublik ein schwieriger ist, verbunden mit Rückschlägen sowie mit schweren interkulturellen, interreligiösen, interethnischen und interstaatlichen Konfrontationen. Solche Zusammenstöße – bis hin zu Kriegen – sind nicht zu vermeiden; es ist daher geboten, uns auf sie vorzubereiten. Dieses Wissen war eine Zeitlang getrübt von globalpazifistischen Illusionen. Werden die verhängten Denkverbote nicht beiseite geräumt, dann ist es schwierig, die historischen Gefahren abzuschätzen und die politischen Maßnahmen vorurteilsfrei zu erwägen.
Sechstens verlangt die politische Vernunft, die Kosten gewaltsamer Konfrontationen abzuwägen gegen die Kosten ihrer Vermeidung. Sie verpflichtet dazu, sich vor Augen zu halten, was den demokratisch legitimierten Gemeinwesen droht, wenn sie solchen Konfrontationen ausweichen. Die verschiedenen Machtsorten – ökonomische, militärische, kulturelle, finanzielle, kybernetische – sind mitnichten politisch gleichwertig. Die militärische Drohung ist von keiner anderen Machtsorte zu kompensieren. Wer kriegerischen Zusammenstößen auf jeden Fall ausweichen will, wird erpreßbar. Wer wirksam droht, wird dem kampfunwilligen Kontrahenten immer Zugeständnisse abpressen. Solche Erpreßbarkeit ist immer ein Souveränitätsverlust. Die Europäer sollten nicht vergessen, daß noch vor 200 Jahren westliche Staaten Tribute an die maghrebinischen Emirate zahlten, um deren Piraterie vom eigenen Handel fernzuhalten. Seit der Auflösung der globalen Blöcke ist dieser Mechanismus wieder in Gang gekommen.
Siebtens erheischt die politische Vernunft das ungetrübte Begreifen, daß die Feindschaft ein kardinaler Begriff des Politischen ist. Feindschaft ist eine unvermeidbare Beziehung zu jenen Kräften, die offen jene universalen Werte bekämpfen, ohne die eine menschenrechtlich verpflichtete Weltrepublik nicht denkbar ist. Dieses siebente Bedingnis ergibt sich aus dem sechsten. Es entrichtet eine distanzierte Hommage an Carl Schmitts »Begriff des Politischen«. Dieser hatte das Politische bestimmt von der Warte einer kriegsfähigen Gemeinschaft aus: Egal ob diese Gemeinschaft eine staatliche, eine ethnische oder eine religiöse ist, die kardinale Frage ist die, ob sie fähig ist, kollektiv verbindlich zu bestimmen, wer Feind und wer Freund ist. Für Schmitt ist das Politische also eine Kategorie der Intensität von Assoziation und Dissoziation.3 Welche politische Verfaßtheit die kriegsfähige Gemeinschaft hat, ist ihm dabei gänzlich gleichgültig. Von dieser Position setzt sich die hier gewählte Definition des Politischen scharf ab. Denn es bezeichnet einen abgegrenzten sozialen Bereich, der sich desto mehr autonomisiert, je intensiver und extensiver die institutionell geformte Partizipation der Mitglieder einer Gemeinschaft sich gestaltet. Seine Lebendigkeit bemißt sich nicht so sehr an der Kriegsfähigkeit als vielmehr an der Entscheidungsfähigkeit. Ein solcherweise bestimmtes Politisches kann demnach ohne Kriege und Feindschaft auskommen. Es benötigt als zuzuführenden energetischen Stoff lediglich den Konflikt, nämlich die ständigen Reibereien von Meinungen, Optionen und Zielen. Jedoch bleibt es hinsichtlich der Schmitt’schen Definition auf einem parallelen Weg, solange auf dem Planeten feindliche und kriegsfähige Einheiten hausen. Solange Kriege möglich sind und so lange wie eine republikanische Weltföderation außer Reichweite ist, bleibt die Feindschaft eine kardinale Kategorie des vernünftigen Denkens. Für jede ernsthafte kulturelle Selbstvergewisserung sind das semantische Potential und der kognitive Mehrwert von Feindschaft riesig. Das wird zu behandeln sein im achten und neunten Kapitel.
Achtens verbietet die politische Vernunft, interesselose Neutralität zu üben, wenn die Maßstäbe zur Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen angetastet und beschädigt werden. Wer die Wahrheit als Ideal der Erkenntnis diskreditiert, setzt das Argumentieren außer Kraft. Der Austausch von Meinungen entledigt sich dann der Formen einer geregelten Diskussion und gerät zum rhetorischen Machtspiel. Wird das Wahre der Jurisdiktion des Guten unterstellt oder gar der sogenannten Gerechtigkeit, dann triumphiert die gute Gesinnung über die Erkenntnis und ebnet der Heraufkunft einer Kultur der Verlogenheit den Weg. Letzten Endes beschädigt das die institutionalisierten Verfahren, mittels derer sich Streit zwischen menschlichen Gruppen in rechtsförmiger Weise schlichten läßt; und ohne solche Verfahren sind gemeinsame Programme weder zu formulieren noch zu organisieren. Die wissenschaftliche und philosophische Form des kognitiven Universalismus ist deswegen eine entscheidende Ressource für die Zukunftsfähigkeit der menschlichen Gattung. Daher gebietet die politische Vernunft, jene in der griechischen Antike gesetzten Maßstäbe des wissenschaftlichen und logischen Argumentierens zu verfechten und zu bewahren. Im zweiten Kapitel wird dieses Thema eröffnet, in den Kapiteln sechs, sieben und neun werden die kulturellen Folgen der diskursiven Verschiebungen zu beleuchten sein.
Neuntens berücksichtigt diese Form der Vernunft, daß die Menschen sterblich sind und in Zeithorizonten leben. Die maßgebliche Kategorie beim Vermessen der Zeithorizonte ist die Generation. Generationen halten die menschlichen Staaten und Kulturen zusammen. Sie sind das Scharnier zwischen der biologischen Reproduktion eines jeden Staates und der Sterblichkeit seiner Individuen. Mehr noch: Der kulturelle Reichtum stellt sich unmittelbar dar als ungeheure Ansammlung von Artefakten und Institutionen. Dieses Kapital ist geronnene Arbeit und Mühe, objektivierte Tätigkeit. Es ist akkumuliert worden mittels der Tradition, d. h. der Weitergabe dinglicher und institutioneller Errungenschaften, sowie von Fertigkeiten und Wissen – von einer Generation an die andere. Dieser intergenerationelle Transfer übertrifft den Transfer zwischen Kulturen bei weitem. Kant ließ keinen Zweifel daran, was das bedeutet: »Dankbarkeit ist Pflicht (…) Was die Extension dieser Dankbarkeit angeht, so geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenigen, die man nicht mit Gewißheit namhaft machen kann.«4 Just im Jahre 1789, in seiner Jenenser Antrittsvorlesung, deduzierte Friedrich Schiller aus dieser Dankbarkeit eine geistige Disposition, uns verpflichtet zu fühlen gegenüber der Nachwelt, weil die Dankesschuld sich nur so überhaupt abstatten lasse. Wegen dieser intergenerationellen Verpflichtung betrachtete Edmund Burke Staaten als Gemeinschaften zwischen denen, die gelebt haben, leben und noch leben werden. Es ist ein Irrtum, hierin eine beliebige Identitätskonstruktion zu sehen; denn der Grund, dankbar zu sein, läßt sich nicht wegdiskutieren, da er in Gestalt tausendfacher Errungenschaften vor unseren Augen steht. Dieselben bloß für gegeben zu halten, würde die Menschen der Gegenwart in amnestische Troglodyten verwandeln, die als Parasiten durch die Geschichte stolpern.