Loe raamatut: «Die erste Legende von Ashamur»
Eileen Schlüter
Die erste Legende von Ashamur
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die erste Legende von Ashamur
Es gibt viele Legenden im Königreich der vier Himmel, doch die erste prophezeit großes Unheil...
Karte des Vierhimmelreichs
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
GLOSSAR
Eileen Schlüter 2021
Die erste Legende von Ashamur
Impressum neobooks
Die erste Legende von Ashamur
© by Eileen Schlüter 2021
Es gibt viele Legenden im Königreich der vier Himmel, doch die erste prophezeit großes Unheil...
Karte des Vierhimmelreichs
Prolog
Reich der vier Himmel,
Westreich - Hauptstadt Aracon
Bei dem köstlichen Duft des frischen mit Ziegenkäse gefüllten, gedämpften Hefebrötchens, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal etwas gegessen hatte? Zwei Tage, vielleicht sogar drei?
Zumindest hatte er in den vergangenen zwei Tagen hart arbeiten und allerlei Beschimpfungen und grobe Behandlungen der anderen Hafenarbeiter über sich ergehen lassen müssen, um sich das Geld für diese köstliche Mahlzeit zu verdienen. Sein Körper schmerzte noch immer von den schweren Lasten, die er von den Schiffen an Land geschleppt hatte. Die nächste Mahlzeit war nicht absehbar, denn er war bei weitem nicht der einzige Straßenjunge, der um Arbeit rund um den Hafen von Aracon bettelte. Die Aussichten, ein zweites Mal als Hilfsarbeiter angeheuert zu werden, standen ziemlich schlecht. Die anderen Jungen waren älter und wesentlich kräftiger gebaut, sodass sie mehr Säcke auf ihre, um einiges breitere Schultern hieven konnten als er. Dementsprechend hatte er sich so manche Beleidigung angesichts seiner schwächlichen Konstitution anhören müssen. Und dann hatte ihm der backenbärtige Hafenmeister doch glatt noch die Hälfte des verabredeten Lohns vorenthalten, mit der Begründung, seine gehbehinderte Schwester habe mehr Mumm in den Knochen und hätte in der Zeit dreimal mehr Säcke schleppen können.
Zu seinem Glück hatte der freundliche Turban tragende Straßenstandverkäufer, der seinem Aussehen nach einem Wüstenvolk angehörte, ein Auge zugedrückt und dem Jungen die zwölf Cuan erlassen, die ihm zum Erwerb des gefüllten Dampfgebäcks eigentlich gefehlt hatten. Der gute Mann schien großes Mitleid gehabt zu haben, beim Anblick des hungrigen Kindes mit den flehenden grauen Augen.
Er könne den Rest des Geldes einfach nächstes Mal bezahlen, hatte der Wüstenmann freundlich lächelnd gesagt und ihm das warme, duftende Hefebrötchen in die Hand gedrückt.
Sein Magen gab ein grollendes Geräusch von sich, das dem Knurren eines wütenden Wolfes nicht unähnlich war. Der Junge schob sich eine Haarsträhne aus den Augen. Unter der feinen Staubschicht wirkte das zerzauste, honigbraune Haar, das an seiner verschwitzten Stirn und den Wangen klebte, stumpf.
Es war Mittag. Die Mitsommersonne brannte ungnädig auf die stickigen Gassen der Stadt herab, während der beißende Gestank vom Hafen erbarmungslos in seine Nase kroch und einen Würgreiz auslöste. Er packte den Kragen seines zerschlissenen Leinenhemdes und zog den groben Stoff schützend über Mund und Nase. Nur weg von diesem Ort. Er hastete um eine Hausecke und folgte dem Weg in Richtung Stadtzentrum. In einiger Entfernung konnte er bereits den großen Marktplatz erkennen. Die grellbunten Planen der unzähligen Marktstände stachen ihm sofort ins Auge und er beobachtete einen Augenblick lang die Menschenscharen, die sich in der flimmernden Hitze eilig darunter herschlängelten.
Der Junge ließ sich unter einer von hunderten Spatzen bevölkerten, Schatten spendenden Zelkove auf dem weichen Untergrund nieder. Das fröhliche Zwitschern in der Baumkrone hoch über seinem Kopf wirkte auf eine unerklärbare Art tröstlich und zum ersten Mal seit vielen Tagen fiel diese innere Anspannung, die ihn stets begleitete, von ihm ab.
Das Dampfbrötchen in seiner Hand war immer noch angenehm warm. Er sog den Duft mit geschlossenen Augen tief in seine Lunge ein und wollte gerade den ersten Bissen nehmen, als ihn ein wütendes Grölen fast zu Tode erschreckte. Er riss die Augen auf, da traf ihn augenblicklich ein heftiger Schlag am Kopf. Im selben Atemzug flog seine Mahlzeit in hohem Bogen durch die Luft und landete im Dreck. Mit geweiteten Augen starrte der Junge auf das Brötchen, das von Schmutz und Staub bedeckt vor seinen Füßen lag, dann auf den Übeltäter, der es ihm auf brutalste Weise aus der Hand geschlagen und dabei seine rechte Gesichtshälfte gestreift hatte. Tränen brannten in seinen Augen, doch der, in seiner Brust anschwellende Zorn über den Angriff, der den Verlust seiner langersehnten Mahlzeit bedeutete, überlagerte den pochenden Schmerz an seinem Wangenknochen.
„Na wen haben wir denn da. Ist das nicht Kel – der kleine Schwächling?“ Ein großer Junge mit strähnigen, schwarzen Haaren und massigem Körper beugte sich bedrohlich über ihn. Eine tiefe dunkle Narbe zierte seine linke Schläfe. Doch vor allem an seinen auffallenden tiefschwarzen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel übergangslos miteinander verbunden waren, erkannte Kel den Jungen sofort wieder. Er war einer der Hilfsarbeiter, die ihn während der Arbeit bei den Schiffen ständig drangsaliert hatten. Er war mindestens drei Jahre älter als Kel und wies schon eine ordentliche Gesichtsbehaarung auf. Seine Zähne waren braun und sein Atem roch sauer. Angeekelt wich Kel ein Stück zurück. Die zerklüftete Rinde des Baumes an dem er lehnte, bohrte sich in sein Fleisch.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich zwei weitere Jungen näherten was seinen Herzschlag panisch in die Höhe trieb.
„Was willst du, Ocai?“, fragte er und versuchte seine zitternde Stimme unter Kontrolle zu bringen.
„Na, was denkst du wohl, Kel?“
Die anderen Jungen hatten ihn mittlerweile umzingelt. Er saß in der Falle.
Ocai zog seine mandelförmigen Augen zu Schlitzen zusammen. „Her mit deinem Lohn!“, grunzte er. „Wir haben uns den Rücken krumm gebuckelt und mindestens das Doppelte an Säcken und Kisten an Land geschleppt. Während du dich stundenlang an einer einzigen Kiste zuschaffen gemacht hast. Nächstes Mal solltest du dir besser Weiberarbeit suchen.“ Er lachte grimmig. Einer der anderen stemmte seine Fäuste in die Hüften und bäumte sich vor ihm auf. „Sozusagen haben wir deine Arbeit erledigt, daher steht uns auch der Lohn dafür zu. Also rück gefälligst das Geld raus!“
Kels Blick wanderte vorsichtig zu Boden, wo das gefüllte Brötchen mittlerweile unter den Füßen der Jungen platt getrampelt und gänzlich ungenießbar war.
Ocai fletschte seine fauligen Zähne. „Sag bloß, du hast den ganzen Lohn für dieses Entenfutter verschwendet? Da hat der Wüstenmann dich aber gehörig über den Tisch gezogen.“ Wütend zermalmte Ocai ein weiteres Stück des Brötchens unter seiner Schuhsohle, an der der zerbröselte Ziegenkäse kleben blieb.
Kel schluckte schwer. Sein Hals war staubtrocken. Seit wann hatte er eigentlich nichts mehr getrunken?
„Der Hafenmeister hat mir nur einen Targesh und zwanzig Cuan gezahlt. Das Brötchen kostete sogar einen Targesh und zweiunddreißig Cuan, doch der Mann hat mir den Rest erlassen.“
„So, hat er das?“ knurrte Ocai. „Da hast du aber Glück gehabt, an einen so freundlichen Mann geraten zu sein. Nur Pech für dich, dass wir nicht so nett sind wie der Turbanträger!“ Er packte Kel mit einer Hand an den lockeren Schnüren seines Hemdes und mit der anderen umfasste er seinen schlanken Hals. Kels von Natur aus blasse Haut wurde kalkweiß. Die zarte Haut unter seinen Augen begann bläulich violett zu schimmern. Lähmende Angst schnürte ihm zusätzlich die Kehle zu. Er rang nach Luft und starrte in die finsteren Mienen seiner drei Angreifer, die allmählich vor seinen Augen verschwommen.
Nein, du wirst nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt, schien ihm eine seltsam vertraute Stimme in seinem Kopf zuzuflüstern. Es war nicht die Stimme seiner verstorbenen Großmutter. Diese Stimme klang wesentlich jünger. Vielleicht war es die Stimme seiner Mutter. Er wusste es nicht. Seine Mutter war vor zwölf Jahren gestorben. Nur wenige Sekunden nachdem er den ersten Atemzug seines Lebens genommen hatte.
Schwindel erfasste ihn. Er presste die Augen zusammen.
Seine Gedanken begannen wie Quellwolken am Himmel auseinander zu driften. Nein- bleib stark!
Plötzlich spürte Kel etwas, das sich wie ein Windstoß anfühlte. Windstoß...? Wohl eher ein Taifun, der an ihnen vorbei peitschte. Panisch riss Kel die Augen auf und beobachtete voller Erstaunen, wie Ocai, der eben noch mit seinen riesigen Händen versucht hatte, seine Kehle zuzudrücken, nun von dem Sturm meterweit davon geschleudert wurde. Eine weitere gewaltige Böe riss die beiden anderen Jungen davon. Rückwärts purzelten alle drei zu Boden und blieben scheinbar erstarrt vor Schreck liegen. Das Geäst über Kel zitterte und knackte, Blätter wirbelten wie wild herum und wurden davongetragen, bevor sie in einiger Entfernung sanft zu Boden segelten. Einen Wimpernschlag später war der rätselhafte Sturm ebenso schnell vorbei, wie er erschienen war. Kel rappelte sich auf und flüchtete so schnell er konnte. Im Vorbeirennen warf er einen neugierigen Blick auf seine am Boden liegenden Angreifer. Erschrocken wich er zurück, als er in allen drei Gesichtern rätselhafte rote Striemen entdeckte, einige waren blutig, als hätte ihnen jemand mit einer mehrsträngigen Peitsche ins Gesicht geschlagen. Allmählich kamen Ocai und seine Kumpane zu Bewusstsein und begannen zu stöhnen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete Kel davon, erfüllt von der Furcht, der mysteriöse Sekundensturm wolle auch ihn noch einholen.
***
Hungrig und ziellos taumelte Kel durch die Gassen der Hauptstadt des Westreichs. Dieser exklusive Teil der Stadt, mit seiner feinen Gesellschaft war ihm unbekannt. Er konnte sich weder erinnern, wie er hierher gelangt war, noch was er hier eigentlich wollte. Hier fiel er jedenfalls auf, wie ein geblümtes Kamel, zwischen all den kostspielig gekleideten Menschen, die sich mit bunten –aus dem entfernten Reich der aufgehenden Sonne – importierten Seidenfächern Luft zuwedelten und den tadellos uniformierten, privilegierten Schuljungen, die die angesehene Akademie von Aracon besuchten. An ihren unterschiedlich gefärbten Gürtelschärpen konnte Kel ihre Graduierungen erkennen. Auch sein Vater hatte oft eine Uniform getragen, als er noch lebte und als Söldner im Krieg gekämpft hatte, bevor er eines Tages nicht mehr heimkehrte. Da war Kel sechs Jahre alt gewesen. Die grüne Söldnerschärpe seines Vaters war eine der wenigen Habseligkeiten, die Kel noch besaß. Die meisten Dinge aus seiner Vergangenheit waren ihm in den Jahren auf der Straße gestohlen oder vom Hochwasser zerstört worden.
Seit Nona, seine geliebte Großmutter, vor fast zwei Jahren gestorben war, lebte Kel ohne ein Dach über dem Kopf im schäbigsten Viertel Aracons. Dort herrschte das Gesetz der Straße und die meisten Bewohner hausten in windschiefen Hütten und ärmlichen Baracken.
Er suchte sich mal hier, mal dort Unterschlupf vor der brütenden Hitze, wie sie jetzt in der Mitte des Sommers herrschte. Während der eisigen Winter, die im Westreich keine Seltenheit waren, fand er meist Zuflucht in verlassenen Ställen, die er mit vielen anderen Straßenkindern teilen musste.
Von irgendwo strömte der Duft namenloser Köstlichkeiten in seine Nase und nagte an seinem Verstand. Wenn er es wagte, in einer Gegend wie dieser zu betteln, bestand die Gefahr, verhaftet zu werden, doch der quälende Hunger raubte ihm jegliche Vernunft. Zögerlich näherte er sich einer Gruppe Männer, die vor einem imposanten pfirsichfarbenen Gebäude mit roten Ziegeln eine rege Unterhaltung führten. Einige trugen reich verzierte Kopfbedeckungen, die man Kausia nannte und die sie als angesehene Bürger klassifizierten. Ein Mann jedoch trug auffälligen Schmuck und weitaus prächtigere Gewänder in dunklen Blautönen als alle anderen. Schon auf den ersten Blick erkannte man, dass er ein hohes Amt bekleidete oder zumindest eine überaus wichtige Persönlichkeit war.
Mit geöffneten Händen trat Kel auf die Männer zu. „Habt erbarmen...“, stammelte er, „...ich habe solchen Hunger, nur ein paar Cuan für eine Schale Getreidebrei würden mir genügen...bitte...“
Die Männer mit den Kausias musterten Kel von Kopf bis Fuß, die Empörung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Zeit schien einen Moment stehen zubleiben und Kel überlegte, ob er lieber die Beine in die Hand nehmen und von diesem Ort flüchten sollte. Das unergründliche Schweigen und die erbosten Mienen der Männer ließen nichts Gutes erahnen. Dann ergriff einer der Männer endlich das Wort: „Betteln ist hier verboten! Mach dass du in dein Viertel verschwindest, Bengel, bevor wir die Stadtwachen rufen!“ Der Mann wurde ganz rot unter seiner hellbraunen Kausia. Verängstigt wich Kel vor dem Mann zurück.
Unerwartet spürte Kel jedoch eine sanfte Berührung. Es war der Edelmann, der Kel seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Mit der anderen Hand hantierte er an seinem Geldbeutel, der an seinem prunkvoll verzierten Gürtel hing, und nach ein Paar Handgriffen förderte er eine Silbermünze zu Tage. Bei dem Anblick schluckte Kel seinen trockenen Speichel so heftig herunter, dass es in seinem Hals schmerzte. Das Silberstück musste mindestens dreißig Targesh wert sein.
„Udris, mein lieber Freund“, wandte er sich an den Mann, der Kel zuvor so grob zurechtgewiesen hatte. „Der arme Junge hat doch nur Hunger. Hunger ist wahrlich ein qualvolles Gefühl, das Ihr – mein lieber Udris – sicher nicht kennt. Bedenkt, dass niemand etwas dafür kann, in welche Gesellschaftsschicht er hineingeboren wird. Niemand kann sich seine Eltern aussuchen. Allein das Schicksal entscheidet darüber.“ Die sanfte Stimme des Edelmannes wirkte seltsam beruhigend auf Kel, dessen nervöser Herzschlag sich daraufhin normalisierte. Die anderen Männer schienen den Worten nur widerwillig zuzustimmen, doch milderte sich ihre geringschätzige Mimik ein wenig.
„Wie Ihr meint, ehrenwerter Stadtverwalter Vardan“, murmelte der Mann namens Udris.
Die Münze landete in Kels Handfläche.
Seine Augen begannen zu glänzen und wurden so riesig, dass der Wohltäter beinahe befürchten musste, sie könnten jeden Moment aus ihren Höhlen fallen. Kel wiederholte mehrmals hektische Gesten der Dankbarkeit und verbeugte sich immer wieder, als handele es sich hier um eine Begegnung mit dem König des Reichs der vier Himmel. Er umschloss die Münze fest mit seinen schlanken Fingern und entfernte sich, noch immer verneigend, von der Gruppe. Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, stieß Kel einen Jubelschrei aus und rannte in die Richtung aus der die verführerischen Düfte strömten. An der nächsten Straßenabbiegung blieb er wie erstarrt stehen. Gegenüber lauerten Ocai und seine Kameraden. Sie waren in Begleitung eines uniformierten Mannes, der zweifellos der Stadtwache angehörte.
„Da, das ist er!“, hörte Kel Ocai brüllen. „Das ist der Kerl, der uns so zugerichtet hat. Er muss ein Magieträger sein, der seine Kräfte missbraucht hat, um uns zu verletzten!“
Kel gefror bei diesen Worten das Blut in den Adern. Magieträger? Unmöglich!
Die anderen Jungen zeigten mit wilden Gebärden auf Kel, worauf der Wachmann schnurstracks die Straße überquerte und auf Kel zueilte.
„Hier geblieben Bürschchen!“, brüllte der Gesetzeshüter. Doch Kel war schon in die entgegengesetzte Richtung losgeprescht. Die Straßen waren ihm unbekannt, aus Angst in einer Sackgasse zu landen, wie es sie in seinem Viertel massenhaft gab, wählte er die Richtung aus der er zuvor gekommen war. Von weitem erkannte er die Männer, die noch immer vor dem imposanten Gebäude standen und debattierten. Doch noch bevor er die Gruppe erreichte, packten ihn kräftige Hände bei den Schultern. Kel geriet ins Straucheln. Weitere Arme ergriffen ihn von hinten und hielten ihn fest. Er presste seine Faust mit der Silbermünze fest zusammen, damit sie nicht verloren ging.
„Ich habe nichts getan!“, kreischte er in Panik. „Lasst mich los!“ Unsanft zerrte der Wachmann an Kels Arm, sodass dieser sich unfreiwillig zu ihm umdrehten musste, während Ocai seinen Körper noch immer fest im Griff hatte. Kel wand sich vor Schmerzen, was Ocai jedoch nur dazu veranlasste, noch brutaler zuzupacken.
„Was versteckst du da?“ Der Wächter ergriff Kels Faust und versuchte sie gewaltsam zu öffnen. Kel presste seine Finger so fest er konnte zusammen, doch der Mann war viel stärker, sodass er schließlich nachgab. Sobald die Münze zum Vorschein kam, untersuchte der Wachmann sie zwischen seinen wulstigen Fingern, dann verzog er seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Was haben wir denn da, Bürschchen? Nicht nur, dass du ein gewissenloser Magieträger bist, obendrein noch bist du noch ein Dieb!“
„Ich bin kein Dieb und auch kein Magieträger!“
„Ach nein? Und wie erklärst du dann das hier?“ Ocai verzog zornig sein von purpurroten Striemen entstelltes Gesicht.
„Ich war das nicht, bitte lasst mich gehen!“, flehte Kel. In seinem Inneren spürte er eine brodelnde Hitze bis zur Brust aufsteigen.
Befreie dich!
Wieder diese vertraute sanfte Stimme, die ihm Mut zusprach und die ihm plötzlich eine unbegreifliche Stärke verlieh. Mit einem Ruck befreite sich Kel aus dem Griff des Wachmanns. Eine weitere flinke Bewegung und er entwischte auch Ocai, doch dieser reagierte ungeahnt schnell und schnappte nach Kels Handgelenk. Ohne darüber nachzudenken, wirbelte Kel im Halbkreis herum, riss sein Bein in voller Länge in die Höhe und verpasste seinem Gegner einen kräftigen Hieb mit seinem Fuß, der ihn an der vernarbten Schläfe traf. Eine solch außergewöhnliche Fußtechnik beherrschten für gewöhnlich nur Kämpfer, welche die traditionelle Kampfkunst in einem der fünf Ausbildungstempel erlernt hatten. Doch Kel hatte als Kind lediglich den Kämpfern bei ihren Übungen zugeschaut, denn als er noch mit seiner Großmutter im Apfelblüten-Viertel gewohnt hatte, gab es direkt gegenüber ihrer Wohnstätte ein großes freies Feld, das die Krieger des araconischen Heeres gerne für Kampfübungen nutzten. Während Nona beharrlich mit Körbe flechten beschäftigt war, beobachtete Kel am liebsten die waffenlosen Kämpfer, die unermüdlich ihre anmutigen, kraftvollen und blitzschnellen Bewegungen perfektionierten. Stundenlang hatte er ihre Kampftechniken studiert, sie sogar versucht zu imitieren, doch seit er auf der Straße lebte, hatte er keine Kämpfe mehr gesehen, geschweige denn selbst Techniken trainiert. Umso überraschter war er über seinen präzisen Fußtreffer in Ocais Gesicht. Kel ergriff erneut die Flucht, doch die beiden anderen Jungen waren ihm auf den Fersen und holten ihn bald ein. Sie kamen schnell näher und versuchten ihn einzukreisen. Kels Herz raste wie wild in seiner Brust, sein Atem ging hastig und brannte in seiner Lunge. Doch da stieß Kel unerwartet zum Angriff vor, was ihn beinahe mehr überraschte als den Jungen, dem er eine pfeilschnelle Faust in den Magen rammte. Dann wirbelte Kel herum und brachte den anderen mit einem gezielten Fußtritt zu Fall. Beide blieben regungslos am Boden liegen, lediglich ihr schmerzvolles Stöhnen offenbarte Kel, dass er sie nicht umgebracht hatte. Dennoch zitterte er am ganzen Körper, die Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen, doch er musste hier so schnell wie möglich verschwinden.
Von weitem waren die wütenden Rufe des Wächters zu hören. „Haltet den Burschen, lasst ihn nicht entkommen!“
Verzweifelt suchte Kel nach einem Fluchtweg aus diesem Viertel. Passanten hatten sich in einigem Abstand versammelt und das ganze Geschehen beobachtet. Doch ihren Blicken war nicht zu entnehmen, ob sie nun Abscheu oder Bewunderung empfanden, für den schmutzigen Straßenjungen, der soeben drei wesentlich stärkere Gegner überwältigt hatte.
Inmitten der vielen fremden, sauberen Gesichter entdeckte Kel plötzlich das einprägsame Gesicht des Stadtverwalters – Vardan. Diese warmen braunen Augen und die freundlichen Wangengrübchen würde er nie mehr vergessen. Vardan war sein Retter in der Not gewesen. Wehmütig blickte Kel in seine leere Handfläche. Die Silbermünze war verloren.
Den kurzen Augenblick der Unachtsamkeit hatte der Wachmann genutzt, um sich an Kel heranzuschleichen. Brüllend stürzte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. „Hab ich dich endlich, Bürschchen!“
„Was geht hier vor, Wachmann Aidan?“
Es war die Stimme des Stadtverwalters, die Kel sogleich erkannte, obwohl er fast vollständig unter dem massigen Körper des Wachmannes begraben lag.
Der Wachmann rappelte sich auf und zerrte Kel unsanft auf die Füße. „Präfekt Vardan...“, stammelte er, während er Kels Handgelenke hinter dessen Rücken zusammenquetschte, sodass er schmerzvoll aufschrie.
„Ich habe der Stadt soeben einen großen Dienst erwiesen, ehrenwerter Präfekt. Diese kleine Ratte hier ist ein niederträchtiger Dieb und außerdem ein Magieträger, der seine Gabe auf höchst kriminelle Weise eingesetzt hat...doch dank meiner Wenigkeit, wird er seine gerechte Strafe bekommen und im Kerker schmoren!“
Mit einer erhabenen Geste bedeutete der Präfekt dem Wächter zu schweigen. Er kam näher, hob Kels Kinn an und sah ihm direkt in die Augen. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich an den Wachmann.
„Werter Aidan, dieses Kind soll ein Krimineller sein?“
„Der Bursche hat einen großen Silber-Kuzyn bei sich gehabt. Ein eindeutiger Beweis, dass es sich hier um einen Dieb handelt...“ Er quetschte Kels Handgelenke noch fester mit seinen kräftigen Händen.
„Das Geld hab ich von ihm bekommen. Bitte, Präfekt... sagt es ihm!“ flehte Kel den Stadtverwalter an.
„Er sagt die Wahrheit. Das Geld bekam er von mir. Lasst den Jungen los!“
Verwunderung breitete sich auf Aidans Gesicht aus. „A...aber...aber... was ist mit den drei Burschen, die er verletzt hat, seht sie Euch an!“ Er deutete auf die drei angeschlagenen Angreifer.
„Ich habe keinerlei unerlaubte Magie gesehen. In meinen Augen hat der Junge sich nur sehr geschickt und noch dazu ziemlich stilvoll verteidigt. Für sein Alter scheint er großes kämpferisches Talent zu haben. Derartige Anlagen sollte man unbedingt fördern. Mit einer guten Ausbildung könnte er eines Tages als Kämpfer im königlichen Heer erfolgreich sein.“ Der Präfekt musterte Kel mit mildem Gesichtsausdruck.
Vor Empörung fielen dem Wachmann beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Er hat einen Peitschensturm heraufbeschworen, der die Jungen verwunden sollte ...seht doch in ihre Gesichter, Präfekt...“
„Ein Peitschensturm?“ Der Präfekt bedachte den Wächter mit einem ungläubigen Blick. „Welche Art von Magie soll so etwas bewirken? Nicht einmal die großen Meister der Tempel beherrschen derartige Fähigkeiten!“ Vardan kratzte sich an der Schläfe, bevor er anfügte: „Es gibt allerdings Gerüchte, dass vor dreihundert Jahren Großmeister Utheon vom Tempel des Südens versuchte, den Wind zu beschwören. Allerdings nicht allzu erfolgreich.“
„Na...vielleicht...ist der Bengel...äh... Utheons Reinkarnation...“, stotterte der Wachmann.
„Nun hört aber auf mit solchem Unsinn, werter Aidan. Lasst den armen Jungen gehen, er hat nichts verbrochen, wofür man ihn in den Kerker werfen müsste. Ich werde schon dafür sorgen, dass dieser kampflustige Knirps eine angemessene Strafe für seine Vergehen erhält.“ Kel atmete erleichtert auf, als er Vardans freundliches Augenzwinkern bemerkte.
„Aber ehrenwerter Präfekt...“
„Nun schweigt endlich!“
Sogleich ließ Aidan von Kel ab, der sich rasch die schmerzenden Handgelenke rieb.
„Zeig mal her, Junge.“ Vardan begutachtete die bläulich verfärbten Hautstellen.
„Zuhause habe ich eine exzellente Kräutersalbe dagegen. Mein Sohn, Jard, übt sich schon seit er acht Jahre alt ist in der Kräuterkunde. Er will mal ein Magieheiler werden und im Westtempel die Heilkunst studieren, weißt du. Jard ist nicht viel älter als du, du wirst ihn mögen. Willst du mich begleiten?“