Der Traum vom kühnen Leben

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Der Traum vom kühnen Leben
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Der junge Yves ist aus der südfranzösischen Provinz zum Studium nach Paris gekommen. Aus Angst, sich zu verlieren, nimmt er stets dieselbe Metro und dieselben Straßen, jeden Tag geht er mit seinen Büchern ins Café an der Ecke, wo er lernen, aber wo er vor allem ein bekannter Unbekannter bleiben kann. Eines Sonntags trifft er dort auf Evelyne, eine Klavierlehrerin Anfang dreißig, die mit ihrem Sohn, dem dreizehnjährigen Jérôme, seinen Tisch besetzt. Fortan drehen sich seine Gedanken um diese unnahbare, widerspruchsvolle Frau, eine Liebesgeschichte beginnt. Als Evelyne wegen einer Anstellung in die Banlieue zieht, wohnen sie bald zu dritt in dieser möblierten Wohnung mit dem Klavierzimmer und den tausend Schallplatten – bis Evelyne eines Tages verschwindet und die beiden ihrem Schicksal überlässt.

Elena Costas Roman, in dem die französische Presse eine Nähe zu Patrick Modiano erkennt, zeichnet die Erinnerungen von Yves und Jérôme mit einem Abstand von dreißig Jahren nach. Zwischen den zwei Stimmen wechselnd nähert er sich in einer stillen, präzisen Sprache den Themen der Einsamkeit, des Verlassen- und des Erwachsenwerdens sowie der tröstenden Kraft von Musik, während indirekt das Porträt einer Frau entsteht, die kompromisslos nach Freiheit sucht.

Elena Costa
Der Traum vom kühnen Leben

Roman

Aus dem Französischen von Lis Künzli


Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français.

Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia gefördert.


Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel La vie audacieuse bei den Editions Gallimard erschienen.

© 2020 Editions Gallimard, Paris

© 2021 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

www.editionblau.ch

Lektorat: Daniela Koch

Umschlag: Grand Bassin vor dem Palais du Luxembourg, Paris.

Foto: Chris Lawrence/Alamy

eISBN: 978-3-85869-931-2

1. Auflage 2021

Für meine Eltern

Inhalt

Jugend

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Reife

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kindheit

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

JUGEND

1

Ich habe Evelyne im November 1987 zum ersten Mal gesehen, da war ich achtzehn. Kurz zuvor war ich bei meinen Eltern in Antibes ausgezogen, um in Paris Jura zu studieren. Evelyne und ich sind nur wenige Monate zusammen gewesen, aber es kommt mir vor, als hätte unsere Beziehung viel länger gedauert. Sie gehört zu den Frauen, die weiter auf ein Leben einwirken, nachdem sie einen verlassen haben. Es ist rund dreißig Jahre her, dass sie verschwunden ist, doch es scheint mir, als säßen wir noch immer in diesem Café ein paar Schritte von der Rue Saint-Antoine und lernten uns gerade kennen. Ich kann mich noch an jede Einzelheit von damals erinnern, das Einzige, was die Zeit mir genommen hat, ist das Gefühl, noch derselbe zu sein. Die Jahre sind vergangen, und inzwischen habe ich Mühe, mich in den Gesichtszügen dieses jungen Manns wiederzuerkennen, der ihr gegenübersitzt. Er erinnert mich an einen Freund, den ich vor langer Zeit gekannt habe und der jedes Mal mein Mitleid erweckt, wenn ich an seine Qualen denke. Inzwischen bin ich so alt wie sein Vater, ein Vater, der seinen Sohn vor einer unglücklichen Begegnung schützen möchte. Dieses geheime Leben, das ich in meinem Innern noch immer mit Evelyne weiterführe, ist mir stets umfassender erschienen als die fünf Monate, die wir beide miteinander geteilt haben. Ich höre noch immer unser Lachen in dem Café, das Stimmengewirr, und gleich darauf beschleicht mich ein Gefühl des Unbehagens, da mir wieder einfällt, wie mein Leben danach ins Schlingern geriet. Dann habe ich den Eindruck, in einem Albtraum zu sein, aus dem ich nicht erwachen kann, und das Lachen wird mir so unheimlich wie ein Gelächter, das durch die Nacht hallt. Am Anfang befand ich mich in Paris oft in einer Art Dämmerzustand, bevor ich Evelyne kannte. Ich war nicht bei mir selbst, ich hatte keinerlei Kontakte geknüpft und rutschte jeden Tag tiefer in die Einsamkeit. Ich wusste nicht, dass ich bald aufwachen und zu leben beginnen würde.

Ich verbrachte damals viel Zeit in einem Café an der Rue du Petit-Musc. Ich hielt es vor Einbruch der Dunkelheit nicht zu Hause aus und hatte in dem Bistro bei mir um die Ecke, das ich gegen sechs Uhr abends aufsuchte, eine Zuflucht gefunden. Es war Herbst und regnete fast ununterbrochen. Ich setzte mich stets in den hinteren Teil neben den Flipperkasten. Ich nahm meine Lehrbücher aus der ledernen Umhängetasche und verteilte sie auf dem Tisch, weniger, um zu lernen, als um meine Verlegenheit zu überspielen. Ich war es noch nicht gewohnt, allein ins Café zu gehen, und fühlte mich unsicher. Wenn ich mich nicht mehr konzentrieren konnte, mehrmals hintereinander denselben Abschnitt las, ohne den Sinn zu erfassen, schob ich eine Münze in den Flipper. Das Blinken hinter der Scheibe, die banale Melodie, vermischt mit der Automatenstimme, die Englisch sprach, verschafften mir das Gefühl, an einem modernen Ort zu sein, der in Kontrast stand zu der Atmosphäre, die von den dunkelroten Lederbänken, dem Mahagoni-Mobiliar und den Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden ausging. Zwei imposante Porträts eines Manns und einer Frau im Halbprofil waren so platziert, dass sie sich einander zuwandten. Die Frau musste um die dreißig sein, er um einiges älter. Sie hatte ein anmutiges Gesicht und schien von dem Mann mit den dunklen, streng nach hinten gekämmten Haaren gleichzeitig eingeschüchtert und bezaubert zu sein. Später habe ich von einem der Stammgäste gehört, es seien die Eltern des Besitzers. Die anderen Bilderrahmen waren bunt durcheinander über die Wände verteilt: Aufnahmen aus dem Viertel und Klassenfotos, auf denen kleine Knaben in Uniform auf einer Bank saßen und mit traurigem Blick ins Objektiv starrten. Bestimmt stammten diese Bilder ebenfalls aus den privaten Beständen des Wirts, so als würde er uns bei sich zu Hause in seinem Wohnzimmer empfangen. Irgendwann machte mich das Geratter des Flippers verrückt, und ich spickte die Kugel ins Leere, um die Partie zu Ende zu bringen. In dieser Phase meines Lebens kam es mir vor, als würde ich immer demselben Weg folgen und wie die Kugel durch ein schwarzes Loch fallen. Jeden Tag erwachte ich mit neuem Elan, bis mich dieselben Hindernisse wieder an diesen Platz im dämmerigen Licht des Cafés trieben.

Ich wohnte damals in der Rue de la Cerisaie, einer Querstraße zur Rue du Petit-Musc, an deren Ecke das Bistro war. Ich hatte Anfang Juli, gleich nachdem ich von der Assas-Universität die Zulassung für das erste Jahr erhalten hatte, eine Einzimmerwohnung gemietet. Am letzten Samstag im August brachte mich mein Vater mit meinen Sachen von Antibes nach Paris. Am nächsten Morgen fuhr er wieder zurück. Ich begleitete ihn bis zur Haustür, es muss kurz vor sieben gewesen sein, die Luft war noch frisch und die Temperatur angenehm kühl. Ich wartete eine Weile, bevor ich wieder ins Zimmer hinaufging, in dem sich zwischen den Koffern und Umzugskartons noch die ganze Sommerhitze staute. Ich starrte auf die Straßenecke, an der das Auto abgebogen war, um das Bild meines Vaters, der mir durch das halb offene Fenster zugewinkt hatte, noch einen Augenblick in mir festzuhalten. Ich fand es aufregend dazustehen, mit diesem neuen Leben vor mir, doch während sich die Gegenwart meines Vaters verflüchtigte, wurde ich auf einmal von der Stille überwältigt. Ich war unfähig, sie wegzudrängen, ich hatte den Eindruck, nicht mehr zu existieren, oder nur noch in Gestalt dieses dunklen Flecks auf dem Boden. Die gleiche Empfindung hatte ich bereits, als ich kam, um Wohnungen zu besichtigen, und zum ersten Mal mit der Anonymität einer Großstadt konfrontiert war.

 

Ich hatte damals bei einer Cousine meines Vaters im vierzehnten Arrondissement übernachtet und war zwei Tage später mit dem Nachtzug nach Antibes zurückgefahren. Ich kenne mich in Paris nicht gut aus, gestand ich ihr am Abend meiner Ankunft, und hätte Angst, nicht pünktlich zu den Terminen zu erscheinen, die ich telefonisch mit den Vermietern vereinbart hatte. Am nächsten Morgen wurde ich um elf Uhr von einer Frau erwartet, die in der Rue de Courcelles wohnte, sie vermietete eine Dienstmädchenkammer unter dem Dach. Die Cousine hatte mich beruhigt: Die Pariser würden sich am Metroplan orientieren, und wenn ich mich verlaufe, müsse ich nur eine Bahn nehmen und an der nächsten Station wieder aussteigen, und schon würde ich mich wieder zurechtfinden. Sie selbst wohnte mit ihrem Mann bei der Metrostation Edgar-Quinet.

Es war ein besonders heißer Tag, und anders als am Meer blies der Wind hier nicht stark genug, um die Luft etwas aufzufrischen. Als ich mich, wie ich dachte, in der Nummer 79 der Rue de Courcelles vorstellte, kicherte die Frau, die mir öffnete: Nein, sagte sie, sie sei nicht diese Madame Bouveret, die ich suche, sie habe keine Wohnung zu vermieten. Ich sehe ihre Bluse und ihren karierten, eng an der Taille anliegenden Rock noch immer vor mir. Sie wünschte mir viel Glück und beeilte sich, die Tür wieder zu schließen, für den Fall, dass ich mich nicht abwimmeln lassen wollte. Aber ich hatte mich nicht geirrt, ich zog den Zettel hervor, auf dem ich die Adresse und den Termin notiert hatte. Es war wirklich die Nummer 79, im dritten Stock. Als ich die Treppe hinunterging, überlegte ich mir, ob sich die Wohnung vielleicht in einem anderen Gebäudeteil befand, doch im Erdgeschoss gab es keine Tür zum Hof. Es gab auch keine Nummer 79 a. Ich ging mehrmals den Gehsteig rauf und runter und überprüfte die Nummern. In der prallen Sonne legte sich unter meinen Kleidern der warme Schweiß auf meine Haut. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Häuserfassaden aufeinander zubewegten, dass die Straße sich faltete wie ein Blatt Papier, um mich in einen Abgrund zu ziehen, in dem die Hitze immer brütender würde. Es fiel mir nicht ein, einen Passanten zu fragen, so absurd kam mir das Ganze vor. Gab es diese Adresse überhaupt? Vielleicht hatte ich sie am Telefon falsch verstanden. Ich dachte an den Rat der Cousine und lief Richtung Metrostation Courcelles, wo ich eine Stunde zuvor ausgestiegen war. Am Mittag war ich im Marais zur Besichtigung einer Einzimmerwohnung verabredet.

Vor dem Gebäude der Nummer 23 der Rue de la Cerisaie stand ein etwa vierzigjähriger Mann, der mich erwartete. Ich war so erleichtert, als ich auf ihn zuging, dass ich sofort beschloss, die Wohnung zu nehmen. Es war nichts weiter als ein ziemlich dunkles Zimmer im obersten Stock, doch die Holzbalken zu beiden Seiten des Fensters verliehen dem Raum einen gewissen Charme. Wir unterschrieben den Vertrag im Café an der nächsten Straßenecke bei einer Citronnade. Die Wohnung gehörte seinen Eltern, und er hatte während seines Medizinstudiums selbst darin gewohnt. Ich weiß nicht warum, aber die Vorstellung, dass er darin gelebt hatte, beruhigte mich, als würde dieser Umstand das Zimmer, das ich eben besichtigt hatte, etwas weniger trist machen. Um die Bastille herum würden viele Studenten wohnen, sagte er, und es werde mir in dem Arrondissement bestimmt gefallen. Das Leben in Paris war wenig aufregend, viel eintöniger, als ich mir das im Sommer vorgestellt hatte. Die Stadt beschränkte sich für mich auf die paar Straßen, die ich entlanglief, bevor ich in den Metro-Korridor hinabtauchte. Sämtliche Häuser glichen einander, und es gab überhaupt keine Orientierungspunkte. Paris war ein riesiger Wald, den ich zu betreten scheute, als könnte ich mich darin verlaufen, an einer Straßenkreuzung verloren gehen. Am Morgen ging ich über den Boulevard Henri-IV zur Place de la Bastille, dort nahm ich die Metro, die mich, nach dem Umsteigen in Châtelet, zur Station Luxembourg brachte, nicht weit von der Universität. Das war der einzige Weg, den ich kannte. Nach dem Unterricht, gegen vier Uhr nachmittags, ging ich erst nach Hause, danach ins Café, um zu lernen. Ich entfernte mich nie weit von meiner Wohnung, so als wäre die Stadt von einem Netz unsichtbarer Grenzen durchzogen, die ich nicht überschreiten konnte, ohne dass mich ein Unbehagen überkam. Am Ausgang der Metro wurde ich manchmal vom Regen überrascht, der dieses Gefühl des Verlorenseins, wie man es im Ausland hat, noch verstärkte. Die Straßennamen hören sich alle gleich an, und jeden Tag folgt man demselben Weg vom Hotel zum Strand. Damals wäre ich unfähig gewesen, den Boulevard Saint-Germain auf einem Plan auszumachen, ihn zur Avenue de l’Opéra in Bezug zu setzen. Ich war nie dorthin gegangen, sodass mir noch immer das Paris der alten Schwarz-Weiß-Postkarten mit den berühmten Monumenten, die mir mein Großvater jedes Jahr zum Geburtstag schickte, intakt im Gedächtnis blieb. Die übrige Stadt war imaginär für mich, aufgrund ihrer Größe schier unfassbar, so als wäre sie rund um diese Postkartenbilder herum gewachsen, die ich bei meinen Eltern in Antibes im Laufe der Jahre nach und nach an die Wand meines Zimmers pinnte.

Ende der neunziger Jahre wurde ich mir meiner damaligen Gedankenlosigkeit bewusst, als ich einmal den Boulevard de Courcelles entlanglief und mich plötzlich in der Rue de Courcelles wiederfand, die eine Querstraße dazu ist. Ich begriff, dass ich zehn Jahre zuvor, in jenem Juli 1987, die Straße mit dem Boulevard verwechselt hatte.

Zu Beginn des Semesters hatte ich mich von den kleinen Studentengruppen, die sich zu bilden anfingen, ferngehalten. Da war ein junger Mann, mit dem ich einen Vortrag in Verfassungsrecht vorbereitet hatte und der mir mehrmals vorschlug, mit ihm in ein Café in der Rue Soufflot zu gehen, wo sich die meisten Studenten nach den Vorlesungen trafen. Er war ziemlich mager, einen Meter neunzig groß und hatte blonde Haare. Er besuchte seine Eltern, die in Bordeaux lebten, nur selten und musste eine natürliche Nähe zu mir empfunden haben, da ich wie er aus der Provinz kam. Ich schlug seine Einladung jedes Mal aus unter dem Vorwand, mit dem Lernen im Rückstand zu sein. Die Assas-Universität war sehr selektiv, und viele Studenten vom ersten Jahr schafften den Sprung ins zweite nicht. Ich zog es vor, in mein Viertel zurückzukehren, zu den anonymen Gästen im Café an der Rue du Petit-Musc. Ich brauchte diese Abschottung, um zu diesem Teil meiner selbst Zugang zu finden, den ich zu entdekken begonnen hatte und von dem ich nur, wenn ich allein war, einen Blick erhaschte. Ich war immer noch dieser wohlerzogene, bedeutungslose Junge, der vor allem nach Paris gekommen war, um Bekanntschaft mit sich selbst zu schließen. Ich bin dem großen Blonden weiterhin vor dem Hörsaal oder auf der Straße begegnet, irgendwann in Begleitung eines Mädchens und eines Jungen, die sich etwas abseitshielten. Ich hörte ihn auflachen und ärgerte mich genauso über ihn, wie es mich ärgerte, dass ich ihm Beachtung schenkte. Er lächelte herablassend und wandte sich dann den anderen zu; er erinnerte mich an den Jungen, der ich gewesen war, als ich noch in Antibes lebte. Manchmal wechselte ich die Straßenseite, um ihn nicht grüßen zu müssen, und während ich mich entfernte, meinte ich durch das Stimmengewirr Gelächter zu hören, und mein Herz schlug schneller. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte den Eindruck, er wisse Bescheid über meinen verpassten Termin in der Rue de Courcelles, als hätte er mich auf dem Gehsteig vor der Nummer 79 hin und her laufen sehen.

Wenn ich von der Universität kam, machte ich stets einen Umweg über die Rue du Petit-Musc. Die Straße war im Gegensatz zum Boulevard Henri-IV nicht sehr belebt und erinnerte mich an die Stille der Provinz. Oft schloss ich die Augen und stellte mir vor, ich wäre in Antibes, bei meinen Eltern. Es lag derselbe Frieden in der Luft, eine gewisse Leichtigkeit, und ich fühlte mich auf einmal ein kleines bisschen besser. Die verblichenen Vorhänge hinter der Scheibe des Cafés und die Fotos an den Wänden, die man von außen sehen konnte, gaben mir das Gefühl, weit weg von Paris zu sein. Das Bistro bildete eine Art Enklave, es wurden dort nur Kleinigkeiten serviert, sodass es von der Hektik der Brasserien auf den Boulevards verschont blieb, die mittags und abends von hungrigen Touristen überschwemmt wurden.

Am Eingang des Cafés hing eine Tafel mit Kleinanzeigen, Aushängen von Kunstgalerien oder Werbung für die Läden des Viertels an der Wand. Der Durchzug vom Kommen und Gehen der Kunden sorgte dafür, dass sich immer wieder eine verwehte Visitenkarte unter ein Tischbein festklemmte, geschwärzt von den Spuren der Schuhe und an den Rändern eingerissen. Oft ließ ein schwarzer Rand den Text hervorstechen, sodass ich ihn unwillkürlich las, und statt die Karte an die Theke zurückzubringen, schob ich sie in meine Lehrbücher. Ich brauchte damals ganz einfach irgendwelche Namen, an die ich mich halten konnte, um mich nicht ganz so allein zu fühlen. Diejenigen, die in gutem Zustand waren, benutzte ich als Lesezeichen und, wenn sie dick genug waren, als Lineal, um die Stellen zu unterstreichen, die ich mir einprägen musste. Dabei nahm ich verschwommen das Großgedruckte wahr. Von Zeit zu Zeit unterbrach ich meine Arbeit, um die Karte zu lesen, wartete ein paar Sekunden, bis mein Blick wieder klar wurde, und sah mir dann alles genau an, den Text, die Schrift. Und wenn ich später meine Lehrbücher wieder aufschlug, stieß ich auf die alten Karten aus Bristolpapier, die ich Anfang des Semesters gesammelt hatte und die zwischen den Seiten geblieben waren.

Bei Françoise

Stilvolle Bettwäsche

45, Boulevard Morland

Segelboot 10 Meter zu verkaufen

Modell Jeanneau Love Love (Diesel)

Zu besichtigen Port de l’Arsenal

Bei der Hafenmeisterei nach René fragen

Galerie Myriam Herzog

Vernissage

Donnerstag, 24. September 1987 um 18.30 Uhr

20, Place des Vosges

Ich sah die Anzeigen durch, so wie man einen alten Terminkalender überfliegt, ohne wirklich zu wissen, ob die Ereignisse etwas mit einem zu tun gehabt haben, fragte mich, ob viele Leute an der Vernissage gewesen waren, ob René sein Schiff inzwischen verkauft hatte. Ich hatte so lange an diese Menschen gedacht, dass sie wie Bekannte geworden waren. Ich hatte das Gefühl, selbst an der Vernissage teilgenommen zu haben und im Laufe des Abends, eine Champagnerschale in der Hand, Myriam Herzog begegnet zu sein.

Damals klammerte ich mich in Gedanken, um mich zu beruhigen, auch an Leute, die meinen Weg kreuzten. Das hatte in gewisser Weise mit den Visitenkarten begonnen, die ich im Café aufsammelte, und mit den Männern an der Theke, die ich von meinem Tisch aus gerührt beobachtete. In der Metro reichte es, dass eine alte Frau auf dem Sitz gegenüber lächelte, und ich redete mir ein, ich sei ihr Enkel und wir wären, mit wissendem Blick, an denselben Ort unterwegs. Ich betrachtete ihre Gesichtszüge, suchte in der Art, wie sie die Handtasche auf dem Schoß an sich drückte, wie ihr Oberkörper und ihre Arme im ruckelnden Wagen zitterten, nach einer vertrauten Gestalt, die ich in der Kindheit gekannt hatte. Ich versuchte das Bild meiner Großmutter zu verscheuchen, um für das der alten Frau Platz zu schaffen, dann stieg sie an ihrer Station aus, und ihr Gesicht wurde genauso durchsichtig wie das jeder anderen Unbekannten. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, sie auf der Straße wiederzuerkennen. Wenn ich neben einer attraktiven Frau saß, stellte ich mir vor, wir seien verliebt. Ich unterdrückte die Lust, ihr meinen Arm um die Schulter zu legen, um sie zu küssen, ihren Schenkel zu streicheln, und meine Aufregung schien mir, so in mir zurückgehalten, nur umso intensiver. Damit schaffte ich mir für einen Augenblick einen Anker in dieser Stadt, in der ich keine Familie hatte, keinen Freund, wo mir mit Ausnahme dieser stillen Präsenz, die ich erfand, alles feindlich gesinnt war. So gelang es mir, mich für die Dauer der Fahrt zu trösten, und wenn ich wieder zu mir kam, kehrte auch die Einsamkeit zurück, noch stärker und noch quälender als zuvor.

Inzwischen war November geworden, und es war bereits dunkel, wenn ich im Café an der Rue du Petit-Musc ankam. In meiner Nische, die die Gespräche dämpfte, lernte ich am selben Tisch wie gewöhnlich für meine Jahresabschlussprüfungen. Trotz der drei Wandlampen über meiner Bank war es die düsterste Ecke, sodass der Platz stets frei blieb. Ich schob die beiden Zweiertische zusammen und verstreute den Inhalt meiner Umhängetasche darauf. Mit der Zeit ließ ich mich nicht mehr stören vom Hin und Her der anderen Gäste zwischen dem vorderen Raum und der Toilette im rechten Winkel zum Flipperkasten. Im Spiegel neben dem Eingang beobachtete ich die Männer, die mit aufgestütztem Ellbogen an der Theke hingen. Ich erkannte sie an der Breite ihrer Schultern, an den Motiven auf ihren Jacken. Sie erinnerten mich an die Gemälde von Edward Hopper, auf denen jeder in seiner eigenen Einsamkeit versunken ist. Aber ich hatte das Gefühl, außerhalb des Bilderrahmens zu sein wegen meines Platzes im hinteren Teil und der Visitenkarten in meinen Büchern, die mir die Gewissheit gaben, ein kleines bisschen über diesen angetrunkenen Männern zu stehen.

 

Eines späten Sonntagnachmittags saßen Evelyne und ihr Sohn am Tisch neben dem Flipper, an dem ein rotes Fahrrad lehnte. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ich zögerte einen Moment, bevor ich mich auf die Bank setzte, ich hätte auch zu Hause lernen können, aber sie hatte ihren Kaffee bereits ausgetrunken. Evelyne las in einer Zeitschrift und hob nicht einmal den Blick in meine Richtung, als ich neben ihr Platz nahm. Auf dem Tisch lagen ein Lottoschein und vier oder fünf Rubbellose. Die Bedienung brachte mir einen Kaffee, ohne dass ich ihn bestellen musste, ich nahm immer dasselbe. Abwartend öffnete ich schon mal ein Lehrbuch, solange ich meine übrigen Sachen nicht auspacken konnte. Der Junge, der etwa zwölf oder dreizehn war, flipperte, und das Geratter störte meine Konzentration. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich, sie hatten beide dieselbe ungezwungene Art. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Bahn der Metallkugel verfolgen zu können, seine Technik bestand darin, schnell hintereinander auf die Knöpfe zu drücken, aber nach ein paar Sekunden ließ er nach, und seine Bewegungen ermüdeten. Das war meist der Moment, da er das Spiel verlor. Von Zeit zu Zeit warf Evelyne ihm einen teilnahmslosen Blick zu und kehrte dann wieder zu ihrer Lektüre zurück. Die lange, dünne Zigarette, die sie in Nähe der Lippen hielt, den Ellbogen auf dem Tisch, trug noch zu ihrer Nonchalance bei. Zwei, drei Mal unterbrach der Junge das Spiel und setzte sich neben sie ans andere Ende der Bank. Sobald sie anfing, seine Stirn zu streicheln oder ihn zu küssen, kehrte er zum Flipperkasten zurück. Ich hatte meine Eltern in den letzten drei Monaten nur ein einziges Mal gesehen, und ich konnte mich in dem Augenblick an keinen einzigen Sonntagsspaziergang erinnern, den ich in diesem Alter mit meiner Mutter unternommen hatte, so als wäre meine Kindheit mit ihrer Abwesenheit ausgelöscht worden. Evelyne und ich saßen so nah beieinander, dass es aussehen musste, als seien wir zusammen ins Café gekommen. Ich konnte ein entfernter Cousin oder ein angeheirateter Neffe sein, was auch erklärt hätte, warum sie mir nichts zu sagen hatte. Rührte dieser Eindruck, Evelyne zu kennen, daher, dass ich mich von ihr angezogen fühlte? Oder eher von diesem starken Einsamkeitsgefühl? Sie hatte blonde, leicht gewellte Haare, deren Strähnen an den Wurzeln dunkler waren.

Es war nach sechs, als sie sich ein Glas Rotwein bestellte. Sie hatte eine hohe, für eine Frau um die dreißig etwas kindliche Stimme. Sie schien auf jemanden oder auf eine bestimmte Uhrzeit zu warten, um zu einer Verabredung zu gehen. Obwohl ich mit dem Lernen im Rückstand war, wollte ich nicht nach Hause. Ich fühlte mich gut neben ihr, trotz ihrer selbstgefälligen Art. Ich dachte mir, der mit dieser Unbekannten verbrachte Augenblick könnte mir später als Ausgangspunkt zu einem meiner Ausflüge dienen, um mit ihr zu entfliehen, wenn ich wieder allein wäre. Und in dieser Lücke, die sich auftat, nahm die Beziehung, die ich mir mit Evelyne einbildete, die Form erst vager Erinnerungen an, die immer präziser wurden, je länger ich sie beobachtete. Es war, als gäbe es weder Vergangenheit noch Gegenwart, nur dieses erträumte Leben, dessen Versatzstücke ich in die Wirklichkeit einsetzte, bis schließlich alles eins wurde.

Sie trug einen Lederrock und dazu einen knallroten, zur Farbe ihrer Lippen passenden Pullover. Ich beugte mich über mein Buch und tat, als würde ich lernen, schrieb Anmerkungen an den Rand oder unterstrich Sätze, ohne sie gelesen zu haben. Ich legte meine linke Hand über die Augen, damit Evelyne meinen beharrlichen Blick nicht bemerkte. Ich sah, wie ihre Pumps ihre Waden und Knöchel zur Geltung brachten, verweilte auf der Falte in der Mitte der Schenkel, ließ die Augen zur Form ihrer Brüste wandern und stellte mir vor, wie ich am Morgen meine Hand unter ihren Pullover geschoben hatte, um sie zu streicheln. Ihr Rock verkürzte sich jedes Mal, wenn sie ihre Beine übereinanderschlug oder wieder nebeneinanderstellte. Mehrmals streifte mein Arm den ihren, aber da sie nicht ans Ende der Bank rutschte und nichts sagte, schwieg ich ebenfalls und machte keine Anstalten, mich zu entschuldigen.

Ihr Sohn setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl, um seine Limonade zu trinken. Er hatte mehrere Partien hintereinander gespielt und die beiden letzten Kugeln energielos weggespickt ohne den Versuch, sie zurückzuhalten, hatte ihre Bahn mit den Augen verfolgt, bis sie hinter dem Glas eine nach der anderen verschwunden waren.

»Und?«, fragte er, während er mit dem Strohhalm in seinem Glas rührte, »gehen wir?«

»Gleich, Jérôme, ich habe noch nicht ausgetrunken«, antwortete sie mechanisch.

Sie las in ihrer Zeitschrift und blätterte plötzlich mit einer zackigen Bewegung die Seite um, die nicht zu ihrer vorherigen Lethargie passte.

»Mach doch noch ein Spiel, ich glaube, ich habe noch Münzen.«

Der Junge stöberte in der Handtasche und kehrte zögernd zum Flipper zurück. Er kauerte sich neben das Fahrrad. Ich hörte, wie sich die Kette um die Pedale ins Leere drehte, dann ein metallisches Geräusch, als ließe er ein Geldstück über die Speichen gleiten, erst ganz langsam und dann abwechselnd mit Beschleunigungen, die wohl seinem Geisteszustand entsprachen, einer Mischung aus Wut und Langeweile.

Als er wieder aufstand, stieß er mit dem Kopf gegen die Tischplatte, und das Weinglas fiel um. Seine Augen waren rot und geschwollen, aber er weinte nicht. Ich streckte Evelyne ein Taschentuch hin, der Wein war auf ihre Strumpfhose gespritzt. Die Zeitschrift war voller roter Schlieren. Ich weiß nicht mehr, ob es Elle oder Marie-Claire war, ich erinnere mich nur, dass auf der Titelseite in Großbuchstaben stand: »Wie man einen untreuen Mann zurückerobert«.

Evelyne war aufgestanden, um sich abzuwischen, und streifte dann den Mantel über, während sie Jérôme ein Zeichen gab, sich anzuziehen. An der Klappe einer Manteltasche las ich den Namen eines großen Couturiers. Als der Kellner kam, um die Glasscherben aufzulesen, drehte sie sich zu ihrem Sohn um:

»Jérôme, du bist wirklich un-ver-bess-er-lich!«, sagte sie laut zu ihm, indem sie jede Silbe absetzte.

Es kam mir vor, als spielte sie nur, als sei alles unecht, wegen des unterdrückten Schluchzers, mit dem sie es sagte.

Der Wein hatte auf meinem Mantel, der auf der Bank lag, einen Flecken hinterlassen, und sie beharrte darauf, ihn auf ihre Kosten in die Reinigung zu bringen. »Ich werde mir eh einen neuen kaufen«, sagte ich zu ihr, ich hatte keine Lust, dass sie bemerkte, wie abgenutzt er war: Am Verschluss fehlten zwei Knöpfe, und das Futter war zerrissen. Aber sie gab nicht nach, und nachdem sie mir auf einem abgestempelten Metroticket ihre Telefonnummer notiert hatte, ging sie mit meinem gefalteten Mantel über dem Arm davon. Sie hatte vergessen, sich für das Taschentuch zu bedanken.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Paris fühlte ich mich nicht mehr ganz so einsam, als ich mein Zimmer betrat. Es genügte, ihre Telefonnummer auf dem Metroticket zu lesen.