Loe raamatut: «Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book)», lehekülg 6

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3 Theoretische Rahmung

Mit der Frage, wie es zur Beharrungskraft der Geschlechtsspezifität kommt, schließen wir an Überlegungen und Forschungen der deutschen Soziologin Helga Krüger an. Sie hat schon in den 1990er-Jahren darauf hingewiesen, dass sich die seit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft vorangetriebene Polarisierung der Geschlechter (Hausen, 1976) nicht nur in Interessen, Orientierungen und Entscheidungen der Subjekte verfestigt hat. Geschlechtsspezifische Muster haben sich ebenso als «geronnene Gewalt» (Krüger, 1991, S. 141) in die gesellschaftlichen Institutionen – Familie, Arbeitsmarkt, Bildung, Wohlfahrtsstaat – niedergeschlagen und entfalten historische sowie lebenszeitliche Langzeitwirkungen (Krüger, 1991, S. 140).

Hier anschließend stellt sich die Frage, welche sozialen Mechanismen zur Reproduktion und pfadabhängigen Entwicklung der Geschlechtstypik von Bildungsinstitutionen führen, aber auch, wie institutioneller Wandel möglich ist. James Mahoney (2000) hat hierzu einen konzeptionellen Vorschlag gemacht, der auch in anderen Studien mit vergleichbaren Fragestellungen fruchtbare Antworten ermöglichte (z. B. Blanck, Edelstein & Powell, 2013) und für die Analyse der FMS ebenfalls hilfreich sein kann (Fischer, Leemann, Imdorf, Esposito & Hafner, 2017). Er unterscheidet analytisch zwischen utilitaristischen, funktionalen, machtbasierten und legitimatorischen Mechanismen, welche realiter aber miteinander verflochten sind und sich gegenseitig unterstützen oder behindern. Utilitaristische Mechanismen basieren auf Kosten-Nutzen-Einschätzungen der Akteure, welche keinen Anlass zu Veränderungen sehen, solange dieses Verhältnis stimmig ist. Erst wenn der gesellschaftliche Druck auf die Kosten oder den Nutzen sich erhöht (z. B. durch erhöhte Anforderungen an Effizienz), kann es zu Veränderungen kommen. Stabilität durch funktionale Mechanismen ist so lange wahrscheinlich, wie die FMS ihre Funktion der Vorbereitung auf Gesundheits- und Pflegeberufe, die für ein größeres System, den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft elementar sind, erfüllt. Funktionale Kräfte, welche Wandel in der Geschlechtstypik initiieren, könnten bei sich ändernden und neuen Berufsfeldern ins Spiel kommen, wodurch die Einschränkung auf bisherige Berufsfelder dysfunktional wird. Bei den machtbasierten Mechanismen kommt die Definitionsmacht von Akteuren ins Spiel. Die Institution wird reproduziert, weil mächtige Akteure dies durchsetzen. Erst wenn sich im Machtgefüge Änderungen ergeben, ist Reform möglich. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der FMS können wir annehmen, dass die Vertreter der Schule nicht zu den mächtigen Akteuren im Feld der Bildungspolitik gehören und deshalb geringen Einfluss haben und wenig Unterstützung erhalten, um einen Wandel einzuleiten. Der Bildungsweg der FMS ist für die gesellschaftliche Elite kaum von Bedeutung, die Schule hat als «Mädchenschule» wenig Prestige und die mächtigen Akteure der Berufsbildung haben, wie wir noch sehen werden, eine starke Positionierung der Schule immer zu verhindern versucht. Basis von legitimatorischen Mechanismen sind gesellschaftliche Werte und Normen, auf die sich Akteure stützen, um entweder die Weiterführung einer Institution oder deren Reform zu rechtfertigen. Da in den Jahrzehnten der Transformation der Schule die neue Frauenbewegung erstarkte, können wir annehmen, dass auch moralische Forderungen nach Geschlechtergleichheit und Gleichstellung ins Spiel gebracht wurden.

4 Institutionelle Reproduktion der Geschlechtertypik

Obwohl die FMS sich in den 1970er-Jahren zu einer koedukativen Institution gewandelt hat, ist der Anteil an jungen Frauen nach wie vor hoch. Nachfolgend stellen wir drei Situationen dar, welche diese institutionelle Persistenz der FMS als «Mädchenschule» erklären können, und rekonstruieren die dabei zugrunde liegenden sozialen Mechanismen.

Die erste Situation bezieht sich auf die Anfänge der Institutionalisierung der Schule in den 1970er-Jahren. Damals übertrug die EDK einer Kommission den Auftrag, Leitideen und Zielvorstellungen für ein interkantonales Modell dieses Schultyps auszuarbeiten. In Abbildung 2 hat diese Kommission die mögliche zukünftige Position und Funktion der damaligen DMS – im Vergleich und in Abgrenzung zur Berufsbildung, welche direkt nach der obligatorischen Schulzeit begonnen werden konnte (links) und zum Gymnasium (rechts) – dargestellt.


Abbildung 2: Die Position der Fachmittelschule (damals: Diplommittelschule) im nachobligatorischen Bildungssystem (Quelle: EDK, 1977, S. 13)

Gemäß den damaligen Planungen sollte die Schule zum einen vorwiegend auf paramedizinische, soziale und erzieherische Berufe vorbereiten, auf die wir uns nun zuerst konzentrieren. Zum anderen waren auch besondere administrative und technische Berufe im Dienstleistungssektor im Fokus. Wir kommen in Kapitel 5 auf diese zurück. Mit dem Fokus auf die pflegerischen, sozialen und erzieherischen Berufe stützten sich die Mitglieder der Kommission auf die bisherige Tradition der Schule, für Berufsausbildungen vorzubereiten, die zu Arbeitsfeldern im Dienste des öffentlichen Gemeinwohls führen. Dazu zählen die Grundversorgung der Gesellschaft mit Gesundheit, sozialer Unterstützung sowie außerhäuslicher Erziehung. Entsprechend wurden die Zielsetzungen im Bericht der Kommission formuliert, welche die «Existenzberechtigung [der Schule] begründen» und diese «von der Funktion her klar von den benachbarten Schultypen ab[…]grenz[t]» (EDK, 1977, S. 9, S. 12):

«Besonderer Stellenwert kommt [den in der Schule geförderten Persönlichkeitsmerkmalen] in jenen Berufen zu, die der unmittelbaren Hilfe- und Dienstleistung am Mitmenschen dienen. […] Die Diplommittelschulen sollen daher besonders jenen jungen Menschen, die sich paramedizinischen und sozio-pädagogischen Berufen zuwenden, vermehrt helfen, zu starken Persönlichkeiten heranzuwachsen.» (EDK, 1977, S. 10)

Diese Berufe waren jedoch im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden familiären Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktionen den Frauen zugewiesen worden (Hausen, 1976).[5] Die gesellschaftlich konstruierte, in Institutionen wie der Familie und dem Arbeitsmarkt eingelagerte und in den Köpfen der Subjekte fest verankerte Zuordnung der pflegerischen und sozialen Tätigkeiten zum weiblichen Geschlecht war der gesellschaftliche Kontext, in dem der damalige Legitimierungsprozess der FMS stattfand. Indem sich die Akteure der Schule auf diese für den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Funktionieren des Nationalstaates elementaren «weiblichen» Berufsfelder abstützten, konnten sie sich die Unterstützung staatlicher Akteure sichern (Fischer et al., 2017). Dies war strategisch wichtig, denn dieser dritte Bildungsweg wurde bildungspolitisch insbesondere von Akteuren der Berufsbildung auch immer wieder infrage gestellt (Leemann & Imdorf, 2019) und neben den etablierten Wegen der beruflichen Grundbildung und dem Gymnasium als Fremdkörper beurteilt (Kiener, 2008).[6] Insbesondere ab den 1990er-Jahren kam die Schule im Kontext verschiedener Bildungsreformen – der Einführung einer beruflichen Grundbildung in Gesundheit und Sozialem sowie der Etablierung der Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen – zunehmend unter Druck, ihre Position und ihr Profil zu klären (Esposito, Leemann & Imdorf, 2019). Sie war in dieser Zeit in gewissen Kantonen von Schließung bedroht und musste grundsätzlich damit rechnen, ohne formalen Anschluss an die neue Hochschullandschaft zu verbleiben, was ihren damaligen Status als Sackgassenausbildung bestätigt hätte.

Eine erste Erklärung der Stabilität der Geschlechtsspezifität der FMS ist – so können wir zusammenfassen – der Umstand, dass sie sich, um ihr Überleben zu sichern und ihre Position als dritter Bildungsweg zu rechtfertigen, im Sinne des funktionalen Mechanismus weiterhin auf diese für die Gesellschaft wichtigen «weiblichen» Berufsfelder der Gesundheit und Erziehung abstützte, auf die sie schon immer vorbereitete. Damit konnten Bestrebungen von einflussreichen Akteuren (insbesondere der Berufsbildung), welche im Sinne machtbasierter Mechanismen den Schultyp abschaffen wollten, verhindert werden. Diese funktionalistische institutionelle Stütze ist bis heute relevant. Der Fachkräftemangel in der Pflege und Schule ist gerade in den letzten Jahren ein starkes Argument für die Schule und diese Berufsfelder geworden und stärkt ihre Position.

Die zweite Situation fokussiert die Entwicklungen ab den 1990er-Jahren, als sich einzelne Akteure mit Forderungen zur Gleichstellung und Frauenförderung für den Erhalt der Schule einsetzten. So argumentiert 1998 die damalige Rektorin der Zürcher DMS und Präsidentin der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Diplommittelschulen (KDMS), dass vor allem den an bisherigen höheren Fachschulen noch deutlich untervertretenen Frauen dieser Weg offengehalten werden müsse. Sie sieht die Absicherung der Schule deshalb als frauenförderndes Projekt (NZZ, 17.9.1998). Die Schülerschaft dieser DMS wehrte sich im Jahre 2001 gegen den bildungspolitischen Entscheid, die Schule zu schließen, und berief eine Vollversammlung ein. Zusammen mit Lehrkräften wurde eine öffentliche Demonstration organisiert. Damit konnte die Schließung verhindert werden (NZZ, 3.9.2004). Die Sektion Lehrberufe der Gewerkschaft VPOD Zürich votierte einige Jahre später mit Gleichstellungsargumenten gegen die Entscheidung, dieselbe Schule zwar weiterzuführen, aber quantitativ stark einzuschränken (VPOD Zürich, 2006). Argumentiert wurde mit der Diskriminierung insbesondere von Migrantinnen, da gerade diese durch den Schulbesuch die Chance für einen sozialen Aufstieg erhalten. Zudem werde auch die Möglichkeit, Frauen in die Berufsfelder der Naturwissenschaften zu führen, durch die Sparvorgaben behindert. Es entwickelten sich in diesem Kanton Kräfte, die gegen die angedrohte Schließung ankämpften.

Eine zweite Erklärung für die Reproduktion der Geschlechtstypik können wir in legitimatorischen Mechanismen finden. Das Engagement von betroffenen Schülerinnen und Schülern, Vertreterinnen der Schule sowie der Lehrergewerkschaft beruft sich auf Werte und Normen von Gleichstellung und Frauenförderung. Das Weiterbestehen und die Wichtigkeit der Schule wird von den Akteuren explizit mit der Geschlechtsspezifität der Schule rechtfertigt. Die Schließung oder starke Einschränkung der Schule würde ansonsten junge Frauen diskriminieren.

Die dritte Situation betrifft den Prozess der Transformation der DMS in die FMS zu Beginn der 2000er-Jahre. Die Schule hat damals ihr historisches Selbstverständnis einer in erster Linie allgemeinbildenden und schulisch organisierten Bildungsstätte für bildungsmotivierte Schülerinnen und Schüler beibehalten und verteidigt (Hafner & Leemann, 2019). Damit grenzte sie sich von der beruflichen Grundbildung ab, auch wenn mit der Einführung von Berufsfeldern und Praktika praxisbezogene Elemente eingebaut wurden (Esposito et al., 2019). Allgemeinbildende und schulische Wege entsprechen jedoch eher den Interessen, Identitäten und Kompetenzen von jungen Frauen. Die schulischen Anforderungen an Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Folgsamkeit usw. sind passender zu deren Konstruktionen von Weiblichkeit. Die Männlichkeitskonstruktionen – vor allem der Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten – widersprechen dagegen den Ansprüchen beim schulischen Lernen. Es ist nicht «cool», kognitiv hart zu arbeiten oder in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Darauf verweisen die Konzepte des «laddish behavior» (Verhalten eines Machos) und des «anti-swot» (kein Streber sein zu wollen) (Francis & Skelton, 2011; Hadjar, Grünewald-Huber, Gysin, Lupatsch & Braun, 2012).

Eine dritte Erklärung für die institutionelle Stabilität der Geschlechtsspezifität bezieht sich wiederum auf funktionale Mechanismen. Mit der allgemeinbildenden, schulischen Konzeption des Bildungsweges, der erhöhte Leistungsanforderungen stellt, verfolgen die Verantwortlichen das Ziel, die Schülerinnen und Schüler zweckmäßig und sinnvoll auf die Anforderungen eines Studiums im Tertiärbereich sowie für die spätere Tätigkeit in den sozial und kognitiv anspruchsvollen Berufsfeldern vorzubereiten. Mit dieser konzeptionellen Ausrichtung werden jedoch eher weibliche als männliche Jugendliche angesprochen.

5 Institutioneller Wandel der Geschlechtertypik

Entlang von drei weiteren Situationen werden im Folgenden zum einen soziale Mechanismen dargestellt, welche das Potenzial hatten beziehungsweise hätten, die Geschlechtstypik der FMS aufzuweichen und zu einer offeneren Berufswahl zu führen. Zum anderen wird gezeigt, welche sozialen Mechanismen diesen institutionellen Wandel verhinderten.

Betrachten wir für die erste Situation in einem ersten Schritt nochmals den Vorschlag der Kommission der EDK (1977) (Abbildung 2). Gemäß Planung waren damals auch «bes[ondere] administrative und techn[ische] Berufe im Dienstleistungsbereich» angesprochen, auf welche die Schule vorbereiten sollte. Zur Grundversorgung der Gesellschaft zählte demnach auch Kommunikation und Mobilität. Auf diese Berufsbereiche bereiteten in den 1970er-Jahren die sogenannten Verkehrsschulen – in der Darstellung unter die Diplommittelschulen subsumiert – in einem zweijährigen Lehrgang für Berufsausbildungen in Staatsbetrieben vor. Diese führten zu Beamtenstellen bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), bei der ehemaligen Post-, Telegraphen- und Telefonverwaltung (PTT), bei der Zollverwaltung sowie bei der Flugverkehrsüberwachung (EDK, 1983, S. 150; Criblez, 2012). Diese Verkehrsschulen sollten gemäß damaliger Konzeptidee in die DMS integriert werden, was jedoch nie umgesetzt worden ist. Leider existiert dazu bisher keine Forschung. Was wir aber rekonstruieren können, ist, dass diese Schulen im Zuge der Liberalisierungsprozesse in den staatlichen Grundversorgungen mit Kommunikation und Mobilität um die Jahrtausendwende geschlossen und deren inhaltliche Ausrichtungen in neue berufliche Grundbildungen im kaufmännischen Bereich umgewandelt wurden (z. B. berufliche Grundbildung Kaufleute öffentlicher Verkehr).

Für die FMS und die Frage der Geschlechtertypik ist aber von Bedeutung, dass es schon früh Bestrebungen gab, andere Berufsfelder, welche den modernen Wohlfahrts- und Sozialstaat fundieren und damals vor allem von jungen Männern ergriffen wurden, in die Schule zu integrieren,[7] was zu einem Wandel der Geschlechtsspezifität geführt hätte. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei um einen Versuch handelte, die Position der bisherigen Töchterschulen durch die Ergänzung und Erweiterung mit den vom Bund betriebenen Verkehrsschulen zu stärken, was machtbasierten Mechanismen entspricht. Eine geringere Geschlechtersegregation der Schülerpopulation wäre wohl ein nicht direkt intendiertes Ergebnis gewesen. Die Umwandlung der Verkehrsschulen in berufliche Grundbildungen lässt aber darauf schließen, dass ebenfalls machtbasierte Strategien vonseiten der Berufsbildung diese Integration der Verkehrsschulen in die FMS erfolgreich verhinderten, wodurch die Schule weiterhin eine «Mädchenschule» blieb.

Die zweite analysierte Situation, welche die Geschlechtstypik der FMS hätte verändern können, betrifft Ideen ab den 1990er-Jahren, ein Berufsfeld Technik in die Ausbildung zu integrieren. Die KDMS brachte sich 1993 mit einem eigenen Positionspapier in eine Vernehmlassung[8] zur Zukunft der DMS ein und stellte dar, weshalb die DMS auch auf ein Fachhochschulstudium im technischen Bereich vorbereiten sollte.

«Einerseits wird dadurch die DMS auch für Knaben attraktiver, da es sich dabei im gegenwärtigen Verständnis noch eher um ‹Männerberufe› handelt. Anderseits kann dadurch der Anteil an Frauen in diesen Berufen erhöht und damit eine gesellschaftlich wichtige Entwicklung unterstützt werden. Insbesondere die Vertreter der technischen Berufe – aber nicht nur sie – beklagen die geringe Präsenz von Frauen in diesem Bereich.» (KDMS, 1993, S. 9)

Die Begründungen verweisen auf machtbasierte wie funktionale Mechanismen. Zum einen würde die Schule mit einer höheren Attraktivität für männliche Jugendliche an Bedeutung und damit an Definitionsmacht gewinnen. Zum anderen könnte sie den gesellschaftlichen Bedarf an technisch interessierten und ausgebildeten Fachkräften durch die Gewinnung von weiblichen Jugendlichen besser abdecken. In der Vernehmlassung selbst haben sich verschiedene Akteure jedoch dezidiert gegen die Integration eines technischen Berufsfeldes geäußert, um die berufliche Grundbildung nicht zu konkurrenzieren: «Direkte Konkurrenz der Diplommittelschule im Bereich der technischen, kaufmännischen oder landwirtschaftlichen Berufsmaturität zu den Berufslehren ist unerwünscht» (EDK, 1994, S. 15). Ein Vernehmlassungsteilnehmer ist zwar nicht dagegen, die DMS für die männlichen Jugendlichen attraktiver zu machen. Abgelehnt wird jedoch, «vermehrt Jugendliche der gewerblichen, industriellen und kaufmännischen Berufsbildung zu entziehen» (EDK, 1994, S. 17). Die von den männlichen Jugendlichen üblicherweise gewählten beruflichen Grundbildungen sowie die im Jahre 1994 neu eingeführte Berufsmaturität in diesen Berufsfeldern sollten – so diese Stellungnahmen – keinesfalls in eine Wettbewerbssituation gegenüber der DMS geraten. Der hier zugrunde liegende Mechanismus, der die Aufnahme eines Berufsfeldes Technik verhinderte, ist wiederum ein machtbasierter. Die Berufsbildungsseite wollte ihre Vorrangstellung in der Vorbereitung für technische Berufe absichern.

Vor wenigen Jahren gab es erneut Versuche, ein Berufsfeld Technik einzuführen. Eine Rektorin und ein Rektor einer FMS waren bestrebt, einen entsprechenden Pilotversuch an ihrer Schule einzuführen (Hager & Müller, 2014). Sie brachten entsprechendes Wissen aus Deutschland mit, wo ein solcher schulischer Ausbildungsgang auch für technische Berufe existiert. Ihr Vorhaben begründeten sie zum einen mit dem MINT-(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Fachkräftemangel und argumentierten, dass das schulische Angebot einer MINT-Ausbildung für jene männlichen Jugendlichen und deren Eltern attraktiv sei, die keine Berufslehre anvisieren. Dazu gehören vor allem aus dem Ausland zugezogene Familien, in deren nationalen Bildungssystemen die Berufsbildung abgewertet ist (Cattaneo & Wolter, 2013). Im Weiteren, so ihre Idee, könnten die weiblichen Jugendlichen für das Berufsfeld Technik motiviert werden. Diese Argumente und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Mechanismen decken sich großmehrheitlich mit jenen der KDMS 20 Jahre zuvor.

Diese Bemühungen verliefen jedoch trotz hohen persönlichen Engagements der beiden Initianten schlussendlich im Sand. Die Widerstände vonseiten mächtiger Akteure in der Berufsbildung, insbesondere dem Verband der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie, waren zu groß. Diese wollten in diesem männertypischen Berufsfeld den Weg über die berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität schützen und widersetzten sich den Plänen.

«[…] sie wollen einfach keinen dritten Weg. [Es wird argumentiert:] ‹Es gibt schon zwei Wege, den gymnasialen Weg, der führt über das Praktikum, damit können sie dann ja auch an die Fachhochschule gehen. Und der andere Weg, der ist über die Berufslehre, der ist natürlich der goldene, weil sie dann halt auch die handwerklichen Fertigkeiten noch lernen schon in der Berufslehre. Sie wissen von der Pike auf sozusagen, was es braucht und was gemacht werden muss.›» (Rektorin FMS)

Bei der kürzlich erfolgten Revision des Anerkennungsreglements der FMS, bei dem in der sogenannten Anhörung explizit die Frage gestellt wurde, ob die vorgeschlagenen Berufsfelder die richtigen seien (Technik wurde jedoch nicht aufgeführt), haben sich einige Akteure zu einem Berufsfeld Technik geäußert. Zum einen wurde vom Verein Schweizer Gymnasial- und Fachmittelschullehrpersonen mit der Begründung des Fachkräftemangels und der Möglichkeit, Frauen für die MINT-Berufe zu gewinnen, gefordert, die Einführung eines entsprechenden Berufsfeldes zu prüfen. Zum anderen wurde von einem Kantonsvertreter explizit die Einführung eines Berufsfeldes Technik abgelehnt, da sie «zu Unklarheiten oder Doppelspurigkeiten mit den andern Ausbildungen auf der Sekundarstufe II führen könnte» (EDK, 2018, S. 72). Die EDK hat im verabschiedeten Anerkennungsreglement nun kein neues Berufsfeld Technik eingeführt. Grundsätzlich ist es aber den Kantonen freigestellt, ein solches Berufsfeld zu führen, sofern die entsprechenden kantonalen Hochschulen diese Abschlüsse anerkennen.

Zusammengefasst können wir festhalten, dass die Einführung eines neuen Berufsfeldes Technik in die FMS und ihre Vorgängerschule ein No-Go geblieben ist.[9] Verantwortlich dafür ist die machtvolle Position derjenigen Akteure, welche die Berufsbildung stützen und schützen – auch aus utilitaristischen Motiven (siehe dazu Fußnote 6) und mittels legitimatorischen Argumenten. Die berufliche Grundbildung ist für sie die angemessenere Ausbildungsform. Jene Akteure, welche die Position der FMS mit einer Integration des Berufsfelds Technik auszubauen versuchten, konnten sich bisher nicht durchsetzen. Ebenso fanden Argumente, welche funktional die Vergrößerung des Pools an technisch interessierten Fachkräften durch die Gewinnung von jungen Frauen ins Zentrum stellten, nicht die notwendige Beachtung.

Eine etwas andere Entwicklung zeigt sich in der Analyse der dritten Situation, im Berufsfeld Gesundheit, das in einzelnen Kantonen seit einigen Jahren um das Berufsfeld Naturwissenschaften ergänzt wurde und neben den klassischen Gesundheitsberufen auch auf die neuen Disziplinen der Life Sciences (u. a. Biotechnologie, Life-Sciences-Technologie, Lebensmitteltechnologie) vorbereitet. In der erwähnten Anhörung zur Revision des Anerkennungsreglements wurde explizit die Frage gestellt, ob die Kantone auch die Möglichkeit erhalten sollen, das Berufsfeld «Gesundheit» im Sinne einer Variante als «Gesundheit/Naturwissenschaften» zu führen. Viele Akteure, die sich in der Anhörung eingebracht haben, äußern sich positiv oder neutral zu dieser Kombinationsmöglichkeit (EDK, 2018). Sie erkennen hier neue Möglichkeiten für die Profilierung der FMS. Es gibt aber auch wenige Gegenstimmen. Interessant ist die von einem Akteur geäußerte Angst vor Verwässerung des «Profil[s] der FMS mit ihrer Ausrichtung auf im weiteren Sinne Berufe im pädagogischen, sozialen und musischen Bereich» (EDK, 2018, S. 1). Die Neuausrichtung könnte demnach, so die Angst, die traditionelle Funktion der FMS unterhöhlen.

In der Anhörung wie in den Interviews, die wir mit Rektorinnen und Rektoren führten, wird vor allem die Möglichkeit angesprochen, mit der Ergänzung der Naturwissenschaften und der neuen Namensgebung mehr junge Männer für eine Ausbildung an der FMS sowie für Berufe im Gesundheitsbereich zu rekrutieren.

«Die Koppelung der Naturwissenschaften mit dem Bereich Gesundheit ist sinnvoll, da mit Naturwissenschaften auch junge Männer eher angesprochen werden können.» (EDK, 2018, S. 6)

«Eben mit dieser Ausdifferenzierung gibt es so ein Rekrutierungsfeld bei den Männern, was plötzlich größer wird, weil ja es wird immer technischer, […] und das zieht nachher zunehmend auch Männer an, die vielleicht vorher keine Zukunft oder nichts gefunden haben in diesem Berufsfeld.» (Rektor FMS)

Die Gewinnung von Männern für den Gesundheitsbereich würde angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege die gesellschaftliche Relevanz und damit die Position der FMS stärken. Auch hier ist ein Zusammenfallen von funktionalen und machtbasierten Mechanismen zu beobachten. Die Förderung und Gewinnung der weiblichen Jugendlichen für MINT-Berufe ist dagegen in den Interviews mit den Rektoren kaum ein Thema. Im Gegenteil meint eine der interviewten Personen, dass die Frauen vom Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften vielleicht auch eher abgeschreckt werden könnten.

Der Vorstand der Konferenz der Fachmittelschulrektorinnen und -rektoren unterstützt die Erweiterung des Berufsfeldes Gesundheit um den Bereich der Naturwissenschaften mit seinem im Jahre 2016 erstellten Video, welches Werbung für die Schule macht.[10] Er profiliert die FMS nicht mehr ausschließlich als Zubringerin zu den traditionellen Gesundheits- und Pflegeberufen, sondern verweist auf die breite Palette von MINT- und Life-Sciences-Berufen (Esposito, Leemann, Imdorf, Hafner & Fischer, 2018). Für klassisch «weibliche» Berufsfelder wird auch die männliche Form (Pflegefachmann, Dentalhygieniker, Physiotherapeut) verwendet, während in den «männlichen» Berufen die weibliche Form (Lebensmittelingenieurin, Chemikerin, Innenarchitektin) auftaucht.

Vertreter der FMS sind – so können wir festhalten – darum bemüht, mit dem Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften ihr Profil stärker naturwissenschaftlich auszurichten, um damit auch die männliche Zielgruppe als potenzielle Schüler anzusprechen und zu gewinnen. Triebkraft der Erweiterung des Ausbildungsprofils und Rekrutierungspotenzials sind funktionale und machtbasierte Mechanismen der FMS-Akteure. Aber auch hier sehen berufsbildungsnahe Akteure die berufliche Grundbildung bedroht und versuchen mit machtbasierten Strategien (z. B. parlamentarischen Instrumenten), die Angebote der FMS einzuschränken. Dabei sind auch utilitaristische Motive der Antrieb. Die FMS soll in ihrem Profil beschränkt werden, um Kosten zu sparen (siehe Fußnote 6).