Doggerland

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Die tausend Kilometer, die Aberdeen von Exeter trennen, ziehen sich fast ausschließlich über die Breitengrade. Während die eine Stadt direkt vom Sturmtief überquert wird, hat die andere die beruhigende Gewissheit, seine Auswirkungen kaum zu spüren. In Exeter ist der Wind nur halb so stark wie in Aberdeen, dort hat er Windstärke elf, es wird also ein bisschen wehen. So wie in Cornwall oder den Niederlanden wird Sturmtief Xaver auch in der Grafschaft Devon nur in stark abgeschwächter Form auftreten und ohne den Medienwirbel, von dem er andernorts begleitet wird, im Strudel der vielen aufeinander folgenden Sturmtiefs dieses Winters geht er direkt unter. Südengland sollte in dieser Nacht normalerweise verschont bleiben. Fünf Wochen zuvor, am 28. Oktober, als Tief Christian die Saison eröffnete, war das jedoch nicht der Fall. Am Wochenende darauf, es war Ebbe, tauchte Ted Hamiltons Schwester Margaret unerwartet bei ihm auf. Zwei Studenten aus dem geophysikalischen Institut ihrer Universität begleiteten sie. Sie stellte sie ihm vor.

»Karen und Kilian.«

Die beiden waren Doktoranden im ersten Jahr und gehörten zu ihrem Forschungsteam. Alle drei hatten sich ab St. Andrews am Steuer abgewechselt, im Kofferraum lagen inmitten von Gummistiefeln und Eimern lauter Messgeräte und Equipment für Bodenprobenentnahmen. Er empfing sie am Ende der Fichtenallee, deren Zweige in den Weg ragten, weshalb er dabei war, sie zurückzuschneiden. Margaret fragte, ob sie wohl für zwei Nächte zwei Zimmer im ersten Stock belegen könnten. Statt einer Antwort deutete er mit einer an die Studenten gerichteten Geste auf die Fassade, als wollte er sagen, ›Seht her, was mir das Met Office hier für einen großen Kasten zur Verfügung gestellt hat‹.

»Da drin gibt es Schlafzimmer und Betten ohne Ende, Platz habe ich mehr als genug.«

Dann zeigte er ihnen die Villa von innen, der Bau aus dem letzten Jahrhundert war ursprünglich dafür entworfen worden, ganze Generationen kinderreicher Familien zu beherbergen. Inzwischen hat die Villa ihre besten Zeiten hinter sich und wird ganzjährig vermietet. Ted Hamilton lebt dort allein. Wer Margaret nicht gut kennt, mag sich wundern, dass seine eher häuslich veranlagte Schwester, die ihren regelmäßigen Tagesablauf schätzt, ganz Großbritannien durchquert, nur um einen Küstenabschnitt zu untersuchen, der vom Sturm heimgesucht wurde – ihn wundert das nicht. Zwar teilt er ihre Euphorie, ihre Begeisterung dafür nicht, aber er fühlt sich dabei ein wenig wie ihr heimlicher Komplize, ja, ist sogar erleichtert darüber. Es erleichtert ihn, dass sie sich einer Sache voll und ganz verschrieben hat, ihr Forscherdrang so groß ist wie am ersten Tag, sie unbeirrt ihrer Berufung folgt. Schließlich hat er miterlebt, wie diese Berufung vor fünfundzwanzig Jahren entstanden ist, und es erfüllt ihn mit Befriedigung, einen gewissen Anteil daran gehabt zu haben, selbst wenn er vielleicht nicht im Einzelnen sagen könnte, worauf sie genau beruht, woher ihre erst im Erwachsenenalter entstandene Leidenschaft für alles, was verschüttet ist und ausgegraben werden muss, eigentlich kam. Er verlässt sich auf seine Intuition, auf das, was er mangels eines großen psychologischen Gespürs dank der von ihm durchexerzierten Versuch-und-Irrtum-Methode über sie und ihre Reaktionsmuster hat herausfinden können, als sie jung waren, und mit Hilfe derer es ihm gelungen war, eine gewisse Schnittmenge zwischen ihnen herzustellen. Diese Intuition sagt ihm, dass die Südhälfte Großbritanniens, die nach der letzten Eiszeit doppelt vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen war, da England sich, wie bei der Bewegung einer Waage, gesenkt hatte, während Schottland, befreit von der Last des Gletschers, sich gehoben hatte, dass diese vor der englischen Küste liegenden überfluteten Gebiete, die sie zu ihrem Studienobjekt gemacht hatte, einen für sie geradezu maßgeschneiderten Bereich darstellen, und in eben diesem Bereich können sie beide sich am Tag nach einem Sturm treffen, um zusammen die Küste Devons abzugehen.

Schon in Aberdeen liebten sie es, gemeinsame Spaziergänge am Wasser zu unternehmen, er erinnert sich noch gut daran, wie sie an den Kais oder auch im Süden der Stadt auf dem in den Fels gehauenen Zöllnerweg entlanggelaufen sind, mal in Begleitung ihrer Brüder, mal ohne sie. Wenn die drei anderen Brüder nicht dabei waren, die See ruhig war, kein Wind ging, der einem ins Ohr pustete und einen umgab wie eine undurchdringliche Blase, kam es vor, dass sie anfing zu reden, ihren selektiven Mutismus durchbrach und die Distanz aufhob, die sie zu den anderen Brüdern wahrte. Und er, jedes Mal wieder überrascht und verblüfft, wenn sie so ihr Schweigen brach, war darüber so begeistert, dass er als Reaktion darauf wie ein Wasserfall auf sie einzureden begann, ohne zu merken, dass er damit die Flamme zum Erlöschen brachte. Aber sie liebten es auch, an Sturmtagen den langen Strand von Aberdeen entlangzulaufen, der durch die Straße und den Dünenkamm von der Stadt abgetrennt war. Da erübrigte sich das Sprechen. Selbst wenn sie hätten reden wollen, wäre es unmöglich gewesen, sich Gehör zu verschaffen, und die Tatsache, dass es so oder so unmöglich war, kam ihnen entgegen. Mal arbeiteten sie sich gebeugt gegen den Wind vor, sie an ihn geklammert und lachend, mal trieb der Wind, den sie im Rücken hatten, sie vor sich her, und sie rannten, dabei achtete er darauf, nicht zu schnell zu werden, und widerstand dem Reiz, sich treiben zu lassen, während sie ausnahmsweise die Kontrolle abgeben und sich der Kraft des Windes überlassen konnte, ohne dabei jedoch seine Hand loszulassen. Dabei lachte sie ihr junges, klares Lachen, das so unglaublich ansteckend war. Er erinnert sich an die Gischt, an diese schäumende, buttrig wirkende Masse, die den Strand bedeckte und in die sie ihre Hände tauchte, mit der sie ihre Ärmel befleckte und die sie einfach nicht zu fassen bekam, was sie nicht davon abhielt, es immer und immer wieder zu versuchen. Und wenn er, der zwei Jahre jünger war als sie, ihr dabei zusah, verspürte er den Wunsch, ihr den Weg zu weisen, möglichst lange an ihrer Seite zu bleiben, im nächsten Moment abgelöst von der Hoffnung, sie möge irgendwann alleine zurechtkommen, ihre Ängste und Dämonen hinter sich lassen und einen Ort finden, an dem sie sich aufgehoben fühlte und von dem aus sie ihre Rückkehr ins Leben in Angriff nehmen könnte, von dem sie sich ein ganzes Stück entfernt hatte. Es wundert ihn nicht, dass sie ausgerechnet ein solch verstecktes Gebiet, ein überspültes Stück Land, das nur momentweise freigelegt war, zum Ort ihrer Wahl und zu ihrem Rettungsanker erkoren hatte, und die Tatsache, dass sie darüber hinaus daraus ihren Beruf hatte machen können, beruhigt ihn.

Fünfundzwanzig Jahre später verfolgt er aus der Ferne ihren beruflichen Werdegang, liest ihre Publikationen, empfängt sie in seiner Villa in Devon für eine Schatzsuche. So wie es Menschen gibt, die gerne Blitze beobachten oder Tornados in den weiten Ebenen des amerikanischen Westens, und die den Wetterbericht daraufhin überprüfen, wann die Bedingungen dafür ideal sind, so machen sich jedes Mal, wenn einer Springflut heftige Winde vorausgehen, oder genauer, durch diese Winde erzeugter starker Wellengang, all jene, die sich dafür interessieren, auf den Weg an die englische Küste und sammeln sich an den bekannten und vielfach beschriebenen Orten, oder an anderen, die bisher noch kein einziges Geheimnis, keinerlei Fundstück preisgegeben haben, die aber vielversprechende Kandidaten dafür sind. An solchen Tagen, an denen beides zusammenfallen soll, ein Sturm und eine Springtide, nehmen Profis oder auch Hobbysammler ihre Suche auf, mit dem Wissen, dass an einigen Orten, von Yorkshire über Norfolk und Cornwall bis zu den Niederlanden, Bäume zum Vorschein gekommen sind, nachdem die dicke Schicht Sand, die sie bedeckt hatte, am Vortag weggeschwemmt worden war. Baumstümpfe und liegende Stämme diverser Arten, Eichen, Haselnussbäume, Kiefern, Buchen, die man mit Hilfe der Radiokarbonmethode in die Zeit vor der Eisenzeit datieren konnte.

Es war ein Frühlingsnachmittag, sie saßen zusammen am Strand von West Sands in St. Andrews. Er fragte sie, ob sie inzwischen eine Idee hätte, was sie im kommenden Jahr machen wolle. Es war Ende April, auf den Rasenflächen und den begrünten Mittelstreifen der Straßen sprossen überall Narzissen aus dem Boden, der Campus leerte sich nach und nach, da die Studenten im letzten Studienjahr zu ihren Abschlusspraktika aufbrachen. Margaret stand kurz vor dem Vordiplom, nach einem dreijährigen Grundstudium in Geowissenschaften war sie nun in genau der Situation, die sie möglichst lange vor sich hergeschoben hatte. Sie musste sich entscheiden, wie es weitergehen sollte, sich überlegen, was sie machen wollte, sich auf ein Gebiet spezialisieren. Sie hatte diese für das Leben eines jungen Erwachsenen typische Zielgerade erreicht, wo man sich seinen Weg suchen und eine gewisse Autonomie erlangen musste. Das bedeutete, man musste jetzt aus der Fülle der Möglichkeiten eine auswählen und damit das Risiko eingehen, es später zu bereuen. Ted hatte sie bereits mehrfach darauf angesprochen, das Problem schon öfter aufgeworfen, und wie jedes Mal, wenn ihr eine Idee Angst machte oder die Dinge in ihrem Kopf zu konfus waren, war sie ausgewichen. Er traf sie in ihrer Mittagspause, vorher war er den Pfad am sagenumwobenen Golfplatz Old Course entlang bis zum Strand gelaufen. Sie saß mit dem Rücken zum Wind, einen Stift in der Hand, und las in einem Buch. Erneut hakte er nach.

»Weißt du inzwischen, was mit nächstem Jahr ist? Was willst du machen?«

»Die gleiche Laufbahn einschlagen wie die anderen.«

»Und das heißt?«

»Dem Gesang der Sirenen folgen, die uns bei ihren Werbeveranstaltungen einen roten Teppich ausrollen.«

 

»BP, Shell, ExxonMobil.«

»Genau.«

Er zuckte mit den Schultern. Seine rechte Hand zog Linien zwischen den Kieseln.

»Drei Viertel der Studenten meines Jahrgangs entscheiden sich dafür.« Sie beobachtete ihn. »Du siehst skeptisch aus …«

»Mehr oder minder.«

»Du denkst, ich könnte das nicht?«

»Ich denke, du kannst dich problemlos spezialisieren und deinen Master machen.«

»Und dann?«

»Dann wird es womöglich etwas kompliziert. Wenn du in diesem Bereich weiterkommen, deinen Weg gehen und nicht bei der nächsten Wirtschaftskrise rausfliegen willst, dann brauchst du ein Know-how, das über die rein technischen Kompetenzen hinausgeht.«

»Und das ich nicht habe?«

»Das du nicht von Natur aus hast, nein.«

»Danke für diese Ermutigung.«

»Ich möchte dich überhaupt nicht entmutigen.«

Sie packte ihr Buch ein und holte Sandwiches aus der Umhängetasche, die sie sich im vorherigen Sommer von einer Südfrankreichreise mitgebracht hatte. Eine Tasche aus Schweinsleder, die man mit einer Klappe verschließen konnte, mit kleinen Fransen. Jedes Mal, wenn er diese Tasche anhob, fragte er sich, wie sie es schaffte, ein solches Gewicht mit sich herumzuschleppen. Sie aßen schweigend ihre Sandwiches und beobachteten dabei zu ihrer Linken die Golfspieler auf dem 18-Loch-Old-Course-Platz, zu dem sie niemals Zutritt haben würden, so exklusiv war er. Und rechts von ihnen das auflaufende Meer. Dann brach Ted Hamilton das Schweigen. In solch einem Schlüsselmoment, da sich entscheidet, welchen Spielraum man später hat, beziehungsweise wie sehr man sich durch eine frühe Festlegung einengt, da sollte man sich auf seine Stärken besinnen, statt sich auf seine Schwächen zu berufen. Er war jedenfalls immer davon überzeugt, dass sie eines Tages ihren Platz finden würde.

»Ich meine nur, deine Zukunftspläne davon abhängig zu machen, was die anderen um dich herum machen, mit der Begründung, drei Viertel der Geologiestudenten würden sich für einen Job in der Ölindustrie entscheiden, ist keine gute Idee.«

»Und was wäre deiner Meinung nach dann eine gute Idee?«

»Dass du dir einen Bereich aussuchst, der dich wirklich interessiert.«

Natürlich haben nicht alle das Glück, so wie er, sich seit ihrem vierten Lebensjahr für etwas zu begeistern, in seinem Fall Wolken. Aber das kann ja noch kommen. Und niemand zwingt sie, in die Luft zu schauen und zu beobachten, was sich über ihrem Kopf abspielt. Möglicherweise zieht sie es vor, in der Erde zu buddeln, um zu verstehen, was sich unter ihren Füßen abspielt.

»Wir buddeln nicht alle aus den gleichen Gründen. Wir wollen nicht alle das Gleiche verstehen. Wenn du dich für die ersten Fischfossilien interessierst«, sagte Margaret, »musst du bis in die Schichten des Paläozoikums zurückgehen. Wenn du in der Nordsee nach Erdöl suchst, wirst du die Sedimentschichten des Mesozoikums ausloten. Geht es dir um die Auffaltung der Alpen, konzentrierst du dich auf die Plattentektonik im Tertiär. Und wenn du dich für die moderne Geologie der Geschichte der Menschheit interessierst, den Zeitraum, bevor der Mensch eingegriffen und die Landschaft und das Klima verändert hat, dann widmest du dich dem Quartär. Geologie des Quartärs und der Vorgeschichte ist der Masterstudiengang, der mich interessieren würde, meine Bedenken mal außer Acht gelassen, da du mich schon fragst. Das ist der Studiengang, für den ich mich gerne bewerben würde.«

»Na, dann mach es doch.«

»Mache ich.«

Einige Wochen später brachte er ihr zu ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag ein Geschenk mit.

»Wo hast du das denn gefunden?«

»In Edinburgh, in der Victoria Street.«

Ted Hamilton war nie ein großer Leser gewesen, aber er hatte ein Faible für alte Bücher, und wenn er am Bahnhof von Edinburgh ausstieg, lief er immer bis zum Schloss hoch und genoss es, durch die mittelalterlichen Straßen zu flanieren, die wegen der ungewöhnlich hohen Gebäude aus Stein, oder einfach weil sie so schmal oder verwinkelt waren, so düster waren, dass die kleinen Antiquariate oder Trödlerläden so gut wie kein Licht abbekamen. Er hatte das Buch, das er ihr schenkte, selber nicht gelesen, aber der Titel, Submerged Forests, und die Fotografie des Autors, der Joseph Conrad ähnlich sah, hatten ihn angesprochen.

»Die Originalausgabe stammt von 1913. Der Text ist eine Auftragsarbeit der Cambridge University Press. Es wurde in einer Lehrbuch-Reihe herausgegeben«, sagte Ted. »Clement Reid lehrte damals in Cambridge Geologie und Botanik. Submerged Forests ist seine letzte Publikation.«

»Verstehe …«

Margaret hielt das Buch fest, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Sie wog es in ihren Händen, drehte es um, strich mit der Hand über den dicken Kartoneinband, führte es an ihr Gesicht, um daran zu schnuppern, schlug es aber nicht auf. Sie waren in der elterlichen Wohnung in Aberdeen zusammengekommen, die über dem 1950 in der Union Street eröffneten Juweliergeschäft lag. Man feierte nicht nur Margarets zweiundzwanzigsten Geburtstag, sondern auch die Übernahme der Abstandszahlung durch einen Nachmieter und den Umzug des Stammgeschäfts in die neue im Herzen der Stadt errichtete Mall. Die Schaufensterauslage des Geschäfts der Hamiltons hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der des Großvaters, der durch den Verkauf von Geschenken zur Taufe und zur Verlobung und von Uhren zur Kommunion ein bescheidenes Auskommen gehabt hatte. Im Laufe der letzten Jahre waren einige wertvolle Stücke hinzugekommen, wie man sie auch in London oder Edinburgh fand, damit passte man sich an die Entwicklung des Marktes an, an die steil angestiegene Nachfrage nach Luxusobjekten, seit das Manna Erdöl Aberdeen von einer bescheidenen Provinzhauptstadt zur Stadt mit dem zweithöchsten Anteil an Milliardären im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gemacht hatte. Mit dieser Entwicklung hatte nun wirklich keiner gerechnet. Zwanzig Jahre zuvor hätte das niemand zu träumen gewagt.

The Silver City by the Golden Sands. Das war einmal. Das war vor der Entdeckung der ersten Kohlenwasserstoffvorkommen in der Nordsee. Da war Aberdeen ein Fischereihafen, die Werften und Konservenfabriken hielten sich mehr schlecht als recht über Wasser, die britischen Touristen schätzten die langen Sandstrände, die Bauern aus dem Hinterland flanierten die Union Street auf und ab, stolz auf die imposante Architektur der repräsentativen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert aus grauem Granit, die im Stil des schottischen Mittelalters von Türmen und Türmchen flankiert waren. Die Stadt war herausgeputzt und blumengeschmückt, die Haupteinkaufsstraßen waren immer voll, paradoxerweise florierten die Geschäfte damals besser als heute. Und dann kamen Tausende Expats, Manager und Ingenieure, sie kamen vom Golf von Mexiko oder aus dem Nahen Osten herübergeflogen, im Gefolge der Mineralölkonzerne. Die Stadt von damals, die ihnen streng, feucht und kalt erschien und die sich von heute auf morgen zur Hauptstadt der europäischen Offshore-Ölindustrie ernannte, veränderte sich.

Ab Mitte der siebziger Jahre erleben sie, die Kinder und Jugendlichen aus Aberdeen, diese Verwandlung hautnah mit. Man beginnt damit, die Docks und das frühere Fischer-Viertel dem Erdboden gleichzumachen, um Logistikbasen zu errichten. An die Stelle der Fischkutter treten riesige Versorgungsschiffe, die ebenso gigantische Ausmaße haben wie die Bohrrohre, und die den Auftrag haben, die Bohrinseln mit Lebensmitteln und Ausrüstung zu versorgen. In den Vororten schießen Bürogebäude, Firmensitze, Wohnanlagen und Vertragshändler teurer Automarken aus dem Boden. Man vergrößert den Flughafen und baut den größten Hubschrauberlandeplatz Europas. Nach und nach verschwinden die hübschen kleinen Geschäfte aus der Union Street zugunsten luxuriöser Malls, die man im Stadtzentrum errichtet. Die Immobilienpreise schießen in die Höhe. Die Gemeinde muss sich verschulden, um Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen in einem schon im Voraus verlorenen Wettlauf gegen die Zeit anzupassen. Es herrscht Goldgräberstimmung. Alkohol und Geld fließen in Strömen, ersterer wird dabei gerechter verteilt als letzteres. Die Erwachsenen werden von diesem Strudel mitgerissen und versuchen, möglichst heile aus der Sache rauszukommen. Manche werden dabei härter durchgerüttelt als andere, angefangen bei den Beschäftigten der amerikanischen Firmen. Sie stehen von nun an unter der Kuratel von Managern, die an eine gefügige Arbeiterschaft gewöhnt sind, die bereit ist, für Dumpinglöhne zu arbeiten. Aber sie, die Kinder von Aberdeen, sehen nur die andere Seite der Medaille. Die kleine Wohnung wird gegen eine größere getauscht, auf dem Schulhof geht es kosmopolitisch zu, und das unaufhörliche Ballett der Helikopter ersetzt den früheren Höhepunkt des Jahres, den jährlichen offiziellen Besuch des Herzogs von Edinburgh. In den Supermärkten tauchen lauter exotische Produkte auf, wie Bourbon und Tequila, Tapas und Barbecuesaucen, und am Samstagabend laufen die Texaner in Cowboystiefeln, Westen und mit dem Stetson auf dem Kopf durch die Straßen des Zentrums. Die Stadt kommt in Bewegung und verändert sich, das erscheint ihnen nur natürlich, sie brauchen also nicht anderswohin auszuwandern, im Gegensatz zu vorherigen Generationen, müssen ihre Wurzeln nicht kappen, die Welt kommt zu ihnen, bietet ihnen sämtliche Versprechen, die mit einem Tapetenwechsel einhergehen: Abenteuer, Reichtum, einen Lebenswandel, den sie nicht kannten und den sie jetzt vor Augen haben.

3

Das Haus der Familie Ross liegt am südlichen Rand der Altstadt von St. Andrews, gegenüber der St. Andrews Church. Draußen geht ein böiger Wind, aber das ist für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Margaret Ross steht mit der Fernbedienung in der Hand neben der Couch und zappt von einem Nachrichtensender zum nächsten. Letztlich entscheidet sie sich für Sky News, legt die Fernbedienung auf dem Couchtisch ab und setzt sich hin. Momentan füllt die Moderatorin den gesamten Bildschirm aus, bis oben rechts der Kopf ihres Gesprächspartners eingeblendet wird. Innerhalb von Sekunden kehrt sich das um, nun ist sie im Miniaturformat in der oberen Ecke zu sehen und im Großformat sieht man Außenaufnahmen. Als wäre das nicht genug, werden in einem Laufband kontinuierlich Textzeilen eingeblendet, die in keinem direkten Zusammenhang zum Gesagten stehen. Gerade wurden drei Isobarenkarten gleichzeitig gezeigt, die sich auf den Westen Großbritanniens konzentrieren. Wie kommt es nur, fragt Margaret Ross sich, dass die Rotationsgeschwindigkeit des Windes auf dem Bildschirm derart plastisch hervortritt, ohne jede Animation, nur aufgrund der Tatsache, dass die Isobaren von einer Karte zur nächsten immer enger stehen? Zwischen den drei Aufnahmen liegen jeweils vier Stunden, und obwohl nichts in Bewegung gesetzt wird, ist die Dynamik trotzdem da. Es ist ihr Bruder, Ted Hamilton, der die Karten kommentiert. In dem Moment, als Margaret ihn in dem eingeblendeten Kästchen sieht, kündigt die Moderatorin ihn auch schon an, Ted Hamilton, direkt zugeschaltet aus dem Met Office, und mehr noch als auf die Stimme ihres Bruders oder auf sein Gesicht reagiert sie auf seinen Namen, der so irritierend vertraut klingt, außerdem ist es einfach befremdlich, ihn so vor sich zu sehen, einerseits ist er unglaublich nah und andererseits hat er keinerlei Ähnlichkeit mit der Person, die sie kennt. Er hat eine Nacht Krisenmanagement vor sich und bereits zwei Pressekonferenzen hinter sich. Sie hat Mühe, ihn wiederzuerkennen. Er wirkt weniger kurz angebunden, weniger steif, als er in Wirklichkeit ist. Tatsächlich ist es für sie jedes Mal von neuem ein Wunder, ihn dort zu sehen.

Sie ist allein zu Haus in der Queen’s Terrace, ihr Mann Stephen und ihr Sohn David sind noch nicht da. Sie ist damit beschäftigt, an ihrem Beitrag zu feilen, den sie übermorgen beim Kongress in Esbjerg präsentieren soll. Ihr Laptop steht vor ihr auf dem Esstisch, und nachdem sie das Exposé einmal bis zum Schluss heruntergescrollt hat, überlegt sie, an welchen Stellen sie zwei oder drei Grafiken ihrer Power Point Präsentation streichen könnte, um den ihr zur Verfügung stehenden Zeitrahmen nicht zu überschreiten. Schließlich nehmen fünf Wissenschaftler an dem Runden Tisch teil, jeder soll in einem Eingangsstatement die Möglichkeit bekommen, seine Arbeit und seinen Beitrag zum Thema vorzustellen, und in der sich anschließenden Diskussion wird man dann den einen oder anderen Punkt ergänzen oder vertiefen können. The Storegga Slide tsunami lautet der genaue Titel der Konferenz, die für Freitag elf Uhr angesetzt ist. Vom Norwegischen Storegga, die Große Kante, und vom Englischen slide, im geologischen Sinn des Wortes, also Rutschung.

 

Die Queen’s Terrace liegt achthundert Meter hinter der Strandpromenade. Sie markiert die südliche Grenze der mittelalterlichen Stadt, die auf einem Felsvorsprung errichtet wurde und deren moderner Teil nicht übermäßig ausufert. Bei Ebbe tritt eine breite Küstenplattform zu Tage, eine durch die Erosion glattpolierte Brandungsplatte, die, so kann man vermuten, den Fuß des Felsens schützt oder zumindest die erosive Kraft der Wellen an einem Tag wie diesem erheblich vermindert, so dass die an der Strandpromenade aufgereihten alten Häuser bis heute erhalten geblieben sind – wäre der Felsen an dieser Stelle in all den Jahren nur um zehn Zentimeter im Jahr zurückgewichen, wären sie längst fortgespült worden.

Obschon die Stadt dem Wind ausgesetzt ist, der quer durch sie hindurchfegt, Regen und Schnee auf sie niederpeitschen und sie wie ein Prellbock dem andauernden Ansturm der Nordsee ausgesetzt ist, hat sie in den sechs Jahrhunderten ihres Bestehens keinen Zoll Land preisgegeben, und die von einem Ende der Strandpromenade aus zu erkennenden Ruinen, Burg und Kathedrale, sind allein von Menschenhand zu solchen geworden. Was von den Bränden und der vorsätzlichen Zerstörung verschont geblieben ist, scheint der Zeit zu trotzen: ein Spitzbogengewölbe, eine Aneinanderreihung von Bögen, ein Portal, ein Turm, von dem aus man den Rasen überblickt, auf dem senkrecht ein Grabstein neben dem anderen steht, im Schutze der Umfassungsmauer, die sich oberhalb des Felsens erhebt, aus dem gleichen Stein gehauen ist wie dieser und seine natürliche Verlängerung bildet, indem auch ihre Farben je nach Licht und Jahreszeit changieren. Nach Oxford und Cambridge ist St. Andrews die älteste Universitätsstadt Großbritanniens. Zu den an der Promenade liegenden Häusern gelangt man durch enge Gassen, manche so schmal wie ein Gang, sie vermitteln einen Eindruck davon, wie groß das Bedürfnis war, sich vor den Elementen zu schützen. In zweiter und dritter Reihe und bis hin zur Queen’s Terrace sind die Fassaden der Häuser aus grauem, schmucklosem, feinporigem Sandstein noch aus der Zeit der Gotik erhalten, oder aber sie stammen aus der Zeit der ersten Colleges und sind ebenso schlicht wie diese. Margaret Ross, eingeschrieben unter dem Namen Hamilton, kam mit neunzehn Jahren hierher und hat den Ort seither nicht mehr verlassen. Sie hat diesen Eindruck von Unveränderlichkeit, von der bewahrenden Kraft der alten Gemäuer, der Architektur, der vier Jahrhunderte alten Studentenrituale, nicht einfach über sich ergehen lassen, sondern darin auf Anhieb genau das gefunden, was sie brauchte: einen festen Rahmen, eine gewisse Stabilität, während sie in ihrer Geburtsstadt Aberdeen, die immer in Bewegung war, sich veränderte, seit den sechziger Jahren eine permanente Revolution erlebte, oft das Gefühl hatte, durch eine Kluft von ihrer Umgebung getrennt zu sein. Bevor sie ihren Laptop ausschaltet und sich ans Kofferpacken macht, loggt sie sich auf der Website des Met Office ein. Die letzten online gestellten Informationen, die Karte mit den Warnhinweisen, auf der inzwischen für drei Viertel des Landes eine Unwetterwarnung besteht, bestätigen die SMS, die ihr Bruder Ted ihr zwischendurch geschrieben hat, und das klingt alles in allem ziemlich beunruhigend.

Xaver ist nicht der erste und sicher nicht der letzte Sturm dieser Saison. Margaret weiß, dass sich in den nächsten Wochen eine fast ununterbrochene Abfolge von Tiefdruckgebieten über dem Atlantik bilden und dabei, je nachdem, welchen Weg sie einschlagen, die mehr oder minder nördlich gelegenen Breitengrade Europas überqueren wird. Aber einen positiven Nebeneffekt hat es auch, denn die so kostspieligen Ausgrabungen, die sie für ihre archäologischen Forschungen benötigen, diese so langwierige und mühsame Arbeit, die erledigt dann das Meer für sie. Jeden Winter wird die Küste von Galizien bis zum Baltikum vom Meer bestürmt. Millionen Tonnen Gestein, Kiesel, Sand werden verschoben. Felsen weichen zurück, Strände senken sich ab, Untiefen werden umgestaltet, das Watt wird stellenweise abgetragen, eine Schicht nach der anderen, bis man Sedimentschichten erreicht, die für diejenigen, die sie zu interpretieren wissen, Videostills ähneln. Der Geologe und Botaniker Clement Reid ist einer von ihnen. Sie weiß noch, wie sich bei der Lektüre von Submerged Forests ein riesiges Forschungsfeld vor ihr auftat. Reid war 1906 der Erste, der nach jedem großen Sturm die englische Küste abschritt, von Yorkshire bis Cornwall, auf der Suche nach Hinweisen, wie Europas Umrisse ausgesehen haben, als es noch größer war, und bevor es dieses Gebiet eingebüßt hat. Wenn der Sturm mit einer Springflut zusammenfällt, legen bei Ebbe freigelegte Gebiete Zeugnis von einer Zeit ab, in welcher der Meeresspiegel im Norden sehr viel niedriger war. Entgegen den weit verbreiteten Auffassungen seiner Epoche schreibt Clement Reid diesen Anstieg des Meeresspiegels der Klimaveränderung zu, überzeugt von den Arbeiten von Penck und Brückner, die in ihrer 1909 aufgestellten Chronologie vier Eiszeiten des Quartärs ausmachen und benennen, Günz, Mindel, Riss und Würm, denen wir die Alpen verdanken. Zum Höhepunkt der Würm-Eiszeit liegt der südliche Teil der heutigen Nordsee trocken. Der nördliche Teil des Nordseebeckens hingegen ist unter der Last des Inlandeises erstarrt, dem Grönländischen Eisschild, der bis nach Yorkshire herunterreicht.

Noahs Wälder. So nennen Clement Reids Zeitgenossen diese in Bänken aus versteinertem Torf verwurzelten freigelegten Schichten, die am Morgen nach einem großen Sturm zu Tage treten. Bereits aus der Ferne erkennt man am Boden liegende Baumstämme, von denen manche noch einen intakten Querschnitt aufweisen, als hätte die Abholzung gerade erst stattgefunden. Da, wo sonst bei Ebbe nur Sand und Schlick waren, bleibt man von einem Tag auf dem anderen an den Wurzeln junger, zerbrochener Stämme hängen oder an denen ausgewachsener Bäume, die so aussehen, als wären sie maschinell gefällt worden. Ihre glatte Schnittfläche fühlt sich bei Berührung seidenweich an, und unter dem Anthrazitgrau, in das die gesamte Szenerie getaucht ist, sind die Jahresringe gut erkennbar. Da, wo sonst nichts war als Sand, soll der Legende zufolge mal etwas gewesen sein, ein Gebiet oder eine Stadt, die vom Meer verschlungen wurden, so wurde es von einer Generation an die nächste überliefert, so etwas wie das antike Reich von Cantre’r Gwaelod oder das untergegangene Land Lyonnesse. Clement Reid veröffentlicht Submerged Forests 1913. Das Werk, das nur wenigen Spezialisten bekannt ist, ist mittlerweile in einer Neuauflage erhältlich, die den Text und die Ikonografie der Originalausgabe übernimmt, wie der Klappentext erklärt, und um eine biografische Notiz und ein Vorwort von Margaret Ross ergänzt wurde, die als leitende Forscherin am Institut für Geografie und Geowissenschaften der Universität von St. Andrews tätig ist. Da man sich bei dem Foto auf der ersten Seite für eine Farbstatt eine Schwarz-Weiß-Fotografie entschieden hat, sind der rosafarbene Dunst am Ende der Bucht und die stellenweise bernsteinfarbenen Lichtreflexe auf dem Schlick zu erkennen, aber von diesen wenigen Nuancen abgesehen ist alles Grau in Grau. Es hat die ganze Nacht gestürmt. Und dann, bei Tageslicht, tauchen sie langsam aus den Nebelschwaden auf: Alte Baumstümpfe, die mit ihren an den Körper gepressten Armen und krummen Beinen losmarschieren wollen, Baumstämme, die am Boden liegen und sich erheben wollen, eine alterslose Armee, die den Fluten bei Niedrigwasser entkommen ist und, noch feuchtschimmernd, unter wild bewegtem Himmel, so wirkt als wolle sie den Strand im Sturm erobern. Es sind sicher mehrere Dutzend Individuen, auch wenn im Vordergrund nur einige wenige zu erkennen sind. Man meint, bei jeder neuen Ebbe müssten ihnen zig andere folgen, erstarrt in der Haltung, die sie hatten, als die Uhr einige Jahrtausende zuvor auf einen Schlag stehen blieb. Jeder Spaziergänger, jeder Laie hat seine eigene Theorie dazu. Ein halbes Jahrhundert vor Entwicklung der Radiokarbonmethode haben Clement Reids Zeitgenossen keine andere Methode der zeitlichen Einordnung zur Verfügung als die biblische, und während er sich bereits für Stratigrafie interessiert, sind die Zeiten um ihn herum vorsintflutlich. Diese versteinerten Wälder, die innerhalb einer Nacht erscheinen, bevor sie wieder in den Wellen verschwinden, nennen sie Noah’s Woods, Noahs Wälder.