Doggerland

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Sie setzte sich damals oft ans Ende der Mole, mit Blick aufs Meer, das sich manchmal farblich kaum abhob, Himmel und Meer eine Einheit, und das manchmal in ein unwirkliches Licht getaucht war. Sie beobachtete die Schiffe bei der Ein- und Ausfahrt aus dem Hafen, und die vor Aberdeen wartenden Versorgungsschiffe. In diesem Moment fühlte sie sich als Teil einer Gemeinschaft, es spielte keine Rolle, ob jemand zur See fuhr oder nicht, davon lebte oder nicht, alle waren ihr zugewandt. Alle Nordseevölker teilten unausgesprochen die gleiche Vergangenheit. Die Küstenbewohner sind mit der Nordsee groß geworden, fühlen sich durch sie eng verbunden, glauben an ihre einigende Macht, glauben, dass sie ihr Denken seit Jahrtausenden prägt, seit sie diesen mal grauen, mal tintenblauen Fluten mit dem unberechenbaren Charakter, von dem man nie weiß, was er im Schilde führt, die Stirn bieten. Ihr Verhältnis zu ihr war lange ambivalent, schwankte zwischen Liebe und Angst. Das ist teilweise bis heute so. Alle, die mit ihr zu tun haben, lieben sie so wie sie ist. Sie verzeihen ihr ihre Wutausbrüche, die von einem Moment auf den anderen in rohe Gewalt münden. Weil das nun einmal ihr Wesen ist. Das Wesen eines nördlichen Meers. Man könnte es sich natürlich südlicher erträumen, friedlicher und wärmer, so wie es früher auch mal war, aber eben jetzt nicht mehr ist. Alle, die sie gut kennen, glauben, dass diese Gewalt, die Konfrontation mit ihrer Gewalt, die immer ihren Preis hat, sie einander nahebringt, ihre Mentalität prägt, von Schottland bis Dänemark, von Norwegen bis zum Pas-de-Calais. Ein Teil ihrer gemeinsamen Kultur geht auf sie zurück, auf den Umgang mit ihr, die Reichtümer, die sie verschafft, die Zerstörungen, die sie anrichtet, die Menschen, die sie für immer verschlingt. Das und noch viel mehr. Vieles, was sie gemein haben, haben sie vergessen. Vieles an Wissen ist verloren gegangen, und die Kultur ihrer Vorfahren, die sich rund ums Nordseebecken niedergelassen haben, bildet nur den Rand dessen. Die Ränder sind einem ständigen Spiel der Kräfte unterworfen, und diese äußersten Ränder einer Insel von der Größe des heutigen Belgiens sind gar nicht so fern, liegen nur zweihundert Kilometer weiter im Norden. Der Schatten dessen, was nicht mehr da ist, lastet auf ihnen. Der Schatten dessen, was noch da sein könnte, wenn die Schmelze des Eisschildes früher zum Stillstand gekommen wäre und der Meeresspiegel dreißig Meter tiefer läge. Dieses Gebiet war einmal ein entscheidender Teil Europas und fehlt nun. Es war reich an Gebräuchen, an religiösen Überzeugungen, ein Ort, der zu Kooperationen führte, aber auch Rivalitäten erzeugte, ein Ort des Austauschs. Dieses Erbe tragen wir mit uns herum. Er ist nicht wirklich weg. Er ist auf indirekte Art immer noch da. Ein Gebiet, das heute mehr denn je Begehrlichkeiten weckt, in Unkenntnis dessen, was es einmal war.

Selbst wenn das Doggerland nicht dieser gesegnete Landstrich ist, der ex nihilo den Menschen aus dem Mesolithikum zum Geschenk dargebracht wurde, selbst wenn es Jahrhunderte unermüdlicher Eisschmelze gebraucht hat und den Rückzug der Gletscher nach dem Beginn der Klimaerwärmung, der zu einer noch nie da gewesenen Ausbreitung der Fauna und Völker geführt hat auf einer vorläufigen und größeren Version Europas, selbst wenn das alles erst nach und nach entstanden ist, nachdem das durch den Permafrost an der Oberfläche gebundene Wasser freigegeben wurde, selbst wenn die Tundra länger standgehalten hat als die Taiga und die Taiga länger als der gemäßigte Wald, geben uns die Pollen, die man durch Kernbohrungen zu Tage gefördert hat, darüber Auskunft, dass sich etwa 8000 vor Christus eine Art Gleichgewicht abzeichnet und es anschließend nur noch eines Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiels bedurfte zwischen den Laubbaumarten, bis sich herausstellte, welche endemische Art am Ende das Rennen machte. Auf dem langen Weg bis zu diesem Gleichgewicht kommen viele Parameter ins Spiel und tragen Etappe für Etappe dazu bei, aus diesem Gebiet einen Garten Eden zu machen. Währenddessen steigen die Meeresspiegel der Ozeane weiter an, sie dehnen sich immer weiter aus, und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, an dem die riesige Schwemmlandebene der Nordsee unwiderruflich überflutet wird. Aber das ist ein langsamer Prozess, und er geht einher mit einem milderen Klima, so als würde die Ebene zu einem niedrigeren Breitengrad herabsteigen, und als Ausgleich zu den damit einhergehenden, steigenden Temperaturen die Konzession eines Gebietsverlustes leichter verschmerzen können. Sicherlich ist das Doggerland während des gesamten Mesolithikums in einem ständigen Wandel begriffen, und zwar in fast jeder Hinsicht, angefangen bei seiner Kartografie. Richtig ist aber auch, dass im Hinblick auf Ressourcen, welche die Menschen zum Leben benötigen, und zwar nicht zum bloßen Überleben, sondern zu einem angenehmen Leben, alles da ist, zu ihrer freien Verfügung, in Hülle und Fülle, und das ist selbst auf der Inselversion des Doggerlands noch so, der konzentrierten, kompakteren Version, die dennoch so ausgedehnt ist, dass es in puncto Biodiversität den Tausenden in Clans organisierten Menschen das Nötige und auch das Überflüssige bietet. Sie werden eine Kultur entwickeln, die der ihrer Cousins vom Festland gleicht und doch eigen ist. Bevor das Doggerland überflutet wurde, war es eine prosperierende Insel. In den Lagunen im Schutz der Dünenketten gab es Fisch im Überfluss und brütende Vögel. Was nach dem Ende der Eiszeit ein anarchisches Wirrwarr von Strömen und Flüssen war in einer steinigen Landschaft, bewässerte in einem komplexen, aber stabilen hydrografischen Netz die Auen, es ermöglichte den Menschen, an den Flussufern zu siedeln, einem präzisen Rhythmus folgend und einer nicht minder komplexen Aufteilung des Territoriums zwischen den unterschiedlichen Gruppen. In der Ebene wuchsen Wälder aus Buchen, Erlen, Eichen und Haselbüschen. Ein See so groß wie der Genfer See, der Outer Silver Pit, der in anderen Zeiten dem Gletscher als Überlauf gedient hatte, dehnte sich in südwestlicher Richtung der Insel aus, an seinen Ufern wuchs Röhricht, es gab feine Sandstrände und Kiefernwälder. Die größten Mündungsgebiete gingen in ein Delta über. Und selbst da, in den Feuchtgebieten, den Salzwiesen, auf dem bei Ebbe riesigen Watt, genügte es, sich zu bücken und die Hand auszustrecken, um etwas zu erhaschen. Ein verlorenes Paradies, sagte David, als sie ihm diese Geschichten erzählte. Es gibt kein verlorenes Paradies, denkt Margaret, nur die Sehnsucht danach, im Einklang mit einer Umgebung zu leben, die einem alles gibt, was man braucht, und das über Dutzende von Generationen hinweg.

Je mehr Wissen man im Lauf der Zeit zusammenträgt, je präziser die Topografie wird, die Morphologie des Ganzen, die Zusammensetzung der Böden, die Flora und Fauna, und je größer die Flächen sind, die man per 3D-Computer-Modellierung darstellen kann, desto mehr läuft man das Doggerland so ab, wie es die Menschen im Mesolithikum taten. Man bekommt nach und nach eine immer genauere Vorstellung ihrer Lebensweise, der Verfahren, mit denen sie die vorhandenen Ressourcen nutzten, aber man wird nie etwas über ihre Kosmogonie erfahren, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Künste, die im Gegensatz zu denen des Paläolithikums nur wenige Spuren hinterlassen haben. Man kann ihr Land wieder auferstehen lassen, es aus dem Wasser retten, es dem Vergessen entreißen, und kann ganz konkret, mit Hilfe unserer Art des Denkens und durch Analogien zu anderen, weniger alten Kulturen, wie der Kultur der Native Americans, versuchen, eine Phase zu rekonstruieren, die womöglich eine der letzten war, in welcher der Mensch im Einklang mit der ihn umgebenden Natur lebte, bevor es zur Neolithischen Revolution kam, und versuchen, darüber nachzusinnen, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Man spürt es, ganz intuitiv, dass es da diese Atempause gab, als die Menschen begannen, sesshaft zu werden, als die Bevölkerungsdichte auf diesem begrenzten Gebiet anstieg, und sich die organisierte Bearbeitung der Ressourcen abzeichnete, aber noch ohne die damit verbundenen Nebenwirkungen, das Horten, den Besitz, die Arbeit und den andauernden Krieg, um all das zu verteidigen.

Dieses Areal war bewohnt und versank im Meer. Entweder es wurde innerhalb eines Tages und einer Nacht durch eine Flutwelle ausradiert oder nach und nach überflutet. Dazu gibt es unterschiedliche Thesen, aber in einem sind die Spezialisten sich einig: Als die Neolithische Revolution die Anrainerländer der Nordsee erreichte, war das Doggerland bereits verschwunden. Es ist von den europäischen Gründungsmythen ausgeschlossen, aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Kann man in dieser Amnesie die Folge eines allmählichen Rückzugs der Insulaner aufs Festland sehen, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog? Schön, wenn das wahr wäre. Es gibt kein verlorenes Paradies, nur ist es schlicht unmöglich, eine unglücklich verlaufene Trennung zu vergessen. Wäre alles gut verlaufen, gäbe es keinen Grund zur Wehmut. Der einzige Verlust, der nicht wiedergutzumachen ist, ist der, den man in sich trägt, dem man in seinem Inneren Exil gewährt. Manche erholen sich davon wieder, andere nicht. Und Margaret gehört zur Kategorie jener, die daraus ein Forschungsobjekt gemacht haben, um diesen Verlust besser zu verwinden. Diesen unergründlichen Ort in ihrem Inneren, der sich nicht topografisch verorten lässt, zu dem sie von Anfang an keinen Zugang hatte, zu dem der Zutritt verboten war und von dem sie sich in der Folge also trennen, langsam lösen musste, den hat sie in die hinterste Ecke verbannt und durch diesen weißen Fleck ersetzt, der noch zu erobern ist, der mitten in der Nordsee neu geschaffen werden muss. Es ist wie eine Trauer um etwas, das nicht existiert, also eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, Trauer um etwas, auf das man nicht zurückblicken und das man nicht wiederherstellen kann, und das, will man es hinter sich lassen, einen zwingt, eine Reise in andere Gefilde anzutreten, zu einem anderen Ort, den man zunächst von den Küsten aus begreift, die ihn fest umschließen und erst dann erforscht. Sie liebt die Ränder für das, was in ihrer Mitte ist, für das, was sie begrenzen. Zunächst hat sie an den Konturen gearbeitet, hat den Umriss des Doggerlands auf ihren Zeichnungen schwarz nachgezeichnet, erst dann hat sie sich mit der Mitte beschäftigt. Sie hat sich von Anfang an auf die Ränder konzentriert. Das Ausfüllen kam erst später, hat sie erst später beschäftigt, immer der Reihe nach, sie hat mit dem angefangen, was zuerst anstand, was am meisten drängte, etwas, an das sie sich halten und durch das sie sich definieren kann, die Ränder, die Hülle, wie das Äußere einer Muschel, durch die man die Form bereits erahnen kann und der man in einer zweiten Phase versuchen muss, eine Beschaffenheit zu geben. Aber es ist eine unglaublich langsame Arbeit, eine Suche, die keine Grenzen kennt, das weiß sie sehr gut. Während einige ihrer Kollegen von der Universität ihre Kräfte bündeln, den Leuten die Türen einrennen, privaten Finanzierungen oder Subventionen nachjagen, während sie an die Öffentlichkeit gehen, Debatten lostreten, sich in Rage reden, vor der exzessiven Ausbeutung der Doggerbank warnen, Seminare organisieren, Symposien, Ausstellungen, die sich an das breite Publikum richten, während sie Gemeinwohl und privatwirtschaftliche Interessen zugunsten ihrer Forschungen in Einklang bringen, während sie einen Pakt mit dem Teufel eingehen, wie David sagen würde, während sie mit Firmen und Marktforschungsunternehmen zusammenarbeiten, während sie ihrem Forschungslabor das Überleben sichern, ihre Teams anleiten, ehrgeizige Programme ins Leben rufen, widmet sie, Margaret, sich ausschließlich der reinen Forschung. Sie erkennt an, dass die Aktivitäten der anderen unerlässlich sind, aber beteiligt sich nicht daran, oder kaum, zumindest nicht in dem Maße, wie man es von ihr erwarten würde, wenn sie bereit wäre, die Führung des Labors zu übernehmen. Das hat sie jedoch wiederholt abgelehnt, auch wenn ihre Qualitäten als Forscherin unbestritten sind und sie in jedem Fall die dafür nötige Legitimation hätte, doch das ist eben ein anderes Betätigungsfeld und sie würde sich dann nicht mehr dem Allerwichtigsten widmen können, dem, was sie gerne tut und was ihr eine Struktur gibt, der Arbeit vor Ort, die man normalerweise ab einem gewissen Alter aufgibt, um sich anderen Aufgaben zu widmen.

 

Gestern Nachmittag also sitzen sie beide, David und sie, sich an ihrem Esstisch gegenüber. Während sie am Bildschirm ihr Exposé herunterscrollt und die Ideen sammelt, die fächerübergreifend von Interesse sind, ihre Grundthesen, die im Gegensatz zu den Überschriften über den einzelnen Abschnitten nicht unbedingt auf ersten Blick zu erkennen sind, greift David sich das Programm des Kongresses von Esbjerg, das auf dem Tisch liegt. Der Titel der Ausgabe von 2013 lautet: Offshore industry and Archaeology, a creative relationship. Darin werden die Kooperationen zwischen Forschung und Industrie der letzten Jahre aufgelistet, eine seiner Mutter zufolge fruchtbare Zusammenarbeit. Er jedoch betrachtet sie mit gemischten Gefühlen und hat so seine Zweifel, dass sie und ihre Kollegen langfristig wirklich davon profitieren werden. Nachdem er die Liste der Referenten überflogen hat, spult er laut Namen herunter, die von verschiedenen Anrainerländern der Nordsee stammen, und die Namen der Firmen, für die sie arbeiten, Ölkonzerne, Windparkbetreiber, Consulting-Firmen, Gesellschaften, die spezialisiert sind auf die Erhebung von bathymetrischen und seismischen Daten, die ganze kleine Welt der Offshore-Industrie eben, und mittendrin die Wissenschaftler. Sie begegnen sich dort und ergreifen abwechselnd das Wort: Berichte über Ausgrabungen, Projektpräsentationen, Studien zur Umweltverträglichkeit, technische Innovationen. Normalerweise haben diese Leute nichts miteinander zu tun, stellt David fest, sie kommen aus unterschiedlichen Welten und haben eigentlich völlig gegensätzliche Interessen. Das ist so, als würden sich David und Goliath zusammentun. Der eine ist vom Wissensdurst getrieben, der andere hungert nach Profit, der eine möchte Erkenntnisse sammeln und mit anderen teilen, sagt er und schaut dabei seine Mutter an, während der andere den Hals nicht voll bekommt und deshalb so lange Öl fördert, bis er den letzten Tropfen aus dem Boden geholt hat.

»Die Universität kann uns für unser Forschungsprojekt nur lächerliche Mittel zur Verfügung stellen«, merkt Margaret an. »Wenn man unterseeische Ausgrabungen machen will, kommt man nun einmal nicht an ihnen vorbei, nur über sie hat man Zugang zu dieser Masse von Daten, die man dann informatisch verarbeiten kann, analysieren, extrapolieren, zu denen man Hypothesen aufstellen kann. In Stonehenge hat man es leichter, da läuft man ein Stück Erde ab. Das Doggerland ist aber nun einmal unter fünf bis zehn Meter tiefen Sedimentschichten verschüttet, bei einer durchschnittlichen Bodentiefe von zwanzig Metern, und dann auch noch über hundert Kilometer von der Küste entfernt. Wenn wir da mitmischen möchten, sondieren, bohren, kartografieren, 3D-Modelle erstellen, dann brauchen wir Drittmittel.

Es gibt nur wenige Meeresgründe auf dem gesamten Globus, die so systematisch erforscht worden sind wie der Meeresgrund der Nordsee, in diesem Umfang, in dieser kurzen Zeit, unter diesen extrem harten Bedingungen. Dafür wurden gigantische Summen eingesetzt und ein Heer von Arbeitskräften aufgeboten. Wenn wir also Zugang zu bestimmten Datensätzen der Industrie bekommen und die Ressourcen der Unternehmen, die in der Unterwasser-Erkundung am weitesten fortgeschritten sind, in den Dienst der öffentlichen Forschung gestellt werden, eröffnet man damit den Zugang zu vielen Forschungsfeldern, die uns bisher verschlossen waren.«

»Habt ihr denn keine Angst, dass ihr dafür eine Gegenleistung erbringen müsst?«

»Es gibt ja schließlich ein Gesetz zum Schutz des archäologischen Erbes oder zumindest soll es dazu dienen. Alle diese Aspekte werden in Esbjerg am letzten Tag Thema sein und debattiert werden«, sagt Margaret. »Regeln, Regulierung, Harmonisierung und bewährte Verfahren. Das ist das Thema des letzten, halben Konferenztages.«

Er wirkt nicht überzeugt. Sie kennt ihren Sohn, es braucht schon etwas mehr, um ihm seine Zweifel zu nehmen und ihn dazu zu bringen, sein Urteil zu überdenken. Das stört sie nicht. Sie ist daran gewöhnt, dass er radikale Positionen vertritt oder zumindest nicht gerne einlenkt. Es wäre für sie eher ein Grund zur Beunruhigung, wenn er in seinem Alter anders reagieren würde. Außerdem tut es Stephen und ihr ganz gut, wenn sie ab und zu mal ein bisschen in ihren Grundfesten erschüttert werden, ihre Überzeugungen und Denkmuster einem Stresstest unterzogen werden, selbst wenn David dabei manchmal übers Ziel hinausschießt. Jetzt gerade zum Beispiel prognostiziert er ihr nichts Geringeres, als dass ihr Studienobjekt bald nicht mehr existieren wird, sein Verschwinden quasi programmiert ist, unausweichlich, durch die immer expansionistischere Ausbeutung der Doggerbank, von der sie momentan zwar noch profitiert, aber eben nicht mehr lange.

»Die Schleppnetze haben doch schon sämtliche Fossilien aus der Untiefe weggefischt.«

»Viele davon sind bei uns gelandet«, sagt Margaret.

»Die meisten sind für immer verloren. Diesen Zugang zu Informationen, diese Zusammenarbeit mit der Industrie, müsst ihr teuer bezahlen, aber euch ist ja kein Preis zu hoch, wenn ihr nur mit Daten für eure Forschungen versorgt werdet, in der Hinsicht seid ihr einfach unersättlich. Nur habt ihr es leider mit jemandem zu tun, der noch gefräßiger ist als ihr, jemand, der euch gut kennt, der euch durchschaut hat, der weiß, welche Opfer zu bringen ihr bereit seid.«

»Das ist nun einmal das Prinzip der Präventiven Archäologie. Sie verdient diesen Namen eigentlich nicht, da gebe ich dir Recht. Denn schließlich geht es dabei nicht darum, die Ausgrabungsstätte zu schützen, oder nur ausnahmsweise, wenn man einen außergewöhnlichen Fund macht. Das Doggerland ist eine mesolithische Enklave inmitten der Moderne, einige von uns würden ihr gerne zu neuem Leben verhelfen, und unsere Zeit gibt uns dafür die Mittel. Unsere Arbeit ist nur insofern präventiv, als wir verhindern, dass Informationen verloren gehen, indem wir Daten erheben, Proben entnehmen, bestimmte Materialien sammeln. Das ist an Land nicht anders. Man baut einen Parkplatz, eine Autobahn, einen großen Kanal, und die Arbeiten werden während der Ausgrabungen ausgesetzt oder verlangsamt, aber es ist immer ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn früher oder später wird alles, oder fast alles, zerstört werden.«

5

Noch ist es nicht hell. Großbritannien und insbesondere die Gebiete im Norden werden von einem Unwetter geweckt, der Sturm belagert die Städte, entstellt die Landschaft, zerrt an ihr, zerquetscht sie, knickt Bäume und Sträucher um, biegt sie zu Boden oder schüttelt sie wie in einem Anfall von Wahnsinn bis zur Besinnungslosigkeit, er reißt heraus, zerbricht, zerstückelt, wirbelt auf und nimmt bei jeder Bö mit, was auf den Straßen, in den Gärten nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht und vergessen wurde, alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Auf den versiegelten Böden der Gewerbegebiete, wo die Kanalisation überfordert ist, die Gullys überlaufen, fließt das Wasser direkt über den Asphalt, unter einem sintflutartigen Regen, der in Böen fast horizontal nach vorne getrieben wird und der bei Kontakt mit Gesicht und Händen gleichermaßen schmerzt, der die Oberflächen ebenso abschleift wie ein Sandsturm an der Küste, der peitscht, abbeizt, erodiert und die Sicht in Strandnähe stark reduziert, während das Meer, etwas verzögert, zum Angriff ansetzt.

Der Orkan hat sich auf seinem Weg zum Festland noch verstärkt. Da zeigt er endlich sein wahres Ausmaß, in Schottland bricht er sogar Rekorde auf dem Anemometer, in den Highlands, wo er auf keine oder nur sehr wenige Hindernisse trifft, erreicht er 220 km/h, da fegt er über die Heide hinweg, oder über das von den Eiszeiten des Quartärs erodierte Relief, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Das wirkt umso übernatürlicher, ja fast wie eine Halluzination, als auf den ersten Blick nichts Spektakuläres zu sehen ist. Doch wer sich vor die Tür wagt, stellt schnell fest, dass es unmöglich ist, einen weiteren Schritt zu tun. Dazu kommt das Tosen, es besteht in diesem hinterletzten Winkel des Planeten, da es keinerlei Verstärkung von außen bekommt, aus einer einzigen Komponente und beschränkt sich auf einen modulierten Heulton. Dieser genügt jedoch, um jegliches Orientierungsvermögen zunichte zu machen und die fünf Sinne durch die Hypertrophie eines einzigen Sinnes zu täuschen. Der Orkan im Rohzustand ist wenig telegen, dafür zeigt er zu wenig Präsenz vor Ort, und er treibt die Seele in eine archaische Form von Verzweiflung, die aus einer Zeit kommt, bevor die Welt in Ordnung gebracht wurde, bevor sie das Chaos hinter sich ließ, in ein Vakuum ohne definierbare Grenzen, einen Zustand, der dem Tod ähnelt, aber noch bevor man geboren wurde, bevor sich die Frage überhaupt stellt, was tot und was lebendig ist, weil die Sinne durchdrehen, weil sie verrückt spielen. Der Sturm räumt auf, macht Tabula rasa, bietet uns eine zweite Chance, denkt Margaret, die Möglichkeit eines Neuanfangs, auf einer neuen Basis. Jeder könnte einen guten Grund haben, ihn zu begrüßen. Bis dann die Realität durch den Hochwasser-Effekt ihrerseits darüber hinwegschwappt.

Von seiner Überquerung der Highlands gibt es keine anderen Bilder als die Amateurvideos, die auf YouTube hochgeladen wurden. Er kam aus Richtung Westen, die Bevölkerung verbarrikadierte sich. Auch wenn er noch so heftig bläst und auf dem Anemometer Rekorde bricht, die Mauern und die Infrastruktur halten ihm stand. Der Sturm hat das Land erobert, aber es gibt niemanden zu besiegen. Mit ihm bricht die bis heute existierende, unkontrollierbare, wilde, zerstörerische Seite der Natur in das Leben der Menschen ein und könnte durch einen Atavismus eine jahrtausendealte Angst in ihnen wecken, aber darüber ist man hinweg. Als er sich in der Nacht mit seinen Vorboten aus Wind und Regen den Küsten nähert – kein Vergleich zu dem, was noch folgen sollte –, hat er erst Irland, dann Schottland zu seinem Spielball erklärt, aber es braucht mehr, um die Nordeuropäer zu beeindrucken, die heute nur deshalb durch Gewerbegebiete, Universitätskliniken oder Geschäftsviertel eilen, weil sie im Zuge eines lange zurückliegenden und langsamen natürlichen Selektionsprozesses ihre Vorfahren überlebt haben. Viele andere vor ihnen hat es dahingerafft, sie litten unter dem Schlamm, der Kälte, der kargen Erde, der nicht enden wollenden Dunkelheit, dem an den Nerven zerrenden Wind und dem Mangel an allem, was man in den Ländern des Südens hatte, wo man sich nur bücken musste, um sich etwas zu nehmen, oder die Hand ausstrecken, um sich etwas abzupflücken. Dazu kamen die Clan-Rivalitäten, die tückische Nordsee, die aus ihnen, da sie keine Wahl hatten und das Hinterland noch unbarmherziger war als das Meer, große Seefahrer machte.

 

Es ist sieben Uhr an diesem Donnerstag, dem 5. Dezember. In St. Andrews schlagen die Wellen gegen den Felsen, brechen sich am Strand von West Sands. Die Gebäude aus Stein ducken sich weg, die Straßen sind menschenleer. Alle, die gerade erst aufgestanden sind, tun sich schwer, die Lage einzuschätzen, und gehen erst einmal ins Internet. Das Backsteinhaus der Familie Ross liegt am südlichen Ende der Altstadt, gegenüber der St. Andrews Church, auf der Seite der Queen’s Terrace. Sie überragt das Bett des Kinness Burn wie ein Felsvorsprung, von dem aus man einen 180-Grad-Panoramablick hat, fast so, als hätte der Felsen, der zum Meer zeigt, seine Entsprechung an Land. Die Gärten ziehen sich terrassenförmig den Abhang hinunter. Vom Wohnzimmerfenster aus geht der Blick über die neueren Viertel der Stadt. Jetzt im Moment hat man allerdings überhaupt keine Sicht, und da die Fenster nicht durch Fensterläden geschützt sind, erzittern sie bei jeder Windbö, als würden sie jeden Moment zu Bruch gehen. Margaret hat bereits gefrühstückt, sich angezogen, sie steht in Socken auf dem pflaumenfarbenen Teppich, in den graue, camelfarbene und weiße Fäden eingeflochten sind, vor dem Fernseher, zwischen Couch und Couchtisch, mit einem Paar schwarzer Stiefeletten mit flachem Absatz in der Hand. Der Nachrichtensender zeigt ein in vier Quadrate aufgeteiltes Bild. Vier Kästchen, die alle ein Eigenleben führen, ergänzt durch ein Insert, in dem das Logo der jeweiligen Presse-Agentur zu sehen ist. Die Moderatorin ist permanent auf Sendung, mal ergreift sie selber das Wort, mal stellt sie ihren Studiogästen Fragen, mal den Korrespondenten, mal lauscht sie schweigend, das Gesicht leicht über ihre Papiere gebeugt, konzentriert sich auf das, was gesagt wird, und hat dabei immer ein Auge auf die verbleibende Sendezeit. Margaret greift nach der Fernbedienung und stellt den Ton lauter. Dann setzt sie sich hin, um sich ihre Stiefeletten anzuziehen, sie tut das mehr oder minder automatisch, wirkt dabei aber leicht gebremst, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, oder als müsste sie einen Gedankengang zu Ende bringen. Auf dem Bildschirm ihr gegenüber wechseln sich jetzt kurze Sequenzen ab, denen man als Zuschauer nur schwer folgen kann, Aufnahmen von neuralgischen Punkten in Großbritannien. Die spektakulärsten werden immer wieder gezeigt, währenddessen werden Wortbeiträge und Fragen aneinandergereiht, ein permanenter Schwall von Kommentaren, nur ab und an hört sie eine Antwort auf eine Frage heraus und sieht den Interviewten im Bild, im nächsten Moment wird er bereits wieder durch Außenaufnahmen ersetzt, als würden Worte nicht genügen, um diese Erfahrung wiederzugeben. Die Beiträge werden kurz gehalten, es gibt viele Schnitte, man springt permanent zwischen den Themen hin und her, schneidet immer wieder neue Aspekte an, so dass Margaret Mühe hat, die Dinge auseinanderzuhalten und die Informationen entsprechend ihrer Wichtigkeit zu ordnen, die parallel geführten Gespräche, die manchmal in keinerlei Zusammenhang zu den Bildern stehen, halten sie davon ab. Zum Glück sagen sie letztendlich alle das Gleiche und wiederholen sich ständig.

Man kann sich dem nur schwer entziehen, es lässt wenig Raum für eigene Gedanken, ist wie ein Strudel. Sie konzentriert sich auf die Meldungen, die am unteren Bildschirmrand laufen, lässt die Bilder außer Acht, oder stellt den Ton leise. Und dann hört sie ihn schließlich selbst über ihrem Haus. Er hat sich über ganz St. Andrews ausgebreitet, kein Dach, keine Straße entkommt ihm. Der Sturm verstärkt seine Umklammerung. Sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll, wie sie sich vor ihm schützen soll, was am besten ist. Soll sie auf ihn lauschen, auf das Geräusch lauschen, das der Sturm draußen macht, oder sein Heulen übertönen, indem sie den Fernseher lauter stellt, in dem die ganze Zeit nur von ihm die Rede ist? Wenn er erst einmal direkt über einem ist, denkt Margaret, wenn man hört, wie er heult, wie er hinter den Mauern sein Unwesen treibt, wenn man beginnt, sich um sein Haus zu sorgen, und dann auch um das vor der Tür geparkte Auto, um die Bäume im Garten, dann könnte man ihn vielleicht durch die Fernsehberichterstattung auf Distanz halten. Der Sturm wäre dann nicht in erster Linie diese reale Sache da draußen, sondern die zugleich dramatisierte und entdramatisierte Darstellung von ihm, welche die Fernsehbilder transportieren. Man könnte diesen Umweg nutzen, um die direkte Konfrontation mit ihm hinauszuzögern, ja, man könnte diese direkte Konfrontation sogar vollends vermeiden, wenn man nicht aus irgendwelchen Gründen dazu gezwungen ist, sich ihr zu stellen, und zugleich wüsste man das Wichtigste über ihn, und würde dieses Wissen mit der Allgemeinheit teilen, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen, man wüsste, nachdem er einmal angekündigt war, welchen Weg er nehmen würde, und wenn er St. Andrews erreicht hätte, würde man ihn nicht mehr von den anderen Sturmtiefs unterscheiden können, die seit Mitte Oktober aufeinander folgten, so wäre er ein Sturm wie jeder andere und man könnte, um sich ein Bild von ihm zu machen, sich ganz auf die Erfahrungsberichte der ersten Zeugen und die Beiträge der Kommentare verlassen. Im Grunde wäre es gar nicht so schlecht, denkt Margaret, wenn er in dem Moment, wo er direkt über der Stadt ist, direkt über einem ist, gefühlt irgendwo anders stattfindet.

Das ändert nur leider nichts daran, dass sie sich dem ganz realen Sturm wird stellen müssen. Sie wird etwas tun müssen, das ihr im Moment völlig irreal erscheint, nämlich sich ans Steuer setzen, bis nach Aberdeen fahren und ein Flugzeug der Luftfahrtgesellschaft BMI besteigen. Ihr Koffer steht im Flur vor der Tür bereit, der Griff ist ausgefahren, darüber liegt ihr Mantel, ein taillierter Mantel aus grau-weiß meliertem Tweed, mit einem Kunstfellkragen, dieser Tweed ist kontrastreicher als der grau-schwarze Tweed ihrer Hose. Er liegt quer über dem Griff und verdeckt den Koffer zur Hälfte, wie eine nach einer Häutung abgeworfene, fleischliche Hülle mit herunterbaumelnden Armen. Sie ist im Begriff, nach Esbjerg zu reisen, in Begleitung ihres Mannes Stephen. Er hält dort einen Vortrag über die Fortschritte der Umweltverträglichkeitsstudien zu zwei von vier geplanten Windparks des Forewind-Konsortiums. Margaret ist bereits fertig, Stephen noch nicht.

Das laute Heulen des Windes zwingt sie, den Ton lauter zu stellen. Sie hat Mühe, die Bilder und Geräusche mit ihrer eigenen Wahrnehmung in Einklang zu bringen. Sie versucht, sich zu konzentrieren. Währenddessen läuft Stephen hinter ihrem Rücken zwischen Küche, Badezimmer und Schlafzimmer hin und her, ab und zu bleibt er vor dem Fernseher stehen und schaut sich die Bilder an. Vermutlich haben sie die gleiche Wirkung auf ihn wie auf sie, er hält nur kurz inne, dann geht er wieder. In seinem Kopf überlagern sich Bilder von ineinander verkeilten Ästen, klaffenden Maueröffnungen, abgedeckten Dächern, Blechschäden, herumfliegenden Dachziegeln, einem von einem Baum eingedrückten Autodach, freigelegtem Wurzelwerk, das man so sonst nie zu sehen bekommt, Lastwagen, die auf der Seite liegen, Rettungswagen mit ausgeschaltetem Blaulicht, Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirenengeheul, überschwemmten Straßen, umgeknickten Strommasten, Katastropheneinsatzkräften in Warnwesten, der roten Bauchbinde, auf der die Eilmeldungen der Agenturen auf dem Bildschirm vorbeiziehen – »Hunderttausend Haushalte ohne Strom«, »Zehntausend Menschen an der Küste von Norfolk evakuiert« –, riesigen, in Geschosse verwandelten Gegenständen, die über die Strandpromenaden getrieben werden, gischtbedeckten Fahrbahnen, abgerissenen Brüstungen, Männern in Schlauchbooten, Männern in Anglerstiefeln, einer zerstörten Kleingartenanlage, vom Licht der Straßenlaternen beschienen, da ist es noch nicht mal hell. Schon sieht man die ersten Staus, die ersten Kranwagen, die ersten Motorsägen, Bahnhofshallen, die sich füllen, Anzeigen, dass keine Züge verkehren, Menschen, die kommen und gehen, die interviewt werden, die eine typisch britische Gelassenheit an den Tag legen, dazwischen ein paar schrille Stimmen und die routinierte Sprecherstimme, die sich in einem ununterbrochenen Fluss über alles legt.

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