Loe raamatut: «Esther und Salomon»

Font:

Für meine (Zug-)Vogelfamilie

Jakob, Ida, Mischa, Mama,

Neneh, Mariama, Susanna, Ben

Die Arbeit an diesem Roman wurde

durch ein Jubiläumsfondsstipendium

der Literar-Mechana gefördert

2021

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Michael Roher

Satz- und Layoutgestaltung: Nele Steinborn, Wien

Schriften: Aldus Nova Pro

ISBN 978-3-7022-3917-6 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3923-7 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Facebook: Tyrolia Verlag Kinderbuch


Wir danken für die Förderung

Elisabeth Steinkellner

Esther
und
Salomon

mit Fotos

der Autorin

und Zeichnungen

von Michael Roher


Inhalt

Esther

Salomon

Esther

Nichts stimmt hier.

Papa und Mama

haben ein Zimmer mit Doppelbett,

aber Papa schläft auf der Couch daneben.

Flippa und ich

haben ein Zimmer mit zwei Einzelbetten,

aber keinen Fernseher.

Valerie ist meine beste Freundin,

aber sie hat sich seit meiner Abreise

nicht mehr gemeldet.

»Es ist langweilig hier«, sage ich,

aber Mama meint:

»Unternimm doch was

mit deiner Schwester!«

Mit Flippa was unternehmen?

Sie ist FÜNF!

Am Frühstückstisch

umweht uns ein eisiger Wind,

der kommt nicht von der Klimaanlage,

jedenfalls nicht nur.

Mama beklagt sich

über den miesen Kaffee,

Papa beklagt sich

über Mamas miese Laune.

Flippa spricht eifrig

mit den Cornflakes in ihrer Schüssel

und ich begutachte den Pickel auf meiner Nase

im blank polierten Buttermesser.

Vielleicht sollte ich mir das Messer

einfach ins Bein rammen,

dann fliegen wir wenigstens

vorzeitig zurück.

Flippa nimmt Anlauf

und springt in den Pool,

im Arm ihr aufblasbares Plastikkrokodil.

Als sie eintaucht,

schlägt das Krokodil dumpf

auf der Wasseroberfläche auf

und treibt dann ein Stück weiter,

einer Frau im knappen Bikini entgegen,

mit der Schnauze berührt es

kurz ihre Brust.

Schnapp zu!,

denke ich,

aber da schiebt die Frau das Krokodil

schon genervt von sich weg

und Flippa kommt prustend

wieder hoch.

Sie kreischt vor Vergnügen

und ruft etwas in meine Richtung,

aber ich kann nur die Bewegung

ihrer Lippen sehen,

ihre Worte gehen unter

im vibrierenden Disco-Sound,

der aus den Lautsprechern dringt.

Wie übersteht man

zwei Wochen,

wenn man sich schon nach

zwei Stunden

genauso verschrumpelt fühlt,

wie manche der Gäste hier aussehen,

vor allem jene,

die auf ihren Pool-Liegen

festgewachsen sind

und wirken,

als würden sie

zum Inventar gehören.


Andere Familien

sitzen abends in einem der vielen Lokale.

Die Erwachsenen trinken Wein

und unterhalten sich,

die Kinder schlecken Eis

oder spielen auf der Promenade

Nachlaufen und Gummitwist

und die Jugendlichen hören Musik

aus ihren Handys und Boxen

und flirten zuerst wild in die Runde,

bevor sie sich schließlich doch noch

zu einzelnen Paaren

zusammenfinden

und sich ein ruhiges Plätzchen suchen –

auf den Terrassen

der kleinen Strand-Imbisse,

hinter einem Felsen

im kühlen Sand,

notfalls neben den Mülltonnen

in den Hinterhöfen der Bars.

Meine Familie

bleibt abends im Hotel.

Die Eltern schweigen

(im besten Fall),

die Fünfjährige malt Meerjungfrauenbilder aus

und plappert unentwegt von Arielle

und die Vierzehnjährige fragt sich,

ob man sich selber

zur Adoption freigeben kann.

Die einzige,

die meine schlechte Laune bemerkt,

ist Flippa.

»Du bist traurig«,

sagt sie.

»Stimmt gar nicht«,

lüge ich.

Sie kriecht zu mir ins Bett,

drängt sich ganz dicht an mich heran

und schlingt einen Arm um meinen Bauch.

»Stimmt sehr wohl.«

»Ich vermisse Valerie,

aber sie mich nicht.«

Ich lächle,

als wäre das keine große Sache,

dabei ist mir nach Weinen zumute.

Aber Flippa kann ich ohnehin

nicht täuschen.

»Soll ich dir was vorsingen?«,

fragt sie sanft.

Ich zucke mit den Schultern,

dann nicke ich

und schließe die Augen.

Flippa packt ihr gesamtes Repertoire

an Gute-Nacht-Liedern aus,

hängt ihre liebsten Disney-Songs dran

und trällert schließlich noch

ein paar selbsterfundene Hits.

Ich atme ruhig und gleichmäßig,

tue so,

als hätte sie es tatsächlich geschafft,

mich in den Schlaf zu singen.

Sie rollt sich vorsichtig aus meinem Bett,

tappt auf Zehenspitzen zum Schalter

und löscht das Licht.

Dann stößt sie einen kleinen Seufzer aus,

als wäre sie die Mutter,

die es endlich geschafft hat,

ihr Baby zum Schlafen zu bringen.

Ich erinnere mich an Tage,

da konnte Papa nicht genug kriegen

von Mama

und sie nicht genug

von ihm.

Sie schwänzelten umeinander herum,

warfen sich vieldeutige Blicke zu

und konnten die Finger nicht

voneinander lassen:

Mama schob ihre Hand

hinten rein in Papas Jeans,

Papa seine unter Mamas Shirt.

In diesen Momenten

zwang mich immer irgendwas,

drei Sekunden lang

wie gebannt zuzusehen,

um dann ganz angewidert wegzuschauen.

Faszinierend und peinlich zugleich

fand ich ihren seltsamen Turteltanz.

Und nun?

Nun frage ich mich,

ob es Monate

oder doch schon Jahre her ist,

seit zuletzt ein solcher Turteltag war.

Und ob ich länger als drei Sekunden

hingesehen hätte,

hätte ich gewusst:

Es ist das letzte Mal.

Wenn sie es mir wenigstens erklären könnten:

Gab es einen großen Knall,

einen erbitterten Streit?

Hatte Papa was

mit einer anderen Frau

oder Mama was

mit einem anderen Mann?

Oder war es ganz anders?

Wehte vielleicht eines Tages

ein kühler Wind zur Hintertür herein?

Kein Orkan, nur eine Brise,

aber sie verfing sich

in den Ecken des Hauses

und fand nicht mehr hinaus.

So kam es, dass die Kühle blieb.

Ein stiller Gast,

anfangs kaum bemerkt,

aber weil niemand ihn aus dem Haus jagte,

richtete er sich

nach und nach

immer mehr ein.

Flippa und ich wollen ans Meer,

aber Mama bleibt lieber am Pool

und Papa sitzt an der Hotelbar.

Ich habe beobachtet,

wie die Barkeeperin versucht,

mit ihm zu flirten,

aber er schaut nur stur in die Zeitung

oder auf sein Telefon.

Wenn er bloß darauf einsteigen

und seine Haare kämmen

und Rasierwasser verwenden würde,

um dieser fremden Frau zu gefallen.

Vielleicht würde Mama dann

eifersüchtig werden

und sich auch ins Zeug legen,

würde in ein enges Kleid schlüpfen

und ihr ansteckendes Lachen lachen.

Das würde wiederum Papa

die Augen öffnen

und schließlich würden sie beide

wieder wissen,

warum sie einander geheiratet haben

und es gäbe ein Happy End

im Sonnenuntergang.

So läuft das doch in den Filmen.


Wir gehen alleine zum Strand.

Es wuselt

wie auf einem Ameisenhaufen

und ich schärfe Flippa ein,

dass sie nicht weglaufen darf,

weil ich sie unter all den Menschen

nie mehr finden würde.

Sie nickt andächtig und ich weiß:

Sie hält sich dran,

wir zwei sind ein gutes Team.

Jeder Streit zwischen Mama und Papa

hat die beiden

weiter auseinander

und Flippa und mich

näher zusammen

gebracht.

Neben uns

sitzen ein paar Mädchen,

vielleicht so alt wie ich,

ständig zücken sie ihre Handys

und machen Fotos

von sich selbst.

Ich sehe ihnen eine Weile zu

und frage mich,

was für sie wohl mehr zählt:

der Moment,

den das Foto festzuhalten versucht,

oder jener,

in dem ihr Post den hundertsten

Like bekommt?

Flippa hat eine Spielkameradin

gefunden,

zusammen buddeln sie im Sand,

graben Kanäle,

schichten Mauern auf

und klopfen sie eifrig fest.

Zwischendurch laufen sie

immer wieder zum Meer

und schöpfen Wasser

mit ihren bunten Kübelchen.

Dann stehen sie,

von oben bis unten

mit Sandmatsch beschmiert,

vor ihrem Bauwerk

und gestikulieren wild –

vermutlich planen sie,

wo welche Prinzessin

ihr Zimmer haben soll

und ob der Drache

in der Höhle nebenan

böse oder freundlich ist.

»Wo sind denn deine Eltern?«

Das Mädchen

sieht mich fröhlich an

und zeigt mit dem Finger

einmal rund um sich

herum.

»Aisha und ich

sind jetzt Freundinnen!«

Flippa hopst so vergnügt neben mir her,

dass ich sofort vergesse,

wie sehr ich mich gelangweilt habe

an diesem Nachmittag.

»Aisha? Ein schöner Name.

Woher kommt sie denn?«

»Aus dem Hotel weiter drüben«,

erklärt Flippa,

»aber stell dir das vor:

Die kriegen dort zum Frühstück

keine Ananas!«

Sie sieht mich empört an

und ich will sie in den Arm nehmen

und ihr sagen,

wie gern ich sie mag.

Stattdessen

streiche ich ihr über die Haare.

»Ich meinte, aus welchem Land

Aisha kommt.«

Flippa zuckt mit den Schultern.

»Vielleicht aus Grönland.

Oder Sandland.

Aber auf alle Fälle

bringe ich ihr morgen

Ananas mit!«

Sie hopst voraus

und die Glücksspur,

die sie hinter sich herzieht,

reicht bis zu mir,

reicht für uns beide

und reißt erst ab,

als wir ins Hotel kommen

und die genervten Gesichter

unserer Eltern sehen.

Ich möchte Mama und Papa

ins Publikum setzen

und sie zwingen,

sich ihr eigenes Trauerspiel

anzusehen:

die lautstarken Streitereien,

das vorwurfsvolle Schweigen,

die wütenden Anklagen,

die verächtlichen Blicke.

Möchte beobachten,

wie sich auf ihren Gesichtern

Entsetzen breitmacht,

und sie dann fragen:

Spürt ihr jetzt,

wie weh uns das tut?

Begreift ihr nun,

dass all die bösen Worte,

die ihr aufeinander abfeuert,

auch die Umstehenden verletzen,

Flippa und mich?

Und dass es große Wunden sind,

die immer wieder aufklaffen

und für die kein kleines Pflaster reicht,

das man schnell mal draufklebt,

wie nebenbei?


Quizfrage:

Wer oder was

trägt die größte Schuld?

der Alltag

die Langeweile

die Überforderung

die Unachtsamkeit

der Stress in der Arbeit

die Schwiegereltern

Papas Bauchansatz

Mamas Orangenhaut

Papas Arbeitskollegin

Mamas Schulfreund von früher

Oder doch:

die zwei Kinder

die versorgt werden müssen

im Weg sind

ständig etwas brauchen

Zeit

Verständnis

Liebe