Loe raamatut: «Ledige Kinder»

Font:

ELISABETH UHLEMANN

LEDIGE KINDER

Erzählung

Imprint

Ledige Kinder

Elisabeth Uhlemann

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Elisabeth Uhlemann

ISBN 978-3-8442-5524-9

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Titelgestaltung: Erik Kinting

Ich danke meinem Freund Juerg Nutz, der mir seine Tagebuchaufzeichnungen für meine Erzählung zur Verfügung gestellt und in zahlreichen Gesprächen meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hat. Die unerwartete Begegnung mit ihm motivierte mich, eine Geschichte zu schreiben, in die seine und meine Kindheitserlebnisse eingeflossen sind.

Herrn Erik Kinting bin ich für seine zuverlässige Betreuung und Ansprechbarkeit außerordentlich dankbar.

Inhaltsverzeichnis

Imprint

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Teil

1

Susanne Ende 1949

2

Susanne 2009

3

4

Susanne 1949

5

Susanne 2009

Susanne 1950

Susanne 2009

Susanne 1954

Susanne 1955

6

Susanne 2009

Ralph 1951

Susanne 2009

7

Zweiter Teil

1

Susanne 1952

Susanne 1954

2

Susanne 2009

Susanne 1953

3

Susanne 2009

4

5

Susanne 1957

6

Susanne 2009

7

Susanne 2009

8

Dritter Teil

1

Susanne 2007

Ralph 2006

2

Susanne 2009

Ralph 2008

3

4

Vierter Teil

1

Ralph 2008

2

3

Ralph 2009

Fünfter Teil

1

Susanne 2009

2

3

4

5

6

7

8

Vorwort

Im Sommer des Nachkriegsjahres 1947 werden im deutschen Südwesten kurz nacheinander zwei Kinder geboren: Ralph und Susanne. Flirrende Hitze lässt die beiden jungen Mütter im nahegelegenen Wald Schutz suchen, am Fluss, in Badezubern, alles andere ist nahezu unerträglich. Ruth ist 19 Jahre alt, Theresia 23. Sie sind Freundinnen, zusammengekommen durch die Wirren des Krieges und der schwierigen Zeit danach. Gemeinsam tragen sie das Los, keine Männer zu haben, die sich zu ihnen und ihren Neugeborenen bekennen. Sie müssen ertragen, dass man ihnen die Schande nicht verzeiht, die sie über ihre Familien gebracht haben. Ihre täglichen Begleiter heißen Scham und Schuld.

Die Kriegswirren sind noch nicht verheilt, Lebensmittel rationieren die Ernährung, man ist arm. In vielen Familien herrscht tiefe Trauer um den Verlust des Sohnes, Bruders, Ehemannes. Theresia hat in den letzten Kriegstagen Bruder und Schwager verloren, gefallen für Volk und Vaterland. Trauer und Verzweiflung sind allgegenwärtig.

Die beiden Kinder, Ralph und Susanne, erleben einen Teil ihrer Kindheit gemeinsam. Sie wohnen nicht weit entfernt voneinander, begegnen sich auf den alltäglichen Wegen. Später treffen sie sich auf dem Schulweg, den Spielorten der Umgebung. An den Sonntagen gibt es gemeinsame Unternehmungen mit ihren Müttern: Schlittenfahrten im Winter, Schwimmbadbesuche im Sommer, Wanderungen, Spaziergänge.

1961 gehen ihre Wege auseinander. Ihre Mütter haben zeitgleich gefunden, wonach sie so lange sehnsüchtig gesucht hatten: einen Ehemann. Endlich können sie das anständige Leben führen, das einer Frau in jener Zeit angemessen ist: Endlich Ehefrau und Mutter sein und damit die Wertschätzung erfahren, auf die sie so lange verzichten mussten. Vergessen ist nun der grausame Makel der unehelichen Mutterschaft.

Nach fünfundvierzig Jahren, im Jahr 2006, kommen Ralph und Susanne wieder zusammen. Sie sind Fremde und fühlen sich doch vertraut; langsam nähern sie sich einander an und tauschen sich aus über ihr Leben, das unterschiedlicher kaum hätte verlaufen können. Die Begegnung gestaltet sich interessant, gefühlvoll und aufregend. Sie erinnern sich gemeinsam und begleiten sich als Freunde auf dem weiteren Lebensweg. Einem kurzen Weg für Susanne, der nicht mehr viel Zeit bleibt …

Erster Teil
1
Susanne Ende 1949

Die Schlangen sind zart hellgrün auf cremefarbenem Grund. Ein leichter Glanz soll die Tapete elegant erscheinen lassen. Es gelingt mir nicht, die Schlangen zu zählen, weil es ein Endlosmuster ist, dennoch fange ich immer wieder von vorn an. Ein Auge zuhalten hilft auch nicht weiter. Wenn nur die Zeit schneller verginge, bis Mama endlich nach Hause kommt. Oma und sie hatten wieder Streit, deshalb kommt Oma mich nicht in die Stube holen. Warum werde ich bestraft, wenn sie mit Mama Streit hat? Natürlich sollte es mich gar nicht geben — niemand hat mich gewollt. Das habe ich schon verstanden, aber was kann man tun? Ich bin nun einmal da.

Das Zimmer mit dem Ehebett, in dem ich mit meiner Mutter schlafe, erscheint mir riesig. Gegenüber steht die Kommode mit dem dreiteiligen Spiegel, in dem man sich von allen Seiten sehen kann. Rechts davon ist die Tür zum Schlafzimmer von Oma und Opa, die aber immer verschlossen ist. Dahinter höre ich Oma husten und Opa manchmal schnarchen. Zum Fenster hin ist Platz für noch ein Zimmer. Da stehen zwei Sessel und ein kleiner Tisch. An einer Wand ist eine Liege, über die eine Decke gebreitet ist. Wenn Besuch kommt, darf der darauf schlafen. An der gegenüberliegenden Seite ist unser großer Kleiderschrank. Zwei Fenster öffnen sich zum Hinterhof hinaus. Eine Wäscheleine ist an unserem und am Nachbarhaus befestigt, da hängen wir unsere Wäsche auf, wenn nicht Frau Storz ihren Waschtag hat.

Wenn Mama da ist, ist alles gut. Allein ist mir so langweilig und ich kann nichts dagegen tun. Meine geröteten Augen fallen jetzt immer öfter zu, Tränen laufen über meine fiebrigen Wangen, der böse Husten hat mich erschöpft. Ich bin noch nicht einmal drei Jahre alt.

Ein ganzer Tag ist eine Ewigkeit, denn es gibt keine Ablenkung. Meine Liesel festhalten ist alles, was ich tun kann. Liesel ist meine Stoffpuppe, Lumpenliesel sagt Mama zu ihr, manchmal lege ich sie unter mein Gesicht. Sie ist ganz nass von meinen Tränen. Der Husten will nicht aufhören, der ganze Körper schmerzt, atmen fällt schwer. Ich weine in die Kissen, kann mich nicht mehr beruhigen. Ich weiß, dass ich ein böses Kind bin, denn der Streit war wieder meinetwegen. Ich habe das nicht gewollt, immer bin ich schuld, schuld, schuld. Die Verzweiflung wird unerträglich, der Hals schmerzt, schlucken geht kaum noch. Die grünen Schlangen auf der Tapete tanzen jetzt. Sie werden immer größer und lösen sich von der Wand ab. Ich versuche zu schreien, aber aus dem wunden Hals kommt kein Ton heraus und die Tür ist fest verschlossen. Schließlich schlafe ich vor Erschöpfung ein.

2
Susanne 2009

In den nächsten Wochen wird es soweit sein. Die Entscheidung habe ich getroffen, der Entschluss steht fest. Die Einzelheiten muss ich noch festlegen, aber das ist unbedeutend: Ich bin Apothekerin und kenne mich aus mit der Dosis letalis der infrage kommenden Substanzen. Endlich fühle ich eine köstliche Ruhe in mir. Bevor ich in der Lage war, diese endgültige Entscheidung zu treffen, raste mein Herz und von meinen Händen troff kalter Schweiß, ich war hin und her gerissen. Das Wechselbad aus Angst und Verzweiflung vergiftete meine Tage.

Lange quälte ich mich mit der Frage: Durchhalten bis zum bitteren Ende oder rechtzeitig das Ende selbst herbeiführen? Das ist eine schlimme Geschichte. Solange man sich wohlfühlt, kann man es sich nicht vorstellen, denn die Verzweiflung der üblichen Selbstmörder besteht ja keineswegs. Die Selbsttötung existierte bisher auch nicht in meinem Gedankengut. Natürlich, jeder denkt einmal in einer schwierigen Lebenssituation, er könnte sich umbringen. Dabei stellt man sich in der Regel nichts Konkretes vor. Aber mittlerweile habe ich eine Ahnung davon, was noch alles auf mich zukommen wird — und das macht mir Angst, höllische Angst. Unerträgliche Schmerzen, medizinischem Personal ausgeliefert, das vielleicht lustlos ist, sich überarbeitet und unterbezahlt fühlt und seine schlechte Laune an mir auslassen wird.

Während der vielen Stunden, die Matthias bei der Arbeit oder auf dem Tennisplatz verbrachte, blieb mir viel Zeit, mich um alles zu kümmern. Die Apotheke ist verkauft. Meine Nachfolger scheinen ihre Arbeit zu beherrschen, denn selten wenden sie sich an mich, um meinen Rat einzuholen. Einige Stammkunden erkundigen sich nach mir, das schmeichelt meiner Eitelkeit. Und doch stelle ich fest, dass Idealismus und Ehrgeiz kaum noch eine Rolle in meinem Leben spielen. Es erscheint mir heute geradezu lächerlich, welch große Bedeutung ich meinem Beruf und früher dem Studium beigemessen habe; wie ernsthaft und pflichtversessen ich tagein tagaus meinen Beruf ausgeübt habe. Wie viele Seminare und Fortbildungsveranstaltungen glaubte ich absolvieren zu müssen, um in unserer schnelllebigen Zeit auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bleiben.

Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegensieht, irritiert mich. Ich weiß, es ist mein eigenes, aber in den letzten Monaten veränderte es sich dermaßen, dass ich mich morgens kaum traue die Augen aufzuschlagen, vor dem gnadenlosen, unbarmherzigen Spiegel. Andererseits bin ich jetzt endlich dünn. Mein Gesicht zeigt ein schmales Oval, wie früher, als ich noch sehr jung war und häufig den Spiegel befragen musste, ob es sich bei diesem Gesicht tatsächlich um meines handelte. Die Falten habe ich mir schlimmer vorgestellt. Bringe ich ein Lächeln zustande, gefalle ich mir sogar ein wenig.

Abgemagert, wie ich jetzt bin, müsste ich endlich auch meinem Mann gefallen, der sich seit vielen Jahren über meine Leibesfülle beklagt. Seit er meine fatale Diagnose kennt, wirkt er hilflos und scheint sich gefühlsmäßig totzustellen. Er kann meine Angst und mein Leid nicht ertragen. Wie schön wäre es, dieses Schicksal gemeinsam zu tragen, Hand in Hand dem Schrecken begegnen. Aber das können wir nicht. Lange schon haben wir es verlernt, miteinander zu fühlen und über uns zu sprechen. Er flieht in sportliche Aktivitäten, in seine Arbeit und leidet doch — still vor sich hin.

Ist es feige von mir, vor den Schmerzen in den Tod fliehen zu wollen? Vielleicht. Während meiner Kindheit und Jugendzeit, bis weit in das Erwachsenenalter hinein, kannte ich einen inneren, bohrenden Schmerz, eine Art Verzweiflung, die mich ständig begleitete. Dieser quälende Zustand vergiftete mein Leben und mein Lieben. Er nahm in meiner Seele so viel Raum ein, dass für Wichtiges oft kein Platz war. Für eigene Kinder zum Beispiel, die ich mir in einem anderen Teil meiner Seele so sehr gewünscht hatte.

Jetzt, wo ich diesen Schmerz überwunden glaubte, kommt dieser Krebs und frisst mich von innen auf, wird mir mein Leben zur Hölle machen. Das kann ich nicht aushalten, ich will es nicht ertragen, alles in mir lehnt sich dagegen auf. Freilich, wenn es so weit ist, kann es schwierig werden. Mir fällt meine Kinderfreundin Ilse ein. Als Erwachsene hatten wir uns lange schon aus den Augen verloren. Doch eines Tages machte sie mich ausfindig und suchte meinen fachmännischen Rat. Sie litt an Lungenkrebs — austherapiert, wie sie mir erklärte — und wollte von mir die notwendige Dosis der gesammelten Schlaftabletten wissen, um ihren Leidensweg abzukürzen. Später erfuhr ich, dass ihre Mutter ihr auf dem Sterbebett die letzte Zigarette gehalten hat, weil sie zu schwach dafür war. Die Tabletten blieben unangetastet.

Ilse Rieger … ihre Eltern besaßen eine große Gärtnerei, nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Als Kinder und in der frühen Schulzeit spielten wir gern miteinander. Der Familienbetrieb schluckte alle Zeit und Energie ihrer Eltern, und Ilse war sich selbst überlassen. Außer einer alten Tante kümmerte sich kaum jemand um sie. Wollte man mit ihr spielen, musste man in der sengenden Sommerhitze mit ihr Beeren lesen. Abends bekam ich als Belohnung eine Papiertüte voll mit unverkäuflichem, oft auch ungenießbarem Obst geschenkt. Ihre Mutter galt als tüchtige Geschäftsfrau, ich mochte sie nicht.

Als wir achtunddreißig Jahre alt waren, und sie sich an mich erinnert hatte, um sich meines pharmakologischen Wissens zu bedienen, erzählte sie mir von ihrem, wie sie es nannte, verpfuschten Leben. Sie hatte versucht, auf vielfältige Weise der mütterlichen Gewaltherrschaft zu entkommen. Dabei hatte ihr Weg sie ins Ausland geführt. Drogen, Alkohol und gewalttätige Männer begannen sie immer mehr zu zerstören. Eine ungewollte Mutterschaft brachte sie wieder zu sich und in die alte Abhängigkeit von ihren Eltern. Sie wurde zur Kettenraucherin, die immer nur Liebe und Geborgenheit gesucht hatte.

Es war ein schöner, warmer Spätsommernachmittag. Wir saßen auf meinem Balkon, tranken Kaffee und rauchten — eine Zigarette nach der anderen. Ilse sah aus wie eine alte Frau, ich konnte ihr kaum ins Gesicht schauen. „Schau mich nur an“, sagte sie, „ich bin auch gekommen, um dich zu warnen: Hör auf mit dem Rauchen, ehe es zu spät ist.“ Damals rauchte ich jeden Tag eine ganze Schachtel Zigaretten und lebte mit schlechtem Gewissen — in der ständigen Angst vor Krebs, Herzinfarkt und anderen Scheußlichkeiten. „Warum sollte ich jetzt aufhören?“, fragte sie mich, „jetzt, wo alles zu spät ist.“ Ihre Mahnung, sie als abschreckendes Beispiel zu nehmen, nützte nichts, ebenso wie der gesetzlich verordnete Hinweis auf den Zigarettenschachteln auf einen frühen Tod.

Erst einige Jahre später konnte ich endlich damit aufhören. Matthias hatte schon immer unter meinem Laster gelitten und es kaum ertragen. Wie oft hatten wir uns deshalb in heftige Streitereien verkeilt. Der Lungenkrebs ist mir erspart geblieben, der Herzinfarkt auch, meine beiden Beine sind auch nicht dem Raucherschicksal zum Opfer gefallen. Dafür wächst ein anderer Tumor in meinem Bauch; breitet sich aus wie ein Hefekuchen und hat schon viele kleine Küchlein geboren.

3

Mit der üblichen Begrüßung kommt mein Mann nach Hause, wirft seine Aktentasche in die Ecke und hängt seine alte Lederjacke an die Garderobe. Es gibt eine kleine Umarmung und ein zartes, keusches Küsschen auf den Mund — das Minimum an Zärtlichkeit, das wir uns als Ritual bewahrt haben, um nicht völlig in die Lieblosigkeit der verbrauchten und ausgezehrten Langzeitehe zu verfallen.

„Wie erging es dir heute?“, fragt er und auch das entspricht unserer Routine. „Danke, es geht, und dir? Wie war dein Arbeitstag?“ — „Ach das Übliche, du weißt schon … “ Natürlich weiß ich das, was soll schon sein. Er liebt es nicht, von seiner Arbeit zu erzählen, ganz anders als ich. Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt aber nichts mehr zu erzählen. Ich habe den Kaffee vorbereitet und seinen Lieblingskuchen gebacken. Es ist Freitag und er freut sich auf sein freies Wochenende. „Gehst du heute Tennisspielen?“, frage ich und weiß doch schon die Antwort. Wie jeden Freitagnachmittag wird er sich mit seinen Tennisfreunden und Tennisfreundinnen treffen. Eine Welt, zu der ich nie einen Zugang hatte, weil er mich daran nicht teilhaben ließ. Mit meiner Eifersucht musste ich immer allein zurechtkommen.

Er legt sich auf sein Sofa, um einen kleinen Nachmittagsschlaf zu halten. Danach wird er für viele Stunden ausgehen — Tennis spielen, über Tennis reden, essen, trinken und Spaß haben. Der sprachlose Zustand, in den wir uns seit dem Bekanntwerden meiner Krankheit selbst versetzt haben, entsetzt mich. Als wäre ich nicht mehr ich, als hätte er Angst vor mir. Früher mied man die Krebskranken, weil man an Ansteckung glaubte; noch früher sah man in der Krankheit wahrscheinlich eine Strafe Gottes für die Sünden, die man begangen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob davon nicht doch noch etwas übrig geblieben ist.

Früher war ich überzeugt, unter Liebenden gäbe es keine Schranken. Das stimmt bei uns schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt jemals so war. Aber warum auch sollte ich ihm den Tag verderben, über meine Ängste und Schmerzen klagen, über meine Verzweiflung reden? Ich bleibe jetzt am liebsten allein. So kann ich ungestört meinen Gedanken und Erinnerungen nachhängen, alte Fotoalben betrachten und in den Tagebüchern von früher lesen. Mein Leben entfaltet sich vor mir und ich nehme Abschied. Abschied von der fünfzehnjährigen Susanne, in deren Tagebuch ich lese: Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich nicht immer so wütend werde. Ich will das nicht, das weißt du, aber wenn sie mich so ärgert, könnte ich sie umbringen. Sie ist so gemein zu mir. Immer dreht sich alles nur noch um Martina, um Herbert und Martina, aber ich bin doch auch noch da. Helfe ich ihr denn nicht schon genug? Ihr reicht es nie, sie ist nie mit mir zufrieden. Oft möchte ich nur noch schreien, laut schreien, dass alle mich hören. Lieber Gott, ich will sie ja lieben und nicht immer so böse Gedanken gegen sie haben. Bitte hilf mir dabei, sie ist doch meine Mutter. Du sagst, man muss Vater und Mutter ehren und lieben, auf dass es mir wohlergehe. Ja, das will ich auch, aber sie macht es mir oft so schwer.

Ich betrachte die Fotos der letzten dreißig Jahren mit Matthias. Die vielen Bilder von unseren Urlaubsreisen, deren Qualität durch unsere lächerlichen Streitereien oft dermaßen gelitten hat, dass ich mir danach vornahm, keinen gemeinsamen Urlaub mehr mit ihm zu verbringen. Mit den Jahren nahm die Anzahl der Fotografien ab. Da ich mich mit seinen Augen sah, gefiel ich mir auf den Fotos immer weniger. Mit den Jahren passten sie nicht mehr zu dem inneren Bild, das ich von mir hatte und das in der Entwicklung nachhinkte. Matthias ging es ebenso, er fühlte sich gar von mir betrogen, weil ich mich veränderte. Weil ich das Versprechen nicht halten konnte, das ich ihm nie gegeben hatte, die junge, attraktive Frau zu bleiben, die er vor über dreißig Jahren kennengelernt hatte. Ich glaube, das nimmt er mir bis heute übel.

Es ist spät in der Nacht, als Matthias nach Hause kommt. Wie immer habe ich schnell das Licht gelöscht und mich schlafend gestellt — er soll nicht das Gefühl bekommen, sich rechtfertigen zu müssen. Da wir seit einigen Jahren in getrennten Zimmern schlafen, ist alles viel einfacher geworden. Ich bin allein mit meiner Wut, Enttäuschung und Eifersucht, der steten verhassten Begleiterin in meinem Leben. Mein Misstrauen ist chronisch und unheilbar, gespeist aus der Angst, verlassen oder ausgetauscht zu werden. Am liebsten möchte ich mit der kleinen Susanne betteln: Lieber Gott, bitte, bitte hilf mir …

Zu allem Übel habe ich mir noch eine Erkältung zugezogen, ein Zustand, den Matthias als Bedrohung empfindet, wegen der Ansteckungsgefahr. Durch die erfolglose Behandlung meiner Krebserkrankung ist meine Immunabwehr noch erbärmlicher, als sie es früher schon immer gewesen ist, und jeder Luftzug erzeugt jetzt Halsschmerzen.

Schlaflos, einsam und verlassen, wie ich mich fühle, denke ich an Krankheitstage in meiner Kindheit. Diese Erinnerungen sind unlösbar verbunden mit Oma. In ihrer Zeit musste sie ihre Kinder großziehen — ohne den raschen Gang zum Arzt oder Apotheker; ohne die fiebersenkenden Zäpfchen und den Antibiotikasaft und andere, zum Teil fragwürdige Mittel. Kinder konnten sterben … an Diphterie, Scharlach und sogar an den Masern. Es lag auch am Einsatz der Erwachsenen, ob das kranke Kind eine Chance hatte zu überleben. Oma setzte sich für mich ein. Sie machte mir die Brustwickel, die Quark- und Kartoffelsäckchen und als Ultima Ratio: Senfwickel gegen die Bronchitis, die wie ein Höllenfeuer meine zarte Haut verbrannten. Gegen Fieber halfen Wadenwickel. Sie kochte mir den ungenießbaren Zwiebelhustensaft und andere, widerlich schmeckende, aber heilsame Arzneien. Sie bettete mich auf das Sofa in der Wohnstube, damit ich nicht so allein war. Liebe Oma, dafür hast du dir einen Platz im Himmel verdient — abgesehen von den vielen anderen Gründen. Außerdem sind die vielen Gegrüßet seist du, Maria gar nicht zu zählen, die du im Lauf deiner dreiundachtzig Lebensjahre als Stoßgebete zum Himmel hinaufgeschickt hast. Die können nicht alle unerhört geblieben sein. Mich zu lieben und anzunehmen, war ihr in meinen ersten Lebensjahren nicht möglich. Zu sehr war sie gekränkt durch die Schande, die meine Mutter über die Familie gebracht hatte. Mit der Zeit wurde sie milder und ihr Mitleid mit mir stärker, denn es war offensichtlich, dass ich von meiner Mutter nicht immer gut behandelt wurde.

Unerträglich lange zogen sich die Krankheitstage hin und auch Oma konnte sie mir kaum verkürzen. Das hätte meine Mutter gekonnt, wäre sie da gewesen. Das war sie aber meist nicht, denn sie musste arbeiten, und wenn nicht, beschäftigten sie viele andere Dinge, die wichtiger, sehr viel wichtiger waren als ich. So wartete ich auf sie, meine ganze Kindheit über wartete ich auf Mama. Voller Ungeduld, erregt auf dem kleinen Fußschemel hin und her trippelnd, sah ich zum Fenster hinaus, hinauf zum Waldeck und versuchte, allein durch mein Wollen, die geliebte Gestalt herbeizuzwingen. Wenn sie dann in ihrem flatternden Sommerrock oder im Winter mit dem roten Wollmantel um die Ecke kam, steigerte sich meine Vorfreude auf ihr Kommen zur Hysterie. Oma sagte dann: Kind, du wartest auf deine Mutter, und wenn sie dann endlich kommt, schimpft sie dich ja doch bloß aus. Das ist wohl wahr, liebe Oma, und doch habe ich dich für solche Sätze gehasst.

Paulina Agathe war eine schwermütige Frau und litt unter ihrem Leben, dem Schicksal und ihrer Familie, solange ich sie kannte. In diese leidvolle Welt schloss sie mich ein. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären“, hörte ich sie oft klagen, dabei konnte ich mir unter dem Himmel gar nichts vorstellen. Oma hatte jedoch auch andere Seiten. In Fragen der Moral war sie unerbittlich, die Autorität der katholischen Kirche absolut. Oft hatten sie Streit, meine Mutter und sie. Während die Tochter sich schnell in heillosen Zorn hineinsteigerte und in der Erregung dann schrie, sagte Oma ihre bösen Sätze spitz und leise. Nie erhob sie die Stimme, während ein zynisches Lächeln ihre schmalen Lippen auseinanderzog. An ihrem Sarkasmus konnte man abprallen, wie an einer gläsernen Wand.

Für mich war sie der verlässliche Hafen, den ich immer anlaufen konnte. Nachdem es einiger Zeit bedurft hatte, mich als Enkeltochter anzunehmen, war sie für mich da. Ich gehörte nicht zu den Schlüsselkindern, die es in der Nachkriegszeit häufig gab. Ich war privilegiert, denn ich wusste immer, wo ich sie finden konnte. Der Radius ihrer Aktivitäten war für mich überschaubar. Begab sie sich außerhalb dieser kleinen Welt, musste ich mitkommen. Ohne sie kann ich mir meine Kindheit nicht vorstellen, denn sie war immer da. Paulina Agathe … was für ein schöner Name für eine Großmutter, die immer schon alt war. Bei meiner Geburt war sie in meinem Alter und fühlte sich vom Leben misshandelt. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären.“ Ja, Oma, von dir habe ich gelernt, dass das Leben ein Jammertal ist, dem ich jetzt entfliehen werde. Ich hoffe, du hattest recht und wartest da oben auf mich.

Meine Großmutter fühlte sich ihr ganzes Leben lang als Opfer: Opfer der zwei Weltkriege, der Geldentwertung, der Heirat mit dem falschen Mann, dem Verlust von Sohn und Schwiegersohn — gefallen im Zweiten Weltkrieg. Sie kümmerte sich um deren Frauen und Kinder, die bei ihr ein- und ausgingen. Die jüngste Katastrophe hatte meine Mutter mit meinem Erscheinen über die Familie gebracht. All das konnte Paulina Agathe kaum mehr ertragen. Ihr ausgemergelter Körper, bei dem die papierdünne Haut sich über das beinahe sichtbare Skelett spannte, wollte kein Gewicht zulegen. Da half auch die zusätzliche Butterration nichts, die als Fettaugen in ihrem Malzkaffee schwamm. Ihr chronischer Husten mit dem ekelerregenden Auswurf zehrte all ihre Energie auf.

Geboren 1887 in einem kleinen Dorf auf der Baar, dieser imposanten Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, verlor Paulina Agathe im Alter von acht Jahren ihre Mutter. Als einziges Mädchen musste sie den schwermütig gewordenen Vater, der nicht über den Tod seiner Frau hinwegkam, und den drei Brüdern den Haushalt führen. Nebenher besuchte sie die Schule, die ihr wichtig war. Eine lieblose Tante brachte ihr das Nötigste bei und unterstützte sie notdürftig. Mein Urgroßvater, der sich immer mehr in seine Melancholie flüchtete, vernachlässigte zunehmend seine Arbeit und schrieb Heimatgedichte. Als Kind war ich auf einem Schulausflug sehr stolz, meinem Lehrer und den Mitschülern auf dem annähernd tausend Meter hohen Lupfen ein Gedicht meines Urgroßvaters vorzulesen, das in die Holzwand des alten Gipfelturms eingeschnitzt war. Er hatte seiner Tochter eine großzügige Aussteuer versprochen, wenn sie einmal heiraten werde. Wichtig waren zunächst die Söhne, sie mussten eine Existenz aufbauen. Zu der Aussteuer kam es nicht, das Geld wurde entwertet, und sie ging leer aus. Der Mann, den sie sich erwählt hatte, brachte ihr auch keinen Wohlstand. Er war ein einfacher Transportarbeiter, ehrlich, fleißig und kinderlieb, jedoch nicht so ehrgeizig, wie sie ihn gerne gesehen hätte. Der Erste Weltkrieg erschütterte ihr Leben, sie blieb mit zwei kleinen Kindern — Karl und Maria — allein, während ihr Mann in den Krieg an die Westfront ziehen musste. Stets musste sie das Schlimmste befürchten, doch er hatte Glück, wurde bald leicht verwundet und als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof verpflichtet. Wohlgenährt und mit einigen Kenntnissen der französischen Sprache kam er nach Kriegsende nach Hause. Omas Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Grimasse, wenn sie über seine ‚französische Bäuerin’ sprach, die es wohl in jeder Hinsicht gut mit ihm gemeint habe. Opa verzog keine Miene und schwieg. Ihr Lieblingsbruder, mein Großonkel Albert, kam als schwerkranker Mann aus diesem schrecklichen Krieg zurück. Wenn ich Oma manchmal begleiten durfte, wenn sie ihre Verwandtschaft besuchte, fürchtete ich mich vor ihm, denn er schien mir unberechenbar. Einmal war er freundlich und zugewandt, das nächste Mal versteckte er sich auf dem Heuboden und schrie herunter: „Warum nur hast du das Kind mitgebracht, bring es weg!“ Oft weinte er. Manchmal schrie er auch herum und war dann richtig böse. Tante Marie, seine schöne Frau, verwöhnte mich umso mehr mit Kuchen und Süßigkeiten. Sie erklärte das Verhalten ihres Mannes mit seinen schrecklichen Kriegserfahrungen. Der ältere Bruder, Onkel Adolf, hatte den elterlichen Hof geerbt und war ein wohlhabender Mann. Bei ihm gab es Säue und Kühe, Hühner und Enten und den unvergleichlichen Geruch, den ein Stall mit angrenzendem Misthaufen verströmt. Ich fühlte mich wohl, der Tiere wegen. Von meinem Großvater wusste ich aber, dass die ‚reiche Verwandtschaft’ seiner Familie während der Hungerszeit nicht mit Nahrungsmitteln ausgeholfen hatte, obwohl es ‚denen’ leicht möglich gewesen wäre. Deshalb begleitete er seine Frau nie, wenn sie ihren Heimatort besuchte — er wollte von einer solchen Verwandtschaft nichts mehr wissen. Also begegnete auch ich Onkel Adolf mit großen Vorbehalten. Dennoch gehörte es zu den besonderen Ereignissen meines Kinderlebens, wenn ich Oma begleiten und mit dem großen Postauto die weite Reise unternehmen durfte.

Im Gegensatz zu unserer vom Jugendwahn befallenen Gesellschaft wollte Oma nicht jung sein. „Schmieren und salben hilft allenthalben“, spottete sie angesichts der Verwendung der aufkommenden Kosmetika. Nivea-Creme galt ihr schon als ungebührlicher Luxus. Sie hütete sich vor den Strahlen der Sonne, denn das mache alt und hässlich, was man an den armen Bauersfrauen ja sehen könne. In gewisser Weise war sie jedoch unglaublich eitel: Eines nachts wachten meine Mutter und ich gleichzeitig auf und meinten, prasselnden Regen zu hören. Da schrillte ihre Stimme bereits voller Panik: „Das ist kein Regen“, während sie aus dem Bett sprang und die schweren Vorhänge zurückzog. Entsetzt sah ich von der Veranda der Nachbarn lodernde Flammen am hölzernen Rahmen unseres Fensters emporzüngeln. Sofort begann sie laut zum Fenster hinaus zu schreien: „Feurio, feurio!“ So peinlich ich das auch fand, es funktionierte, denn irgendjemand verständigte die Feuerwehr. Wir stürmten in das Schlafzimmer der Großeltern. Opa zog sich ruhig an und Oma saß auf der Bettkante, unschlüssig, was sie denn nun anziehen sollte. Das Nachbarhaus, nur durch eine dünne Holzwand von dem unseren getrennt, brannte lichterloh, zu uns schlugen die Flammen durchs Fenster hinein und Oma überlegte, was sie anziehen sollte! Die Feuerwehrleute machten ihrer Unschlüssigkeit ein Ende und evakuierte uns. Ich stand mitten in der Nacht im Nachthemdchen vor dem brennenden Haus auf der Straße. Bei den Nachbarn kam ich unter, Frau Storz bettete mich auf ihr Sofa im Wohnzimmer. In unserem Schlafzimmer konnte man danach wochenlang nicht schlafen, der Gestank nach kaltem Rauch und Feuchtigkeit war unerträglich.

3,49 €