Loe raamatut: «Kullmann und die Schatten der Vergangenheit»

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Elke Schwab

Kullmann und die Schatten der Vergangenheit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

TEIL I 2004

TEIL II 1993

TEIL III 2004

TEIL IV 1993

TEIL V 2004

TEIL VI 1993

TEIL VII 2004

TEIL VIII 1993

TEIL IX 2004

TEIL X 1993

TEIL XI 2004

Impressum neobooks

TEIL I 2004

Elke Schwab

Kullmann und die Schatten der

Vergangenheit

Kullmann-Reihe 5

Dieser Krimi ist die überarbeitete Auflage des Originals:

Tod am Litermont

Kullmann

und die Schatten

der

Vergangenheit

Kullmann-Reihe 5

Elke Schwab

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2019

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Elke Schwab

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Es fiel Arthur Jennewein mit jedem Mal schwerer, der traurigen Wahrheit ins Auge zu sehen, wenn er vor den Überresten stand, die einmal ein Reitstall gewesen waren. Lediglich an Teilen der Fassade konnte er erkennen, dass in diesem hölzernen Trümmerhaufen früher Pferde gestanden hatten. Die umliegenden Bäume und Sträucher waren in die Höhe geschossen, die kläglichen Überreste von außen nicht mehr sichtbar. Nur wer von dem Pferdestall wusste, fand den Weg dorthin. Mit schwermütigen Erinnerungen an die früheren Jahre seiner Familie ließ er den Blick über den Ort schweifen, in den er große Erwartungen gesetzt hatte – die Hoffnung, seine Tochter Samantha und die Tochter seiner Frau könnten dort glücklich werden. Bilder der beiden Mädchen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Samantha ritt auf ihrem großen Braunen über den Reitweg am Stall vorbei, sprang über die Jagdhindernisse mit einer Leichtigkeit, als besäße sie Flügel. Ihr Lachen klang noch in seinen Ohren, ihr blondes Haar leuchtete in der Sonne. Von heute auf morgen hatte sie plötzlich das Interesse daran verloren, ihre Pferde abgeschafft.

Nadine liebte Falada immer noch. Sie hatte das Schimmelpony behalten, obwohl es zu klein für sie geworden war. Aber nach dem Verkauf von Samanthas Pferden konnte das Pony an diesem Ort nicht bleiben; es wäre dort allein gewesen.

Mit Falada war das Leben endgültig aus dem Stall gezogen.

Der Fehlschlag seines Planes war an den Ruinen zu erkennen. Altes, vergammeltes Heu und Stroh lagen im Heuschober, der an die Pferdeboxen angebaut war. Die Holztüren hingen schräg in den verrosteten Angeln. Zu seinem Kummer sah er, dass die alten Wassereimer noch in den Pferdeboxen standen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, solche Kleinigkeiten wegzuräumen. Die angrenzende Reiterstube war erstaunlich gut erhalten. Dort hatte er sich gern niedergelassen und Samantha zugeschaut.

Schweren Schrittes verließ er die Stätte der Vergangenheit, ging über die Wiese auf sein Haus zu, ein ehemaliges Bauernhaus, das er zu einem komfortablen Wohnhaus umgebaut hatte.

Als er näherkam, sah er seine Frau Isolde und Samantha auf den Stufen zur Veranda stehen. Bedrückt stellte Arthur fest, dass sie sich wieder einmal heftig stritten. Es genügte nicht, dass die beiden Töchter einander ablehnten; seine Frau und Samantha verstanden sich ebenfalls nicht. So ungern er es auch zugab, aber Samantha war schon immer ein schwieriges Kind. Sie war fünfzehn, als Arthur und Isolde geheiratet hatten. Für Samantha hatte dieser Schritt eine dramatische Verschlechterung ihrer Rolle in Arthurs Leben bedeutet. Seitdem fürchtete sie um ihre Sonderstellung. Einschränkungen wollte sie niemals hinnehmen, ihr Widerstand war ungebändigt. Mit aller Macht setzte sie ihren Willen durch. Schon lange hatte Arthur seine Versuche aufgegeben, Harmonie in seine Familie zu bringen. Samantha war und blieb uneinsichtig.

Arthur verlangsamte sein Tempo. Eine große Müdigkeit überfiel ihn. Die ständigen Auseinandersetzungen in seiner Familie, die Forderungen, die Erwartungen, die Schuldzuweisungen erschöpften ihn. Dabei wollte er einfach nur glücklich sein, wollte mit Isolde eine harmonische Ehe führen und die Kinder heranwachsen sehen. Aber so einfach war das nicht.

Sein Blick fiel auf seine Frau. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen funkelten böse. Was hatte Samantha wieder getan?

»Du wirst nichts dergleichen tun«, hörte er Isoldes Stimme.

»Dass ich nicht lache«, erwiderte Samantha ironisch. »Was du damals eiskalt fertig gebracht hast, wirst du heute nicht einfach leugnen können.«

»Bevor du mich verurteilst, schau lieber selbst in den Spiegel!«, entgegnete Isolde.

»Mein Weg ist nicht mit Leichen gepflastert«, konterte Samantha mit Unschuldsmiene. »Dir ist es egal, wer draufgeht, Hauptsache, du erreichst dein Ziel.«

»Dann gebe ich dir den Rat, vorsichtiger zu sein! Ich kann auch anders.«

»Oh – du machst mir richtig Angst.« Die junge Frau biss sich auf die Fingernägel, als fürchte sie sich. Doch schon der nächste Satz verriet nichts als Hohn: »Leider habe ich euer Telefonat von Anfang bis Ende mitgehört. Jetzt weiß ich, wo du dich früher herumgetrieben hast – und mit wem. Den Ort werde ich mir mal genauer ansehen, damit ich meinen Vater über dich aufklären kann.«

»Halte dich aus meinem Leben raus! Es geht dich nichts an«, gab Isolde drohend zurück.

»Es geht mich eine ganze Menge an! Du mischst dich schon seit elf Jahren in unser Leben ein. All die Jahre habe ich nach etwas gesucht, womit ich dich loswerden kann. Jetzt habe ich es gefunden. Glaubst du, diese Chance lasse ich mir entgehen?«

»Du weißt überhaupt nicht, wer am anderen Ende der Leitung war«, versuchte Isolde aufzutrumpfen.

»Oh doch! Ich weiß genau, wer das war. Zufällig lese ich Zeitung. Deine Stunden sind gezählt!«

Arthur ahnte, wie gefährlich die Unterhaltung werden konnte. Samantha war unberechenbar, ihre Strategien, Keile in seine Ehe zu treiben, wurden immer raffinierter. Mit einem Räuspern machte er auf sich aufmerksam.

Erschrocken schauten die beiden Frauen in seine Richtung. Isolde war zehn Zentimeter kleiner als Samantha, ihre dünnen Haare hingen formlos um ihren Kopf. Neben Samantha, deren blonde Löwenmähne im Sonnenlicht glänzte, wirkte Isolde hilflos und unscheinbar.

»Ich war gerade an unserem ehemaligen Pferdestall.« Arthur wollte nicht zugeben, was er alles von dem Streitgespräch verstanden hatte.

»Schon wieder?«, stöhnte Samantha. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

Sie trug ein T-Shirt und eine enge Jeans, die ihrer Figur schmeichelte, darunter hochhackige Schuhe. Mit einem eleganten Hüftschwung wandte sie sich von Arthur und Isolde ab und stolzierte mit hocherhobenem Kopf durch die Terrassentür ins Haus.

Arthur rief ihr nach: »Pferde waren mal deine große Leidenschaft. Was ist daraus geworden?«

»Willst du wirklich wissen, was heute meine Leidenschaft ist?« Sie schaute zurück zu ihrem Vater.

Arthur schüttelte den Kopf. Die provozierende Art seiner Tochter veranlasste ihn dazu, sie nicht ausreden zu lassen. Er schaute ihr nach, wie sie ins Wohnzimmer tänzelte, bis sie durch den Rundbogen zur angrenzenden Küche aus seinem Blickfeld verschwand.

Er drehte sich zu Isolde um, wollte sie nach dem Inhalt des Streitgesprächs fragen. Aber sie war fort. Allein stand er auf der Terrasse. Er spürte, dass sich ein neues Unheil in seiner Familie zusammenbraute.

*

Das laute Klingeln des Weckers riss Arthur aus dem Schlaf. Übernächtigt öffnete er seine Augen. Sein Blick fiel auf die zweite Hälfte des Bettes. Sie war leer! Und unbenutzt war sie auch. Beunruhigt erhob er sich. Das Fernbleiben seiner Frau ließ ihn Schlimmes ahnen. Aber er hatte keine Zeit, nach ihr zu suchen. Heute war Donnerstag, der Tag, der früh begann und spät endete, weil er von morgens bis abends Sprechstunde hatte.

In der Küche traf er niemanden an. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst für sein Frühstück zu sorgen. Kaum lief die Kaffeemaschine, betrat Samantha die Küche. Ihre Haare standen in alle Richtungen, ihr Hemd war durchsichtig. Darunter trug sie nichts.

Kokett grinste sie ihren Vater an.

»Kannst du nicht in einem normalen Zustand in die Küche kommen?«

»Gefalle ich dir nicht mehr, Papi?«

Verärgert verließ Arthur das Haus, ohne seinen Kaffee zu trinken.

*

Die Morgendämmerung brach herein. Die Nachttischlampe war noch eingeschaltet. Das Licht zeigte keine Wirkung mehr, die aufgehende Sonne vertrieb Nadines innere Dämonen. Sie stand auf und stellte sich vor das Fenster. Ihr Blick fiel auf den Garten und den einmündenden Feldweg, der zu den Stallungen führte, wo vor Jahren ihr Pony gestanden hatte. Schön war der Anblick. Nur warum konnte sie sich nicht daran erfreuen? Mit Schrecken fiel ihr der seltsame Anruf des letzten Abends ein. Sie hatte gelauscht – das erste Mal in ihrem Leben. Ihre Mutter hatte rätselhafte Dinge über Nadine gesagt, von Ereignissen gesprochen, die schon elf Jahre zurücklagen. Und doch hatte Nadine nichts davon verstanden. Von ihrer Kindheit wusste sie wenig – nur dass sie oft bei Opa Jakob war, der in einem Haus in Nalbach wohnte. Erinnerte sie sich wirklich daran oder hatte ihre Mutter für sie Einzelheiten erfunden, um ihrer Kindheit einen Rahmen zu schaffen? Denn in Wirklichkeit konnte sich Nadine an nichts erinnern. Ihre Zweifel waren seit dem gestrigen Telefonat stärker geworden. Schon lange begleitete Nadine das Gefühl, das schwarze Loch ihrer Erinnerungen bedeute etwas Unheilvolles.

Kurz nach dem Streit am Telefon hatte ihre Mutter wütend das Haus verlassen.

Nadine war in der Nacht durch lautes Poltern geweckt worden. Hatte ihre Mutter hinter dem Lärm gesteckt? Was war geschehen?

Nadine fröstelte. Sie kleidete sich an und ging hinunter, um nachzusehen, ob sich ihre Mutter in der Küche aufhielt. Aber dort war sie nicht. Stattdessen sah sie Samantha am Tresen stehen und Mineralwasser aus der Flasche trinken. Im Wohnzimmer war ihre Mutter auch nicht. Verwundert stieg Nadine die Treppe wieder hinauf und näherte sich der Schlafzimmertür ihrer Eltern. Sie klopfte, es kam keine Antwort. Leise öffnete sie, weil sie ihre Mutter nicht wecken wollte, sollte sie noch schlafen. Aber das Bett war nur auf Arthurs Seite zerwühlt. Die Hälfte ihrer Mutter wirkte unbenutzt.

Sie stand mittlerweile vor Samanthas Zimmer. Dort brauchte sie nicht nachzusehen. Sonst gab es nur noch die Tür zum Speicher, der direkt über der Garage lag. Konnte es sein, dass das nächtliche Poltern ausgerechnet von dort gekommen war? Aber was hätte ihre Mutter um Mitternacht im Speicher zu suchen? Die Antwort würde Nadine nur finden, indem sie hineinsah. Eine Weile zögerte sie, in der Hoffnung, ihre Mutter käme die Treppe hinauf. Aber nichts dergleichen geschah; ihre Mutter kam nicht. Zaghaft näherte sich Nadine der Speichertür. Plötzlich knallte es laut. Erschrocken zuckte sie zusammen, wich einige Schritte zurück. Sekunden später erkannte sie an Samanthas unflätigem Geschimpfe, dass wohl eine Flasche zu Bruch gegangen war.

Nadine richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Speicher. Sie lauschte, hörte aber nicht das Geringste. Wenn ihre Mutter sich dort aufhalten sollte, war sie mucksmäuschenstill. Nadine klopfte. Keine Reaktion. Wieder klopfte sie, wieder hörte sie nichts. Auch auf ihr Rufen erhielt sie keine Antwort. Entschlossen drückte sie den Türgriff herunter. Leise sprang die Tür auf. Der Speicherraum reichte bis unter die Spitze des Dachs.

Nadines Blick fiel sofort auf sie.

Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Mit zitternden Knien betrat sie den großen Raum. Neben der Tür ertastete sie einen Lichtschalter. Sie legte die Hand darauf, zögerte eine Weile, bis sie endlich den Mut aufbrachte, das Licht einzuschalten.

Sie hatte sich nicht getäuscht. An einem der starken Holzbalken, die quer von einer Schräge zur anderen verliefen, hing ihre Mutter.

Kapitel 2

»Es gibt Arbeit für uns!« Kriminalkommissar Bernhard Diez war der Überbringer dieser Botschaft am frühen Morgen. Noch nicht lange im Kommissariat für Tötungsdelikte, vor kurzem seine Prüfung im Kriminalfachlehrgang bestanden und am Anfang seiner Karriere als Kriminalbeamter, trieb ihn großer Ehrgeiz an.

Anke Deister fühlte sich neben dem jungen Kollegen nicht nur weise, sondern leider auch müde, weil ihre kleine Tochter sie die ganze Nacht auf Trab gehalten hatte.

»Eine Frau hat sich erhängt«, fügte Bernhard an, was Anke sofort zu einem Kommentar veranlasste: »Das klingt nach Selbstmord.« Sie spürte nicht das geringste Bedürfnis, so früh am Morgen an einen Tatort zu fahren.

Aber Bernhard ließ nicht locker. »Sehe ich auch so. Aber der Gerichtsmediziner hat Auffälligkeiten diagnostiziert, die einen Selbstmord in Frage stellen.«

Sie betraten das Büro ihres Vorgesetzten Dieter Forseti. Die Kollegen Jürgen Schnur, Esther Weis und Erik Tenes warteten schon.

Kriminalhauptkommissar Forseti begann zu sprechen: »In Dillingen-Diefflen hat eine junge Frau ihre Mutter erhängt auf dem Speicher gefunden. Die Kollegen der Spurensicherung sind schon vor Ort. Der Gerichtsmediziner hat Spuren an der Toten gefunden, die auf einen Kampf hindeuten. Nach Rücksprache mit Staatsanwalt Foster werden wir den Fall übernehmen. Anke, Erik und Bernhard, Sie fahren zum Tatort!«

Die drei Angesprochenen nickten.

An Esther Weis und Jürgen Schnur gerichtet fügte er an: »Sie beide sehen in der Datenbank nach, was wir dort über die Familie gespeichert haben!«

»Wer ist die Tote?«, fragte Anke.

»Sie heißt Isolde Jennewein, ist die Frau des Allgemeinmediziners Dr. Jennewein und hat eine siebzehnjährige Tochter, die sie gefunden hat.«

Zum Abschluss der Besprechung überreichte er Anke die wenigen Notizen, die er bisher über den Fall gemacht hatte.

Der Weg führte über die Autobahn A 620 vorbei an Völklingen mit der Röchlingschen Hütte, weiter in Richtung Saarlouis, das sie hinter sich ließen. Sie verließen die Autobahn und passierten die Dillinger Hütte, die einen unangenehmen Geruch verbreitete. Weiter ging es über eine breite Umgehungsstraße.

Sie erreichten Diefflen, folgten der Hauptstraße durch das Dorf, bis ein Schild auf die Straße Augrät hinwies, wo sie rechts abbogen. Nach wenigen Metern gelangten sie ans Ziel.

Das Haus der Familie Jennewein erwies sich als Bauernhaus im lothringischen Baustil, daran zu erkennen, dass sich Scheune und Wohnhaus unter einem Dach befanden. Rechts prangte das Scheunentor in seiner halbrunden Form aus dunklem Holz, das heute als Garagentor diente. Links daneben schmückten kleine Fenster die braunweiße Fassade. Ein auffälliges Gemälde von zwei schweren Pferden, die jeweils ein Kummet trugen, zierte die Front. Es drückte Nostalgie aus. Eine Laterne mit drei Leuchtern stand direkt davor. Das Erbauungsjahr war über dem ehemaligen Scheunentor in Stein gehauen: Anno 1900.

In diesem Haus sollte ein schreckliches Verbrechen geschehen sein? Es war fast nicht zu glauben. Nur das grünweiße Absperrband mit der Aufschrift »Polizei« wies darauf hin, dass die Idylle Risse bekommen hatte. Einige Polizeifahrzeuge blockierten mit blinkendem Blaulicht die schmale Straße. Neugierige Fußgänger versammelten sich und versuchten, etwas zu erfahren. Aber das Einzige, was sie zu hören bekamen, war das Schnäuzen und Husten eines Polizisten, der nicht nur mit den Schaulustigen, sondern auch mit seiner Erkältung zu kämpfen hatte.

Theo Barthels, der Leiter der Spurensicherung, trat vor das Haus. Er gab Anke, Erik und Bernhard seine ersten Untersuchungsergebnisse bekannt: »Es gibt keine Einbruchspuren. Dafür Spuren der Verwüstung in der Küche, im Esszimmer und im Wohnzimmer. Die Tochter des Arztes, Samantha Jennewein, behauptet, dass diese Spuren von ihr stammen. Das kann ich erst bestätigen, wenn ich alles genauer untersucht habe.« Theo holte tief Luft und fuhr fort: »Der Fundort der Toten weist keine Kampfspuren auf. Allerdings die Tote selbst. Wir sind vorerst mit unserer Arbeit fertig. Der Gerichtsmediziner wartet noch auf Sie, bevor er die Leiche abtransportieren lässt.«

Die Polizeibeamten zogen sich Plastikschuhe über, bevor sie das Haus betraten.

Ein röhrendes Geräusch zog Ankes Aufmerksamkeit auf sich. Sie schaute sich um und sah, wie ein schwarzer Porsche Carrera 911 im Schritttempo an den quer parkenden Polizeifahrzeugen vorbeifuhr. Die Scheiben des Wagens waren schwarz getönt, von den Insassen nichts zu erkennen. Während der Sportwagen das Haus der Familie Jennewein passierte, dröhnte er geräuschvoll. Mit starker Beschleunigung schoss er davon.

Bernhard und Erik hielten sich bereits im Haus auf. Sie hatten weder den Porsche noch Anke beachtet. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Kollegen zu folgen.

Der Eingang glich einem Foyer. Der Zugang zu dem ganz in Mahagoniholz eingerichteten Esszimmer war offen. Ein Rundbogen gab den Blick in ein großes Wohnzimmer mit Panoramafenster frei. Viel Licht strömte in die großen Räume.

Der Weg zur Toten führte über eine schmale Treppe nach oben in den ersten Stock. Der Flur wirkte im Gegensatz zum Erdgeschoss dunkel und eng. Das einzige Licht, das dort hereindrang, kam von dem kleinen Fenster des Treppenaufgangs. Vor einer geöffneten Tür wartete der Gerichtsmediziner. Dr. Wolbert trat zur Seite und ließ die Polizeibeamten hinein.

Diffuses Tageslicht tauchte den Raum in geheimnisvolles Zwielicht. Wie dünne Schleier hing Staub in der Luft und bewegte sich lautlos und geisterhaft. Spinnweben zogen sich durch den Raum und glitzerten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die kleine Dachluke bahnten.

Eine schlanke Gestalt lag auf dem Boden. Der Strick war durch einen Messerschnitt vom Dachbalken abgetrennt worden. Die Schlinge lag noch um den Hals der Toten.

Dr. Wolbert zeigte auf große blaue Flecke an beiden Armen, im Gesicht, über dem rechten Auge und unterhalb der Schlinge, wozu er erklärte: »Diese Blutergüsse sind noch zu Lebzeiten entstanden, weil sich das Blut im umgebenden Gewebe verteilt hat. Bei einer post mortem entstandenen Prellung würde kein Rückfluss mehr aus den Kapillaren erfolgen. Das heißt, unter diesen Umständen wären diese großflächigen blauen Flecke nur kleine Punkte.«

»Das bedeutet?«

»Dass vor Eintritt des Todes ein Kampf stattgefunden hat.«

*

Im Wohnzimmer warteten die Familienangehörigen auf die Polizeibeamten.

Das große Fenster zeigte zu einer Terrasse, die die gesamte Rückseite des Hauses einnahm. Ein gepflegter Rasen leuchtete im saftigen Grün, dahinter begann offenes Feld. Ein Trampelpfad führte durch ein verwahrlostes Wiesenstück und machte eine Linksbiegung, bis er hinter Hecken verschwand.

Die Einrichtung des Zimmers wirkte feudal, dafür ungemütlich. Die Fensterseite war kahl, keine Pflanzen, keine Gardinen, nichts. Die Couchgarnitur aus dunklem Leder beherrschte den gesamten Raum. Ein Fernseher mit Dolby-Surround-Anlage nahm den größten Teil der dunklen Schrankwand ein, die auf der kurzen Seite des Zimmers stand.

Ein älterer Herr trat auf Anke zu und stellte sich als Dr. Jennewein vor. Sein rundliches Gesicht bedeckte ein Schweißfilm, die Wangen waren unnatürlich gerötet, seine Augen rot unterlaufen, als habe er geweint. Sein graues, kurz geschnittenes Haar klebte schweißnass an seinem Kopf. Eine junge Frau mit auffallend blonder Mähne stand vor dem Fernseher und trank Mineralwasser aus der Flasche. Eine zweite Frau saß auf einem Sessel, den Kopf in beide Hände gestützt. Deutliche Spuren von Schmerz zeichneten ihr schmales, blasses Gesicht. Dr. Jennewein stellte sie als seine Stieftochter Nadine vor.

Nadine machte sich nicht die Mühe aufzusehen. Sie verharrte in ihrer Haltung, den Blick zu Boden gerichtet. Als Dr. Jennewein seine Tochter Samantha vorstellen wollte, übernahm die junge Frau diese Aufgabe selbst.

Während Anke die blonde Frau beobachtete, fielen ihr blaue Flecke an Samanthas Unterarmen auf. Sie waren groß und dunkel, also noch frisch.

Sofort fragte sie: »Wo haben Sie sich diese Blutergüsse zugezogen?«

Verwirrt schaute Samantha auf ihre Unterarme, zog ihre Ärmel darüber und meinte abweisend: »Keine Ahnung! Habe mich wohl gestoßen.«

Die Polizeibeamten sahen sofort, wie Dr. Jennewein blass wurde. Verwirrt wanderte sein Blick von Anke zu Samantha und wieder zurück, bevor er sich einschaltete: »Samantha! Antworte bitte richtig!«

»Ist ja schon gut! Ich hatte gestern Abend wilden Sex. Dabei bin ich mit den Armen an die Bettkante gestoßen«, platzte Samantha provozierend heraus. »Gefällt dir die Antwort besser?«

Nun wurde Dr. Jennewein puterrot. Mit zusammengebissenen Zähnen knurrte er: »Du bist unverbesserlich.«

»Dann möchten wir wissen, wann und mit wem!« Anke ließ sich nicht von der Provokation beeindrucken.

»Seid ihr immer so neugierig?«

»Ihre Beleidigungen können Ihnen schaden«, belehrte Erik. »Sie machen sich verdächtig, Ihre Stiefmutter ermordet zu haben.«

»Die Alte hat sich doch erhängt«, trotzte Samantha. »Wie kommen Sie da auf Mord?«

»Sehen Sie? Sie wissen nicht alles«, gab Erik zurück. »Also beantworten Sie die Frage meiner Kollegin!«

»Ich kann leider den Namen meines Partners der letzten Nacht nicht sagen, weil er verheiratet ist. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Sache unter uns bleibt.«

»Das reicht jetzt«, wurde Erik ungeduldig. »Frau Jennewein, Sie kommen mit.«

»Um Gottes Willen!« Der Vater klang panisch. »Das können Sie nicht tun.«

»Wir wollen einen Fall aufklären«, stellte Erik klar. »Wenn Sie nicht zur Mitarbeit bereit sind, müssen wir so handeln.«

»Samantha! Warum sagst du nicht, mit wem du gestern zusammen warst?«

»Mein Alibi heißt Berthold Bracke. Man kennt ihn in der Stadt. Keine große Leuchte, dafür ein großes Tier. Nicht wahr, Papi?« Samantha grinste.

Ihr Vater atmete erschrocken ganz tief durch.

Was nun kam, fiel den Beamten am schwersten.

Nadine, die leibliche Tochter der Toten, saß immer noch zusammengekauert auf dem Sofa. Bis jetzt hatte sie kein Wort gesagt, wirkte ganz versunken in ihrer Trauer, als sei sie die einzige im Raum, die Isolde Jenneweins Tod beklagte.

Dünne, braune Haare rahmten ihr schmales, blasses Gesicht ein. Leere Augen lagen tief in ihren Höhlen. Düster und freudlos schauten sie zu Anke, der dieser Blick durch Mark und Bein ging.

»Du hast deine Mutter gefunden«, begann Anke.

Nadine nickte.

»Gab es Anzeichen, dass deine Mutter sich das Leben nehmen wollte?«

Nach einigem Zögern sprach Nadine: »Meine Mutter hat sich nicht selbst umgebracht. Sie sprach immer davon, wie schön ihr Leben sei, jetzt, wo wir eine Familie sind.«

»Familie, dass ich nicht lache«, ertönte die hämische Stimme von Samantha. »Mein Vater hat dich nicht adoptiert und hatte es auch nicht vor. So etwas nennst du Familie?«

Aber Nadine hörte nicht, welche Boshaftigkeiten Samantha ihr an den Kopf warf. Als lebte sie in ihrer eigenen Welt, sprach sie weiter: »Niemals wollte sie ihr Leben selbst beenden. Sie hatte doch alles, was sie wollte.«

»Klar! Vaters Geld«, warf Samantha giftig ein.

»Samantha, es reicht jetzt«, störte Arthur Jennewein seine Tochter.

Staunend fragte Erik: »Warum haben Sie Nadine nicht adoptiert?«

»Mein Vater adoptiert nicht jede dahergelaufene Göre«, funkte Samantha schon wieder dazwischen.

Nun wurde Erik wütend. Anke sah, wie seine Kiefer zu mahlen begannen, ein Zeichen, dass ihm die Beherrschung immer schwerer fiel.

»Ich beginne zu verstehen, was hier in der Familie abläuft«, meinte er.

Samantha lachte boshaft. Der Vater versuchte sie zu stoppen, aber vergebens. Gegen sie war er machtlos.

»Dann sind Sie der Erste. Was hier abläuft, hat bisher noch niemand gepeilt. Selbst mein lieber Herr Papa noch nicht.«

»Wie lange waren Sie verheiratet, Herr Dr. Jennewein?«, fragte Anke.

»Elf Jahre«, antwortete der Arzt, wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. Er wirkte, als hätte er selbst einen Arzt nötig.

»Wie war Ihre Ehe?«

»Isolde war eine wunderbare Frau«, begann er. Mit wackeligen Beinen bewegte er sich auf den Sessel zu und ließ sich hinein sinken. Er fügte an: »Unsere Ehe war gespickt mit Pannen, weil unsere Töchter sich nicht vertragen. Trotzdem waren wir glücklich miteinander. Isolde war eine stille, angenehme Frau, der nichts zu viel war.«

»Sie hat sich angebiedert, dass ich bei der Erinnerung daran noch kotzen muss«, präzisierte Samantha diese Aussage auf ihre charmante Art.

»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Vater mal ausreden lassen?«, ermahnte Anke.

»Isolde hatte es in ihrem Leben nicht immer leicht gehabt«, fuhr Dr. Jennewein fort.

»Klar, hat sich einen Balg andrehen lassen«, war wieder Samantha zu hören.

»Samantha!«, ermahnte der Vater energisch. »Deshalb war ich der Meinung, dass sie es verdient hätte, an meiner Seite ein schönes Leben zu genießen. Aber wie gesagt: So einfach war das nicht.«

»Ja, das ist uns inzwischen klar geworden.« Ankes Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Nadine. »Warum hast du im Speicher nach deiner Mutter gesucht?«

Eine Weile blieb alles still, bis Nadine sich räusperte und antwortete: »Ich habe in der Nacht ein lautes Poltern gehört. Als ich meine Mutter am Morgen nicht in ihrem Schlafzimmer fand, fiel mir das seltsame Geräusch wieder ein.«

»Hat sonst noch jemand etwas gehört?«, fragte Erik.

Arthur und Samantha verneinten.

»Ich habe erst heute Morgen festgestellt, dass meine Frau die ganze Nacht über nicht in ihrem Bett war«, erklärte Arthur.

»Haben Sie Ihre Frau gesucht?«

»Nein. Ich bin zur Arbeit gegangen. Ich dachte mir, dass sie ihre Gründe hatte, die Nacht woanders zu verbringen.«

»Wo hätte Ihre Frau dazu Gelegenheit?«

Auf diese Frage gab Arthur Jennewein keine Antwort.

»Warum sind Sie mit der ungewöhnlichen Situation heute Morgen so unbesorgt umgegangen?«

»Wir hatten … Probleme«, murmelte Arthur widerwillig.

Deutlich spürten die Beamten, dass er etwas verschwieg.

Anke wandte sich wieder an Nadine und fühlte sich dabei, als wollte sie sich einem scheuen Fohlen nähern, das große Angst vor Menschen hat.

»Wie alt warst du, als deine Mutter und Dr. Jennewein geheiratet haben?«

»Sechs Jahre.«

»Warst du froh über die Ehe deiner Mutter?«

Nadine schaute Anke eine Weile an, bevor sie sagte: »Ich glaube schon.«

»Warum glaubst du nur? Weißt du es nicht?«

Nadine überlegte. Heftig atmete sie ein und aus. »Ich erinnere mich nicht mehr so genau.«

Diese Antwort machte Anke stutzig. Wie konnte Nadine eine große Veränderung in ihrem Leben vergessen?

»Woran erinnerst du dich nicht mehr?«

»Wie das war, als meine Mutter und Arthur geheiratet haben«, erklärte Nadine. »Es ist schon so lange her.«

»Woran erinnerst du dich denn?«

»Daran, dass ich ein Pony geschenkt bekam«, antwortete Nadine. Ihr Blick wurde schlagartig weich. »Ein Schimmelpony mit dem Namen Falada. Das hat mir Arthur geschenkt.«

»Wo ist Falada jetzt?«

»Es steht bei Opa Jakob in Nalbach. Er hat außerdem noch Ziegen, Schafe und Gänse. Dort ist Falada in guter Gesellschaft.«

Anke schmunzelte bei der Aufzählung der Tiere.

»Reitest du noch?«

»Nein. Inzwischen ist Falada zu klein für mich. Aber behalten werde ich sie ihr ganzes Leben lang.«

Die Worte klangen schwärmerisch. Anke spürte, dass Falada ein wichtiger Bestandteil im Leben der jungen Frau war.

»Haben Sie auch Pferde?« Mit der Frage richtete sich Erik an Samantha.

»Ich hatte welche. Zwei, um es genau zu sein. Und zwar richtige – keine Ponys.«

»Wo sind Ihre Pferde jetzt?«

»Die habe ich verkauft. Habe kein Interesse mehr am Reiten.«

Arthur Jennewein schüttelte den Kopf und bemerkte: »Da versucht man alles, damit die Kinder ein ausgefülltes Leben haben. Aber das Ergebnis ist gleich Null. Sie müssten unseren Stall mal sehen. Früher war er das reinste Pferdeparadies, heute stehen dort nur noch Trümmer. So viel zu meinen Bemühungen, Samantha ein guter Vater zu sein. Vielleicht ist es mir bei Nadine besser gelungen.«

»Du bist nicht Nadines Vater, kapier das doch«, mischte sich Samantha ein.

Anke spürte die Frage aufkeimen, wie Nadines Leben ab sofort aussehen würde. Sie schaute sich die junge Frau genau an. Nadine war so dünn, als bestünde sie nur aus Knochen und Sehnen, ihre Gesichtsfarbe so blass, als sei sie blutleer. In ihren Augen war ein tiefer Schmerz zu sehen, aber sie sprach ihn nicht aus – schrie ihn nicht heraus. Sie wirkte auf Anke, als habe sie nicht gelernt, Gefühle zu zeigen. Bei ihrem Anblick bekam Anke einen Vorgeschmack auf die Einsamkeit, die Nadine in dieser Familie erwartete.

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
324 lk 8 illustratsiooni
ISBN:
9783750237223
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:

Selle raamatuga loetakse