Loe raamatut: «Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi», lehekülg 5

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„Beide Mädchen wurden das letzte Mal an Pascal Battistons Stall gesehen“, erklärte Jean-Yves.

„Wer ist Pascal Battiston?“

„Der Tochtermann vom Bürgermeister.“

Tanja schaute Jean-Yves begriffsstutzig an, woraufhin der erklärte: „Tochtermann heißt bei uns Schwiegersohn.“

„Das ist der Mann, der Annabel ohne zu fragen auf ein Pony gesetzt und zum Ausritt mitgenommen hat?“, resümierte Tanja, die sich noch gut an Sabines Erzählung erinnerte.

Jean-Yves nickte.

„Und diesen Mann hast du noch nicht befragt?“

„Ich habe es versucht. Aber der sture Lothringer spricht nicht mit mir.“

„Was hat das damit zu tun, dass er aus Lothringen kommt?“

Darauf blieb Jean-Yves ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen murrte er: „Dir erzählt er vielleicht mehr als mir. Ich rede solange mit dem Bürgermeister.“

„Moment mal“, bremste Tanja. „Ich bin hier nur Verbindungsbeamtin. Ich darf nicht eigenmächtig ermitteln.“

„Das weiß Pascal Battiston aber nicht.“

Die Reaktion des Commandants verwunderte Tanja. Aber die grimmige Miene, die er zog, seit das Thema auf diesen Mann gefallen war, hielt sie davon ab, nachzuhaken.

13

Trübes Licht fiel in die Stallgasse. Pascal Battiston hatte die Pferde gefüttert und wollte gerade den Stall verlassen, da versperrte ihm sein Schwiegervater den Weg.

„Wir müssen reden“, lautete sein Gruß am frühen Morgen.

Mürrisch folgte Pascal ihm. Sie betraten einen kleinen Raum, in dem ein großer Schreibtisch in der Mitte den meisten Platz einnahm. Die Wände zierten Pokale von Reitturnieren. Der Geruch der Pferde breitete sich in dem kleinen Büro aus. In einer Ecke brummte ein Kühlschrank.

Pascal Battiston musste die Deckenlampe einschalten, damit sie sich besser sehen konnten. Hinter dem Schreibtisch stand eine breite Couch. Ihr Bezug schimmerte fleckig. Hastig warf er eine Decke darüber.

„Du weißt, wie wichtig der Bau des Ponyhotels für uns ist“, begann Ernest Leibfried, nachdem er sich auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte.

Pascal blieb stehen und schaute auf seinen Schwiegervater herab.

„Setz dich, wenn ich mit dir rede“, befahl der Bürgermeister und wies dabei auf die Lehne der Couch

„Ich setze mich, wann es mir passt.“

„Du solltest zuerst nachdenken, bevor du redest“, mahnte der Bürgermeister. „Nicht gerade deine Stärke, aber zum Dazulernen ist man nie zu alt.“

Pascal erwiderte den Kommentar mit einem gleichgültigen Schulterzucken, setzte sich aber nicht.

„Es sollte in unserem Interesse sein, dass das deutsche Mädchen so schnell wie möglich gefunden wird. Solange befinden wir uns im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen. Das ist nicht der geeignete Zeitpunkt, mit dem Bau eines Hotels zu beginnen.“

„Warum nicht?“, fragte Pascal aufgebracht.

„Weil du das Kind auf einen Ausritt mitgenommen hast. Wie konnte sie herunterfallen, ohne dass du etwas bemerkst?“

„Ich habe doch gesehen, wie sie gefallen ist. Aber sie war viel zu weit weg. Als ich an der Stelle ankam, konnte ich sie nirgends finden“, wehrte sich Pascal.

„Ist das auch wirklich die ganze Wahrheit?“

„Was hältst du von mir?“

„Diese Frage stellst du besser nicht.“

Böse Blicke wurden gewechselt.

„Welches Pony hat das Mädchen Annabel aus Deutschland geritten?“, fragte der Bürgermeister nach einer Weile.

„Die Shetlandstute Peggy.“

„Ist das Pony gefährlich?“

„Hier sind alle Ponys gefährlich“, begehrte Pascal auf. „Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich neue Ponys brauche. Aber du hörst nicht auf mich.“

„Ich kann nicht jedes Jahr neue Ponys kaufen.“

„Was heißt ich kann nicht jedes Jahr neue Ponys kaufen?“ Pascal äffte seinen Schwiegervater ironisch nach. „Dann werde ich mich selbst darum kümmern.“

„Das wirst du mal schön bleibenlassen. Gerade jetzt müssen wir unauffällig bleiben.“

Pascal wollte an seinem Schwiegervater vorbei das Büro verlassen. Doch der Alte war noch nicht fertig: „Siehst du denn nicht, welcher Aufwand für das Mädchen betrieben wird? Der Commandant Jean-Yves Vallaux aus Strasbourg ist eine leichte Nummer für uns. Aber die deutsche Polizistin. Die dürfen wir nicht vergessen.“

„Überlass die nur mir.“ Laut knallte die Tür hinter Pascal ins Schloss.

14

Der Vormittag verstrich ohne eine Spur von Annabel. Der Himmel zeigte sich in einem schönen Blau, die strahlende Herbstsonne vermittelte den Eindruck von heiler Welt. Tanja seufzte.

Sabine hatte aus dem Krankenhaus angerufen und wissen wollen, wie erfolgreich sie mit der Suche nach ihrem Kind waren. Es war Tanja noch nie in ihrem Leben so schwergefallen, bei der Wahrheit zu bleiben. Sabine zu trösten, wollte ihr auch nicht gelingen. Die Hysterie ihrer Freundin hatte dazu geführt, dass eine Krankenschwester das Telefonat beenden musste.

Nun begleitete Tanja den Commandant mit gemischten Gefühlen. Sie fuhren zu den Dienststellen, die die Gendarmerie den Kollegen der Police Nationale zur Verfügung gestellt hatte. Sarreguemines ließen sie gerade hinter sich. Ihr nächster Weg führte zum Büro in Drulingen. Ergebnisse gab es keine.

Auf dem Rückweg nach Sarre-Union ließ Tanja ihren Blick über die vielen Bauernhäuser schweifen, die dicht an der Hauptstraße standen und dem Dorf einen lebendigen Eindruck verliehen. Immer wieder traf sie im Elsass auf Gebäude aus längst vergangenen Zeiten.

„Wüsste ich Annabel in Sicherheit, könnte mir das Elsass gut gefallen.“

„Wir sind hier im Krummen Elsass“, klärte Jean-Yves sie auf.

„Wo ist da der Unterschied?“

„Das Krumme Elsass ist eine Landzunge, die sich über die Vogesen auf das Plateau Loraine erstreckt“, drang Jean-Yves’ Bassstimme an ihr Ohr. „Historisch ist nirgends belegt, warum das Gebiet zwischen dem nördlichen Bitcherland und den südlichen Pays de Sarrebourg zum Elsass gehört. Es wird vermutet, dass es aus religiösen Gründen ans Elsass angeschlossen wurde, obwohl es von der Geografie mehr Lothringen als Elsass entspricht.“

Diese ausführliche Auskunft mutete schon fast wie Geschichtsunterricht an. Tanja staunte. Aber Jean-Yves war noch nicht fertig. Er vollführte eine Handbewegung, die sämtliche Häuser einschloss, die sie gerade passierten und sagte: „Schau dir die Häuser an. Nicht nur die Bauweise, auch die Aufteilung der Häuser entspricht der lothringischen Bauweise. Wir nennen das ‚Village de rue‘. Es bedeutet, dass alle Häuser direkt an der Straße stehen.“

Tanja sah das bestätigt. Viele Häuser lagen so dicht an der Straße, dass kaum noch Platz für Bordsteine blieb.

„Und trotzdem befinden wir uns hier im Krummen Elsass.“

„Warum ‚Krummes‘ Elsass?“

„Man sagt, dass nach der Reformation im 16. Jahrhundert um die Dörfer herum in kurioser Weise die Grenze je nach Religion gezogen wurde. Wir sind ein Grenzland zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus.“

„Und welcher Konfession gehört das Krumme Elsass an?“

„Im Krummen Elsass ist jedes Dorf protestantisch“, antwortete Jean-Yves. „Sobald wir die Departementgrenze verlassen, wird alles katholisch. Dadurch hat sich unter den Menschen im Krummen Elsass die Psychologie von Inselbewohnern entwickelt.“

„Von Inselbewohnern?“

„Ja. Diese Menschen blieben viele Jahre nur unter sich.“

„Das hat sich aber im Laufe der Jahre wieder geändert“, stellte Tanja bissig fest. „Ich denke da an Pascal Battiston.“

„Stimmt. Der ist aus Lothringen“, brummte Jean-Yves. Seine Kiefer mahlten. Tanja sah ihm an, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, wollte ihn aber nicht darauf ansprechen. Soweit ging ihre Vertrautheit nicht.

Sie verließen Drulingen.

Die Gendarmerie Sarre-Union lag in einer Straße, die nach einem französischen Komponisten um die Jahrhundertwende benannt worden war. Das Haus mutete viel mehr nach einem gemütlichen Wohnhaus in ruhiger Lage denn nach einer Gendarmerie-Brigade an. Die Innenräume wirkten beengend und erdrückend. Gendarm Legrand empfing die beiden.

„Bonjour, Mademoiselle Gestier. Ça va?“, rief er.

„Ich bin Lieutenant Gestier und nicht Mademoiselle“, stellte Tanja sofort klar.

„Excusez moi, Lieutenent Gestier.“ Der kleine Mann verbeugte sich.

Tanja nickte zufrieden.

„Gibt es Ergebnisse?“, fragte Jean-Yves.

„Pardon. Mais non. Wir haben eine Ottleine eingerichtet“, antwortete der kleine quirlige Mann.

„Eine was?“ Tanja verstand ihr Gegenüber nicht.

„Hotline“, klärte Jean-Yves auf.

„Wir haben viele Polizeibeamte, die die Telefone besetzen. Uns entgeht kein Anruf.“

Damit waren sie auch schon am Ende ihrer guten Nachrichten angekommen und verließen das Gebäude. Tanja folgte Jean-Yves zu seinem Peugeot 607, der einsam auf dem großen Parkplatz stand. Sie durchquerten Sarre-Union, ließen die Stadt hinter sich und schlugen die schmale Landstraße ein, die nach Potterchen führte. Schon von weitem sahen sie schemenhaft das Dorf mit seinem charakteristischen rosa Kirchturm.

Am Rand eines Buchenwäldchens zu ihrer Linken erblickten sie einen großen Wagen. Der schwarze Lack glänzte in der Sonne. Abrupt bremste Jean-Yves ab. Er nahm ein Fernglas aus seinem Handschuhfach und schaute in die Richtung des verdächtigen Fahrzeugs.

„Da sitzt jemand drin“, teilte er mit und reichte Tanja das Glas.

Sie stellte dasselbe fest.

„Genau dort ist Annabel Radek das letzte Mal gesehen worden“, flüsterte Jean-Yves. Tanja bekam eine Gänsehaut

Gleichzeitig zogen sie ihre Waffen aus den Holstern, entsicherten sie, stiegen aus und näherten sich geduckt dem verdächtigen Auto. Es war ein Porsche Cayenne Geländewagen.

Tanja auf der Fahrerseite und Jean-Yves auf der Beifahrerseite rissen auf sein Kommando gleichzeitig die Türen auf. Ein spitzer Schrei und ein dumpfes Brummen ertönten.

Tanja richtete ihre Waffe auf einen nackten Po.

Der dazugehörige Mann drehte sich um, verlor das Gleichgewicht, fiel aus dem Auto und landete mit heruntergelassener Hose vor ihren Füßen. Lange Haare rahmten ein braungebranntes Gesicht ein. Blaue, weit aufgerissene Augen starrten sie entgeistert an.

„Polizei! Wer sind Sie?“, fragte Tanja den hilflos am Boden Liegenden. Er zitterte vor Kälte, seine Gesichtszüge wirkten gequält, während er versuchte, Tanjas Blicken auszuweichen. Von der anderen Seite konnte Tanja beobachten, dass Jean-Yves vor einem ähnlichen Problem stand. Vor ihm stand eine nackte Frau. Sie hauchte gerade den Namen Constance Pinolaire.

„Ich bin Lucien Laval“, stammelte der hilflose Mann auf dem Boden vor ihr. Tanja gab ihm ein Zeichen, dass er seine Hose hochziehen durfte. Erleichtert kam Lucien Laval dieser Aufforderung nach. Er richtete sich auf und überragte Tanja um einen halben Kopf. Ihr Blick haftete an seinen blauen Augen, die frech aufblitzten, kaum dass er komplett angezogen vor ihr stand.

„Was ist los? Seit wann ist ein bisschen Amour im Auto verboten?“

„Machen Sie den Kofferraum auf!“, befahl Tanja, ohne auf seine Anspielung einzugehen.

Verzweifelt drehte sich Lucien Laval um. Sein Blick fiel auf den Commandant. Mit Hoffnung in seiner Stimme rief er: „Jean-Yves, altes Haus! Seit wann darf eine deutsche Polizistin in Frankreich mit einer Waffe herumfuchteln?“

„Sie arbeitet mit mir zusammen als Verbindungsbeamtin.“

„Dann sag deiner Verbindungsbeamtin doch bitte, wer ich bin.“

Jean-Yves trat neben Tanja und erklärte: „Tanja, das ist Lucien Laval. Lucien, das ist Polizeikommissarin Tanja Gestier. Und jetzt öffne einfach den Kofferraum und beantworte unsere Fragen.“

Lucien Laval folgte seiner Anweisung. Im Kofferraum seines Wagens befand sich ein Koffer. Ein großer Koffer.

Alle Blicke hafteten darauf.

Jean-Yves zog sich Latexhandschuhe an, öffnete die Verschlüsse, ließ sie aufspringen. Mühsam gelang es ihm, den schweren Deckel anzuheben.

Unter lautem Knarren fuhr die schwere Klappe Millimeter für Millimeter nach oben. Vor ihnen offenbarten sich Kleidungstücke in allen Farben.

„Was soll das?“, fragte Lucien.

„Wir suchen ein vierjähriges Mädchen, das vermisst wird“, erklärte Jean-Yves.

„Und das suchst du in meinem Kofferraum – zwischen meinen Klamotten?“

„Tut mir leid, aber dein Auftauchen mit einem fremden Wagen an einer Stelle, wo das Kind zuletzt gesehen wurde, hat dich verdächtig gemacht.“ Jean-Yves zuckte mit den Schultern. „Und dazu noch deine Begleitung…“ Alle Blicke fielen auf Constance Pinolaire, die sich in den Wagen zurückgezogen und die Beifahrertür geschlossen hatte. „Wo hast du die wieder aufgetrieben, Lucien? Kannst du nicht einmal deinen Lümmel in der Hose behalten?“, fügte er flüsternd an.

Tanja wunderte sich darüber, wie Jean-Yves mit diesem Mann sprach. Es fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass der Umgangston der Polizei in Frankreich rauer ausfiel als in Deutschland. Aber jetzt wollte sie ihn nicht darauf ansprechen. Denn trotz allem war das Gespräch hochinteressant.

Lucien ordnete seine langen Haare, band sie zu einem Zopf. „Ein vierjähriges Mädchen – du lieber Himmel. Ich komme gerade aus Paris. Also kannst du mich nicht für etwas verantwortlich machen, was in dieser Zeit in Potterchen passiert ist.“

„Hoffentlich hast du an Kondome gedacht“, wandte Jean-Yves sauertöpfisch ein.

„Nur nicht neidisch werden. Irgendwann kommst du auch noch auf deine Kosten.“

„Danke für deine Fürsorge. Ich will einfach nur verhindern, dass einer wie du sich vermehrt“, konterte Jean-Yves. „Und was ist das überhaupt für ein Wagen?“

„Funkelnagelneu.“ Stolz brüstete sich Lucien Laval. „Hat mir meine Firma als Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Cool, oder?“

„Wissen die auch, was du in dem Dienstwagen so treibst?“

Lucien stieg in den Geländewagen ein, ließ die Scheibe herunterfahren und rief, während er Gas gab: „Mach eine Meldung. Spätestens dann wissen sie’s.“

15

„Ich biete Ihnen etwas ganz Besonderes für Ihr Grundstück an den Gleisen.“ Der Bürgermeister grinste, während er sein Amuse Gueule bestehend aus Baguette mit scharfen Peperoni in den Mund schob. „Sie besitzen einen alten Friedhof. Was können Sie schon damit machen? Nichts.“

Christian Schweitzer kaute nachdenklich auf seinem Tatar aus Räucherlachs, bevor er auf das Angebot reagierte: „Sie brauchen den Friedhof, um dort den geeigneten Reitpark für Ihr Ponyhotel zu errichten. Sehe ich das richtig?“

„Ganz richtig“, bestätigte der Bürgermeister. „Und Sie können nichts damit anfangen, weil Sie keine Genehmigung bekommen, die alten Grabsteine zu entfernen.“

„D’accord.“

„Dann nehmen Sie mein Angebot an?“

Mit Ziegenkäse gratinierte Lammkoteletts mit Tagliatelle auf einem Gemüsebett wurden serviert.

„Ein Ponyhotel klingt für mich, als erwarteten Sie Kinder als Gäste.“ Monsieur Schweitzer probierte von seinem Lamm.

„Familien mit Kindern. C’est vrais.“

„Ist das nicht gewagt, jetzt, nachdem schon das zweite Kind verschwunden ist?“

„Das Kind ist nicht verschwunden, es ist vom Pferd gefallen“, korrigierte der Bürgermeister.

„Und warum hat die Gendarmerie Verstärkung aus Strasbourg angefordert? Bestimmt nicht, weil ein Kind vom Pferd gefallen ist.“ Monsieur Schweitzer kaute nachdenklich und fügte an: „Schmeckt vorzüglich.“

„Danke. Ich werde das Kompliment an meinen Koch weitergeben.“

„Ist das Mädchen von zellemols – Daniela hieß sie, glaub ich – nicht ebenfalls das letzte Mal in Ihrem Stall gesehen worden?“

„Wir wollen doch nicht vom Thema abkommen“, murmelte der Bürgermeister. „Wollen Sie nicht wissen, was ich Ihnen für den alten Friedhof biete?“

Monsieur Schweitzer schaute interessiert auf.

„Ich biete Ihnen ein Haus im Lotissement, das nächstes Jahr auf der anderen Seite der Schienen gebaut wird ...“

„Das Lotissement“, fiel Monsieur Schweitzer dem Bürgermeister ins Wort. „Wen haben Sie dafür bestechen müssen, um auf den Grundmauern eines ehemaligen Jesuitenklosters ein Neubaugebiet errichten zu dürfen? Die Sous-Préfecture in Saverne oder sogar die Préfecture aus Strasbourg? Von dem Ponyhotel will ich gar nicht reden.“

„Lassen Sie diese Anspielungen! Hören Sie sich mein Angebot an. Sie bekommen alles auf dem neuesten Stand, das Grundstück, worauf es gebaut werden soll, können Sie sich selbst auswählen. Das ist doch ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können.“

„Ich werde doch nicht mein Heim aufgeben, das ich mit Mühe und Schweiß selbst aufgebaut habe, um in ein altes Kloster zu ziehen.“

„Was reden Sie für einen Unsinn? Das Kloster steht schon seit sechzig Jahren nicht mehr. Sie werden keine Arbeit mit Ihrem neuen Haus haben. Ihnen wird der Schlüssel für ein bezugsfertiges Haus überreicht.“

„Kommt nicht in Frage“, brummte Monsieur Schweitzer stur.

„Ich glaube, ich sollte mal mit Ihrer schönen Frau darüber sprechen“, konterte der Bürgermeister. Dabei dachte er an die rothaarige Frau mit ihren üppigen Rundungen an genau den richtigen Stellen. Nur mit Mühe gelang es ihm, ein Grinsen zu unterdrücken. „Wie heißt sie noch? Valerie?“

„Meine Frau steht voll und ganz hinter mir.“

„Ach wirklich? Glauben Sie nicht, dass sie meinem Angebot zustimmen würde?“

„Vergessen Sie es. Den Friedhof verkaufe ich Ihnen nur unter einer Bedingung.“

„Die da wäre?“ Der Bürgermeister schnitt ein Stück vom zarten Fleisch ab.

„Ich will, dass Sie den Kindergarten schließen oder verlegen. Dann verkaufe ich – für bares Geld. Ich tausche nicht.“

Der Bürgermeister lachte humorlos. „C’est impossible. Und das wissen Sie.“

„Meine Frau und ich ertragen den Lärm nicht, den die Kinder veranstalten.“

„Ein Grund mehr, das Haus im Lotissement zu nehmen.“ Der Bürgermeister strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

„Mein Haus hat einen Wert, den ein neues Gebäude nicht ersetzen kann. Sie bekommen den Friedhof nur, wenn der Kindergarten verschwindet.“

„Das Gebäude wurde für die École Maternelle und die École Élémentaire errichtet. Das können wir nicht an einen anderen Ort versetzen.“ Der Bürgermeister ahnte, dass die Verhandlungen schwieriger würden, als er angenommen hatte. Er sah sich gezwungen, seine Taktik zu ändern. „Wäre Ihnen gebratener Seeteufel auf iberischem Schinken lieber gewesen? Ich werde den Chefkoch sofort veranlassen, uns ein anderes Essen zuzubereiten.“

„Nein danke. Das Essen ist vorzüglich. Trotzdem bleibe ich bei meinem Entschluss. Ich verkaufe Ihnen den alten Friedhof nur, wenn der Kindergarten geschlossen wird.“

„Was war zuerst da?“, fragte der Bürgermeister, dessen Tonfall inzwischen schärfer wurde. „Ihr Haus oder der Kindergarten?“

Die Nachspeise wurde serviert. Monsieur Schweitzer schob sich einen gehäuften Löffel Mousse au Chocolat in seinen Mund. Eine Antwort blieb er schuldig.

„Da haben wir es ja. Sie können nicht verlangen, dass wir den Kindergarten schließen. Irgendwo müssen die Kinder hin.“

„Dann betrachte ich unser Gespräch als beendet.“ Monsieur Schweitzer nippte von seinem Petit Verdot, schwenkte den kraftvollen Bordeaux in seinem langstieligen Glas sanft hin und her und meinte: „Ein Genuss, diese Rebsorte. Sie wissen, wie man den Gaumen verwöhnt. Sie sind nicht nur ein fähiger Bürgermeister, sondern gleichzeitig auch ein Restaurantbetreiber très magnifique.“

„Ich fühle mich geschmeichelt. Aber wir sind noch nicht fertig. Es gibt noch eine Käseplatte mit dazu passendem Sauvignon Blanc.“ Der Bürgermeister grinste selbstzufrieden. „Gute Geschäfte wickelt man nur bei einem guten Essen ab – wie wir Elsässer sagen.“

„Genügt Ihnen das Restaurant nicht?“, überging Monsieur Schweitzer das Angebot seines Verhandlungspartners und ließ den Blick provozierend durch das feudale Lokal wandern. „Sie besitzen das einzige Restaurant im gesamten Umkreis. Sie machen großen Umsatz, verdienen mehr als sämtliche Dorfbewohner zusammen. Wie viel Geld wollen Sie noch?“

„Als Bürgermeister will ich mich verbessern. Das schadet niemandem“, erklärte Ernest Leibfried stolz. „Ich will aus Potterchen das Beverly Hills von Sarre-Union machen.“

„Geben Sie es doch zu, Sie betreiben diesen Aufwand nur für Ihren Schwiegersohn“, gab Monsieur Schweitzer böse zurück. „Sie können mit Pferden gar nichts anfangen.“

„Halten Sie meine Familie raus!“, warnte der Bürgermeister.

„Ach. So einfach ist das? Jedes Mal, wenn hier ein kleines Mädchen spurlos verschwindet, schmieden Sie neue Pläne, um Ihrem Schwiegersohn einen Gefallen zu tun.“ Monsieur Schweitzer grinste. „Vor zwei Jahren – als Daniela Morsch verschwand - entstand der Reitstall, in dem außer Ihrem Schwiegersohn und ab und zu ein paar Kinder aus dem Dorf niemand reitet. Heute ist die kleine Annabel Radek verschwunden. Schon wollen Sie ein Reithotel errichten. Warum tun Sie das? Was haben Sie getan, dass Ihr Schwiegersohn Sie zu solch großen Taten zwingen kann?“

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich glaube, die Fantasie geht mit Ihnen durch.“

„Obwohl“, überlegte Monsieur Schweitzer, als habe der Bürgermeister nichts gesagt, „wenn es in Potterchen so weitergeht, wird der Kindergarten wegen des zu hohen Risikos für kleine Mädchen geschlossen.“

„Halten Sie den Mund!“

„Spätestens dann werde ich Ihnen meinen alten Friedhof verkaufen. Das sind doch gute Aussichten für Sie.“